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Ohne Anfang kein Ende
"Ohne Anfang kein
Ende"
Das Unendliche als plastisches Problem
Ein Vortrag von Peter Angermann
in der Städelschule Frankfurt am Main am 4. Juni 1997
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A. Ohne Anfang kein Ende.
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Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Hiermit beginnt mein Vortrag, und damit ist die
Voraussetzung geschaffen, daß er auch enden kann. Doch
ist das damit auch schon gewährleistet? Die Aussichten
stehen denkbar schlecht, denn wie Sie wissen, muß ich
zuvor die Hälfte der Zeit überschreiten. Für den
verbleibenden Rest gilt dann das selbe: wieder muß ich
erst davon die Hälfte, also ein Viertel erledigen, bevor
ich erneut...usw. Es wird also immer ein Rest von 1/2,
1/4, 1/8, 1/16, usw... meines Vortrags übrigbleiben, und
ein Ende ist nicht abzusehen.
Sie dachten möglicherweise, wenn
ein Künstler einen Vortrag mit dem Titel "Ohne Anfang
kein Ende" ankündigt, kann das nach den heute geltenden
akademischen Regeln nichts anderes bedeuten, als daß ich
mich schweigend hierher stellen würde, um damit zu
demonstrieren, wie unendlich lang die Zeit werden kann,
und wie der Vortrag dann tatsächlich nie ein Ende finden
kann, weil er gar nicht erst beginnt. Das bleibt Ihnen
heute erspart. Statt dessen will ich Ihnen jetzt ein
hervorragendes Beispiel Konkreter Kunst vorstellen.
Leider kann ich es Ihnen nicht direkt vorzuführen, sie
müssen sich mit einer Beschreibung begnügen.
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1) Die Bessemerbirne
(Ebenenüberschreitung)
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Es handelt sich um einen Film der
Filmbildstelle für den Schulunterricht, den ich als
Schüler gesehen habe. Es ging um die Stahlherstellung.
Vielleicht kennt der eine oder andere von Ihnen diesen
Film noch. Ich habe vergessen, ob es ein SW-Film oder
ein Farbfilm war, doch ich ziehe es vor, dabei an SW zu
denken. Man sah darin die Arbeiter des Walzwerkes mit
Schutzmasken, derben Handschuhen, und feuerfester
Kleidung mit flüssigem und glühendem Metall handieren,
eine Atmosphäre hektischer Schufterei in Hitze und
Halbdunkel wie aus Menzels Bild. Ein Teil des Films
handelte von der Flußstahlherstellung im sog.
Thomasverfahren. Dabei werden in einem Konverter, der
Bessemerbirne, das ist ein kippbares Gefäß wie ein
riesiger Betonmischer mit ca 5m Durchmesser mit
zahlreichen Winddüsen in ihrem Boden, dem flüssigen
Roheisen durch Einblasen von Luft die Verunreinigungen
(C, Si, P, S, Mn) entzogen. Sie werden verbrannt, und
entweichen unter heftiger Flammenentwicklung und unter
Auswurf von Schlacken und und glutflüssigem Metall,
bevor man schließlich den fertigen Stahl abgießen kann.
Genau das war im Film zu sehen. Ein
Blick in den Höllenschlund! Ein weißglühendes,
funkenspeiendes Inferno kochenden Stahls im Inneren des
Konverters. Es war ungeheuer beeindruckend, doch der
Höhepunkt stand noch bevor: Gerade als sich die
Bessemerbirne neigte und die glühende Schlacke
auszuspeien begann, als das Fortissimo einsetzte und die
Ausdruckskraft des Mediums Film an ihre Grenzen stieß -
wir sind damit beim Thema angekommen - blieb der Film
hängen!
Eben noch äußerste Turbulenz, jetzt
jähe Erstarrung!
Eben noch hitziges Chaos, - jetzt
stockender Atem!
Die Funken verharren erschrocken
auf der Stelle und vergessen das Stieben! Die Flammen
eingefroren!
Ein absolutes Aussetzen der Zeit
für zwei, drei unendliche Sekunden. --
Dann kommt Leben in den Film: Der
Stahl beginnt, ganz zaghaft erst, erneut zu kochen. Was
sich bis hierhin nur in SW abspielte, blubbert nun gelb,
rot, schwarz, feurig gerändert, kräuselt sich, wirft
Runzeln aus Zelluloid riesenhaft auf die Leinwand. Die
Konkretion bricht sich Bahn und beamt uns - ja, wohin? -
in nichts geringeres als in eine brandneue Situation!
Feuer! Die Klasse kreischt! Der entsetzte Lehrer
ergreift Maßnahmen!
Flammen schlagen aus dem Projektor.
Die Klasse stürzt in Panik aus dem Vorführraum. Alarm!
Das Schulhaus steht in Flammen. Löschzüge rücken
an...und Kamerateams. Sie filmen den Schulhausbrand und
die Aufnahmen erscheinen in der Wochenschau, das waren
die Bildnachrichten im Vorfernsehzeitalter. Man saß
popcornnaschend in den Klappsesseln und sah zu, wie die
Feuerwehr der Situation Herr zu werden suchte.- In
vielen Kinos versagten damals genau an dieser Stelle die
Projektoren. Die Filme blieben hängen, und für ein, zwei
Sekunden jähen Zeitstillstands, - der Atem stockte, die
Pupillen weiteten sich,- geschah nichts. Dann wieder:
Feurig schwarz rot gelb geränderte blubbernde
Brandblasen in Superbreitwand usw. usw...
Gut, ich räume ein, meine
Schilderung war teilweise übertrieben. Doch der Anfang
stimmte. Bis zu der Stelle, wo der Film im Projektor zum
ersten Mal das Brennen anfing, als die Zeit für einen
kurzen Augenblick angehalten wurde,...aber die Zeit kann
man nicht anhalten, sie findet immer einen Ausweg. In
diesem Moment des Brennens hat ein Ebenensprung
stattgefunden: Aus der Ebene des Tatsachenberichts und
der Schilderung wahrer Begebenheiten hinaus durch den
freien Raum des Denkbaren... hinein in eine Ebene
manifesten Sprücheklopfens... inzwischen bin ich in
einer Ebene selbstkritischer Reflexion angekommen. Sie
sehen, wir können ständig von einer Ebene in die andere
surfen, wenn wir wollen, so wie man durch
Fernsehprogramme zappen kann. Die Anlässe für solche
Sprünge scheinen vielfältig: äußere Anlässe, Langeweile,
Übermut, Verzweiflung,... doch allem gemein ist ein
Innehalten, ein Stocken der Zeit. Wie in dem Film. Eine
Situation geht zu Ende,- und weil danach etwas anderes
kommen muß - denn es ist bisher noch nie passiert, daß
nichts nachgekommen wäre - kommt auch etwas anderes
nach. Das kann eine mehr oder weniger triviale
Veränderung sein, doch bisweilen ist der Wandel
grundlegend, und in diesem Fall können wir von
Ebenenüberschreitung sprechen.-
Halten wir an dieser Stelle den
Begriff Ebenensprung fest, sowie den Eindruck des
gefrorenen Feuers im Film, als die Zeit innehielt, und
setzen wir an zu einem Gedankensprung direkt ins
Paradies.
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2) Der Garten Eden
(Selbstbeobachtung)
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Lassen Sie mich bei Adam und Eva
anfangen. Der Garten Eden war begrenzt - zunächst durch
das Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen.
Ferner hatte er natürliche Grenzen, wie Flüsse und
Felsen, vielleicht war er aber auch von einer Hecke,
einem Zaun oder einer Mauer umgeben, wie sich spätestens
bei der Vertreibung herausgestellt haben muß. Durch
verbotenes Naschen am Baum der Erkenntnis des Guten und
des Bösen haben die ersten Menschen ihre
Aufenthaltserlaubnis im Paradies verwirkt. Kaum
erkenntnisbegabt, erkannten sie, daß sie nackt waren,
Stichwort "Selbstbeobachtung", bedeckten sich mit
Feigenblättern, und das wiederum machte Gott stutzig. Er
vertrieb sie aus dem Paradies, wohl weniger, weil Er
über die Übertretung sauer war, sondern vor allem, weil
Er verhindern wollte, daß sie sich jetzt auch noch am
Baum des Lebens vergriffen, wodurch sie Unsterblichkeit
erlangt hätten. Das war an sich eigentlich nicht
verboten, doch wären die ersten Menschen dadurch
gänzlich gottgleich geworden. Merken Sie sich die
Formel:
Erkenntnis +
Unsterblichkeit = Gottgleichheit
Stellen Sie sich vor, wir hätten
vorher vom Baum des Lebens gegessen! Diese
Ebenenüberschreitung mußte unbedingt vermieden werden.
Gott wäre nicht Gott, hätte Er das durchgehen lassen. Er
hat also, könnte man sagen, aus systematischen Gründen
einen Schnitt zwischen sich und seine Schöpfung gezogen.
Er hat zwischen der Ebene Gottes und der Ebene seiner
Schöpfung deutlich unterschieden, um ein logisches
Dilemma zu vermeiden, ein Dilemma, ähnlich der Frage,
wer denn den Dorfbarbier rasiert, der genau alle Männer
im Dorf rasiert, die sich nicht selber rasieren...
Rasiert er sich nun selbst oder rasiert er sich nicht,
oder wer wen? Ein unlösbares Problem. Klar, daß so etwas
weit unter Gottes Würde ist. Hätte Er mit gottgleichen
Geschöpfen ein komplett selbstorganisierendes Universum
zugelassen, so hätte Er sich als Sch�pfer von Anfang
an wegrationalisiert. Er tat es nicht und war damit
vorerst aus dem Schneider.
Wir Menschen aber haben es uns dank
Adam und Eva jetzt selbst zuzuschreiben: Wir müssen
einerseits erkennen, daß wir andererseits nicht
gottgleich sind. Diese harte Nuß ist uns seit unserem
Auszug aus dem Paradies für immer ins Gepäck gegeben.
Seit jener ersten Grenzüberschreitung können wir uns
daran die Zähne ausbeissen: An der Erkenntnis, daß wir
niemals den kompletten Durchblick = das ewige Leben,
haben können. Daß also unsere Erkenntnis von Grund auf
mangelhaft ist. Und gerade dann, wenn die Grenze, der
Zaun, die Schranke, das Ende zum Thema wird, liegt das
Problem auf dem Tisch.
Nachdem die Menschen nun draußen
sind aus dem Paradies, und mit allen möglichen Schikanen
belastet ihre Wege gehen, ist ihnen mehr oder weniger
klar, daß zwar alles irgendwo, irgendwann ein Ende haben
muß. Das ist es ja gerade, was Gott nicht auch noch
preisgeben wollte. Aber, und diese Erfahrung machen wir
auch, solange wir überhaupt noch Erfahrungen machen,
also noch am Leben sind: Wenn etwas zu Ende geht, kommt
danach irgend etwas neues, anderes. Unvorstellbar ist,
daß alles, und ich meine schlechthin alles, irgendwann
und irgendwo mal aufhört, und daß dann und dort einfach
nichts wäre. Leere, gut, das können wir akzeptieren,
denn Leere sagen wir uns, ist prinzipiell auffüllbar und
bedeutet eigentlich nur soviel wie nichts Bestimmtes in
verschärfter Form. Leere ist der Joker, der Platzhalter,
die wildcard unter den Begriffen, jederzeit bereit sich
aufzufüllen. Das Papier ist zwar weiß, aber es ist da.
Selbst die streng physikalische Vorstellung des Vakuums
provoziert auf der Stelle spontane Quantenereignisse.
Doch nichts ist gar nichts, nicht einmal eine
Tautologie.
So zwingend unsere Erfahrung ist,
daß im einzelnen alles und jedes seine Grenzen hat, so
unvorstellbar ist eine allgemeine Grenze hinter der
nichts, aber auch gar nichts, nicht einmal eine
unendliche Leere wäre.
Wenn wir über Unendlichkeit reden,
versuchen wir uns an einem Begriff, der natürlich nicht
wie die meisten anderen Begriffe durch unmittelbare
Beobachtung gewonnen wurde, sondern allein indirekt,
durch Reflexion und Selbstbeobachtung. Adam wird draußen
irgendwann frustriert vom Mißerfolg und im Schweiße
seines Angesichts Beobachtungen gemacht haben, wie: "Mit
diesem beknackten Acker werde ich ja niemals fertig. Man
schuftet und schuftet und es nimmt kein Ende!"
So könnte das Nachdenken über das Unendliche begonnen
haben. Man stellt fest, daß man nicht zu einem Ende
kommen kann und sagt dann z.B.: Der Weltraum ist
unendlich. Oder: Es gibt keine größte natürliche Zahl,
daß es nicht durch Addition mit 1 eine noch größere
gäbe, usw... Wir beziehen uns also von Grund auf auf
unser Subjekt, wenn wir das Wort "unendlich" in den Mund
nehmen. Das Unendliche ist nichts, was draußen,
objektiv, aktual irgendwie vorzufinden wäre, sondern es
ist im besten Sinne des Wortes ein Hirngespinst.
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3) Zenon (Demonstration mit
Sektgläsern)
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Wir probieren jetzt gleich einmal
aus, wie es denn ist, nicht zu einem Ende kommen zu
können. Ich möchte dazu das berühmte, 2500 Jahre alte
Gedankenexperiment des griechischen Philosophen Zenon
von Elea vorführen. Wenn ich dieses bekannte Problem
hier nochmal ausführlich auftische, dann deshalb, weil
ich überzeugt bin, daß es vielen großen Geistern zum
Trotz bis auf den heutigen Tag ungelöst ist, ebenso wie
das andere Zenonsche Paradox, das ich am Anfang meines
Vortrages bemüht habe (1/2,1/4,1/8,...). Und ich glaube
darüber hinaus, daß es niemals gelöst werden wird...
Diese Flasche ist Achilles, der
Halbgott und Sportsfreund, eine Flasche deshalb, weil es
ihm, wie wir wissen, nicht gelingt, die Schildkröte
einzuholen, geschweige denn zu überholen, solange wir
ihr auch nur den geringsten Vorsprung einräumen. Der
Athlet Achilles, eine Flasche mit Mumm in den Knochen
sozusagen. Wir stellen ihn erst mal auf Eis und geben
der Schildkröte einen Vorsprung. Startschuß und Achilles
sprintet los. Er ist in kürzester Zeit an der Stelle, wo
die Schildkröte gestartet ist. Doch währenddessen ist
auch die Schildkröte ein kleines Stückchen voran
gekommen. Sie hat erneut einen, wenn auch wesentlich
kleineren Vorsprung vor Achilles. Die Situation ist im
Grunde genommen dieselbe wie vorher. Wieder gelangt
Achilles unverzüglich an den Punkt, wo eben noch die
Schildkröte war, wieder ist die Schildkröte ein winziges
Stück weiter. So geht es ganz offensichtlich weiter bis
in alle Ewigkeit, und so sehr Achilles sich auch beeilt,
die Schildkröte wird er nie und nimmer einholen,
geschweige denn überholen. Die Abstände werden zwar
immer kürzer, sie werden aber eben immer kürzer!
Das ist völlig logisch, ein
Vorsprung ist und bleibt ein Vorsprung. Viele Denker
meinten, hier läge ein Trugschluß vor, weil der Gedanke
all unserer Anschauung Hohn spricht. Ich kann beim
besten Willen keinen Trugschluß entdecken, und ich sage
Ihnen ohne alle Ironie, daß ich den Gedanken für logisch
einwandfrei, ja geradezu zwingend halte. Es liegt kein
Trugschluß vor. Wer das bezweifelt, nur weil er andere
Erfahrung gemacht haben will, sollte wissen, daß die
Schildkröte das Symbol der Avantgarde ist: Sie liegt
prinzipiell vorne. Obwohl sie so gut wie auf der Stelle
tritt, ist sie immer ein Stückchen voraus.
Zenon hat mit diesem
Gedankenexperiment die Ideen seines Lehrers Parmenides
untermauert, des ersten und endgültigen Ontologen der
Welt. Parmenides hat alles, was es zum Thema "Sein" zu
sagen gibt, ein für alle mal gesagt, nämlich, daß das
Sein eins ist, vollkommen und ewig, ohne Anfang und
Ende, ohne Vielheit und Unterschiede, ohne Bewegung und
Veränderung. Daß es dem gegenüber so etwas wie ein
Nichtsein nicht geben kann, weil das selbstverständlich
nicht ist, und das Sein somit ohne Anfang und ohne Ende
ist, sowie ohne alle Unterschiede und Wandel. All das,
das Werden und Vergehen, der unentwegte Wechsel, die
Vielfalt der Erscheinungen, der Fluß, in dem alles ist,
- nichts als ein Irrtum. Heraklit von Ephesos mit seinem
Panta rhei ist ein Spinner. Die Wahrheit ist eins und
unveränderlich. Diese großartige Idee ist die Menschheit
nie mehr losgeworden, und alle späteren Versuche auch
der bedeutendsten Denker, sie zu bändigen oder irgendwie
mit der Erfahrung zu versöhnen, wirken blaß und hilflos.
Auch Zenons Problem ist bis auf den
heutigen Tag ungelöst geblieben, und auch daran wird
sich nichts ändern. (Ich habe erst kürzlich im Spektrum
der Wissenschaft einen erneuten Versuch scheitern sehen:
) Wir müssen seither mit diesem Schluß, der eben kein
Trugschluß ist, leben, und anerkennen, daß es so ist,
wie es ist, und wie es nach den Eleaten nur sein kann.
Und daß wir es, davon abweichend so sehen, wie wir es
sehen.
Sollten es jetzt manche von Ihnen
trotzdem noch für möglich halten, die Strecke von Ihrem
Platz nach hier vorne zurückzulegen, lade ich Sie ein,
mit mir auf das Wohl der Avantgarde anzustoßen.
Achilles gescheiterter Versuch, die
Avantgarde einzuholen, zeigt, daß Ebenenüberschreitung
nicht immer so ohne weiteres gelingt. Ein anderes
Beispiel: Jeder kennt die Sorte von Träumen, wo man vor
einem gefährlichen Verfolger flüchten muß. Man bemüht
sich mit letzten Kräften zu rennen, doch es ist, als
steckten die Arme und die Beine in irgend einer zähen
Masse. Man kommt nicht recht voran, der Boden ist wie
Teig und die Luft wie Honig und je größer die Not, je
näher der Verfolger, je eiliger man es hat, umso ärger
die Behinderung. Es ist ein vertrackter Zusammenhang von
Fortwollen und Fortkönnen, wie man ihn aus der
Speziellen Relativitätstheorie kennt, wo die Strecken
innerhalb eines rasenden Vehikels im Vergleich zur
ruhenden Umgebung umso mehr gestaucht sind, je schneller
es fährt, während die Zeitabschnitte, etwa die Sekunden,
sich im selben Maß dehnen. Solange Sie nicht
schweißgebadet aufwachen, wird so ein Traum immer
kompakter und beklemmender, und die Situation ähnelt
irgendwie der von Achilles. Meist wacht man aber auf,
oder man träumt, man stirbt und wacht dann auf.
Beklemmend ist die Vorstellung, in einem solchen Traum
hängen zu bleiben, wie bei Zenon. Das würde etwa heißen,
zu sterben und es nie zu erfahren. Offenbar stehen wir
hier wieder an dieser gewissen Grenze, wo ein
Ebenensprung angesagt ist, sei es vom Traum ins
Wachbewußtsein, in den Tod oder sonstwohin. Es gibt auch
noch die Möglichkeit, daß der Ebenensprung innerhalb des
Traums stattfindet. Ich habe das in meiner Zeit als
Zauberlehrling ein paar mal erlebt.
In den frühen Siebzigern kamen die
Bücher von Carlos Castaneda heraus, die heute wie alles
hippyartige reichlich out sind, wohl auch, weil sie als
Feldforschungsberichte daherkamen, es sich aber
herausgestellt haben soll, daß alles aus den Fingern
gesaugt oder wo anders abgeschrieben gewesen sein soll.
Doch das ist im Grunde gleich, entscheidend ist, daß sie
damals für uns halbwegs aufgeklärte Menschen mit
durchaus rationaler Grundeinstellung die magische
Weltsicht wieder akzeptabel und verlockend machten. Ich
war damals abenteuerlustig genug, mich auf diesen Weg
eine Weile einzulassen. Eine Technik aus diesem System
war es, Einfluß auf seine Träume zu nehmen. Das Rezept
ist äußerst einfach: Man muß sich vornehmen, nachts im
Traum seine Hände anzuschauen. Wenn man gewahr wird: ich
träume-, braucht man nur seine Hände vor die Augen zu
bringen und anzugucken, weiter nichts. Alles übrige
stellt sich dann von alleine ein. Ich brauche Ihnen
nicht zu sagen, daß es tatsächlich ungeheuer schwierig
ist, im Traum seine Hände anzuschauen. Versuchen Sie es
ruhig einmal, es lohnt sich. Aber man muß wirklich ein
fanatischer Freak sein, um so etwas zu schaffen, und
darf praktisch den ganzen Tag nichts anderes im Kopf
haben, als den Ehrgeiz, ein Zauberer zu werden. Mir
selbst ist das damals so drei, vier mal gelungen. Im
Traum den Entschluß zu fassen, die Hände anzuschauen,
stößt einen geradewegs in diese zähe, teigige, lähmende
Welt der Fluchtträume. Sie glauben nicht, wie unendlich
mühsam solch eine lächerlich simple Handlung sein kann.
(Pantomime) Sobald man es aber geschafft hat, stürzt man
in eine Welt, die schlechterdings unbeschreiblich ist.
Sie unterscheidet sich von unserem Alltagsbewußtsein vor
allem durch den atemberaubenden Grad an kristallklarer
Bewußtheit. Man landet in einem sogenannten luziden
Traum. Die Gegenwart der Vision ist in einer Weise
direkt, zwingend und unumgänglich, daß das
Alltagsbewußtsein dagegen dumpf und unscharf wie
nebelige Benommenheit erscheint. Ein Ebenensprung hat
stattgefunden hinein in eine in höchsten Maße
interessante Welt "reinen interesselosen Schauens".
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B) Zwei Unendlichkeitsbegriffe
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Bevor ich nun auf den Kern meines
Vortrags komme, dem Symbol der Unendlichkeit, dem
Unendlichen als plastischem Problem, möchte ich
festhalten, daß in dem bisher gesagten zwei verschiedene
Unendlichkeitsbegriffe sichtbar werden. Ich meine damit
nicht Aristoteles' Unterscheidung des aktual und des
potentiell Unendlichen (also z.B. den Versuch, die
Gesamtheit der Natürlichen Zahlen zu überprüfen,
gegenüber dem vernünftigen Entschluß, dessen
Ergebnislosigkeit vorwegzunehmen.), sondern des
ebenenbezogenen Unendlichen gegenüber dem
ebenenüberschreitenden Unendlichen, des statischen im
Gegensatz zum dynamischen Unendlichkeitsbegriff.
Dem ebenenbezogenen Unendlichen
sind wir bei Zenon sowie bei Adam und Eva begegnet,
deren Mühsal außerhalb des Paradieses nie ein Ende
findet. Wir begegnen ihm bei der Unendlichkeit des Raums
und der Zeit, sowie in der Mathematik, etwa bei der
Menge der Natürlichen Zahlen oder dem Schnittpunkt
zweier paralleler Geraden usw.. Immer haben wir es hier
mit wohldefinierten Kategorien zu tun, dem Raum, der
Zeit usw., welche keine Begrenzung erkennen lassen.
Dabei kann es sich dann gleichermaßen um unendliche
Ausdehnung wie um unendliche Teilbarkeit handeln. Das
Bezeichnende aber ist, daß keine Ebenenüberschreitung
stattfindet.
Jedenfalls zielt dieser Begriff der
ebenenbezogenen Unendlichkeit auf eine Vollständigkeit,
eine Ganzheit der Kategorie, die uns zwar seit unserem
Auszug aus dem Paradies von vorneherein verwehrt ist,
aber eben doch irgendwie angenommen wird. Demnach gibt
es prinzipielle Grenzen nicht, weshalb ja auch Achilles
die Schildkröte niemals einholen kann, und dieser
Vortrag niemals zu Ende gehen wird. In der Praxis, wir
wissen es, gibt es diese Grenzen sehr wohl, weil die
Kategorien, die Ebenen, allein im Hier und Jetzt
wurzeln, sich nur hier berühren, und mit zunehmendem
Abstand davon immer weiter auseinanderklaffen.
Beispiele: (diskrete Feinstruktur im Mikrokosmos,
Ungleichzeitigkeit im Makrokosmos, (Hören und Sehen des
Flugzeugs, "Zehn Hoch")
Ungleich weniger naiv ist dagegen
der Begriff des ebenenüberschreitenden Unendlichen. Wir
sind ihm bisher nur indirekt begegnet, in Form des
ewigen Lebens, das die ersten Menschen verspielt haben,
und in Form einer Nahaufnahme gewissermaßen, dem Film
von der Bessemerbirne, als das Anhalten der Zeit den
Sprung in eine neue Ebene erzwang. Das
ebenenüberschreitende Unendliche gleicht dem, was
Anaximander als Urgrund aller Dinge annimmt: "Apeiron",
das Unbegrenzte, ist der Urgrund aller Dinge, und zwar,
so eine aufschlußreiche Begründung für diese Annahme:
"Damit das Werden nicht aufhört". Es besagt schlicht,
daß es weitergehen muß. Auf das ebenenüberschreitende
Unendliche als dynamischem Prinzip werde ich später noch
genauer zu sprechen kommen.
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C) Das Symbol (Repräsentation)
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Ein Symbol ist ein Zeichen für
einen Begriff, und ein Begriff wiederum ist so etwas wie
ein Stück geistiges Eigentum an der Wirklichkeit.
Begriffe wie Äpfel, Birnen, Sektkorken und Vorträge sind
recht gut handhabbar. Sie stellen so etwas wie Bargeld
dar auf dem Marktplatz des Geistes. Ein Begriff aber wie
"das Unendliche" gleicht mehr einem Wechsel von der
langen Bank. Möglicherweise ist es ein fauler Wechsel,
wir können es nicht mit letzter Sicherheit sagen. Er
erweist sich als praktisch, etwa bei der
Infinitesimalrechnung, solange wir vermeiden, ihn mit
bloßen Händen anzufassen. Er taugt gut dazu,
Übertreibungen auszudrücken, aber mit dem
Gleichheitszeichen sollte er tunlichst nicht in
Berührung kommen. Er hat etwas Unsauberes, Vermessenes,
Frevelhaftes, denn er verbirgt in sich den Anspruch auf
geistigen Vollbesitz der Wirklichkeit. Wer ihn ernsthaft
in den Mund nimmt, blickt voll durch, denken sie an
Parmenides und Zenon. Sein Gegenwert ist letzten Endes
die Gesamtheit aller übrigen Begriffe. Seine Verwendung
reißt ein Loch in unsere Welt, durch das jedwede
Orientierung, jeder Sinn zu entweichen droht. Allen zum
Trotz, die versucht haben, ihn in den Griff zu kriegen,
- Aristoteles, Archimedes, Newton, Leibniz, Cantor - es
wurde nie ein positiver Begriff aus dem negativen
Un-Endlichen, sondern es fielen allenfalls ein paar
praktische Rechentricks ab. Parmenides' Darstellung war
und ist dem Thema entsprechend endgültig.
Selbstbildnis als Klein'sche Flasche, Peter Angermann
Als nächstes will ich also über das
Symbol dieses problematischen Begriffs "Unendlichkeit"
reden. Dem Symbol als demjenigen Aspekt des Begriffs,
welcher am leichtesten zu fassen, der am handfestesten
und in diesem Sinne plastisch ist. Daher der Untertitel
meines Vortrages: Die Unendlichkeit als plastisches
Problem. Das wird Ihnen vielleicht auf den ersten Blick
oberflächlich vorkommen. Es erscheint eher lächerlich,
sich mit so etwas willkürlichem, zufälligem zu befassen,
und es wundert kaum, daß das in den vorhergehenden
Veranstaltungen noch nicht zur Sprache kam. Wir könnten
uns z.B. ohne weiteres darauf einigen, ein "U" für
"unendlich" zu schreiben, und uns dann sogleich dem
problematischen Begriff selbst widmen. Beschäftigt man
sich eingehender mit dem Symbol, so gleicht man ein
wenig dem Kind, das den Zeigefinger des Vaters, der es
auf den Mond hinweisen will, mit dem Mond selber
verwechselt.
Ich meine aber, ein solcher Ansatz
steht gerade einem Künstler gut an. Ich halte die
Beschäftigung mit dem Symbol, mit dem Träger der
Bedeutung für alles andere als für trivial. Bedeutung,
Repräsentation - in der Gegenwartskunst nicht eben hoch
geschätzt - spielen, wie wir sehen werden, eine eminent
wichtige Rolle nicht nur beim vorliegenden Thema,
sondern überhaupt in den neueren epistemologischen
Entwürfen, wo es um Selbstorganisation, Bewußtsein und
künstliches Bewußtsein und von neuem um den Zusammenhang
von Geist und Materie geht. Nur die Kunstwelt kann seit
längerem mit diesen Konzepten wenig anfangen, sie zieht
im allgemeinen Dinge vor, die für sich selbst stehen und
nicht ausdrücklich auf etwas anderes weisen. Das hat
plausible kunsthistorische Gründe, doch der Wahrheit
letzter Schluß wird auch das selbstverständlich nicht
sein. Ich meine, Repräsentation ist alles andere als ein
statisches Konzept, als ein Rückgriff auf Bestehendes,
vielmehr bildet sie die Grundlage des ganzen lebendigen
feedbacks der Wahrnehmung.
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1) Platteste Symbolik (Die
Unendlichkeit als plastisches Problem)
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Ein Symbol ist fast so etwas wie
ein materielles Substrat des Begriffs, sozusagen seine
hardware. Eine Eselsbrücke zwischen den zwei Welten. Es
kann gar nicht platt genug sein, denn es dient dem eher
haptischen Aspekt des Begreifens. Sperrige Symbole sind
schwach. Die Kraft eines Symbols liegt geradezu in
seiner Plattheit. für die Gedankentiefe müssen wir
selber sorgen. Um ganz und gar den Sprung von der Ebene
der Begriffe in die Ebene der Symbole zu schaffen,
bediene ich mich jetzt eines bewährten Mittels: Ich
unterbreche den Fluß der Zeit. Es ist jetzt 20.30 Uhr
und ich halte die Zeit an!
(Demonstration mit Uhr und
Schraubstock)
Damit sind wir gewaltsam in der
Ebene plattester Symbolik gelandet!
Ein frühes Symbol der Unendlichkeit
ist die bekannte Schlange, die sich in den Schwanz
beißt. Das hängt vielleicht mit der Schöpfungsgeschichte
zusammen. Hätten Adam und Eva nein gesagt, die Schlange
hätte sich vor Wut in den Schwanz gebissen, denn: Naive,
selige Menschen ohne eigene Erkenntnis - sie hätte
stempeln gehen können. Der Mensch, ohne Umschweife ins
Himmelreich: Buchstäblich ein Kurzschluß bei der
UnterweltGmbH.
Eher anzunehmen ist jedoch, daß
gerade das Gegenteil von Kurzschlüssen gemeint ist,
Langschlüsse gewissermaßen, nämlich die Kreisläufe des
Lebens, das Werden und Vergehn ohn Unterlaß. Die
Schlange beißt sich nicht nur in den Schwanz, sie frißt
sich von hinten her auf, wächst und gedeiht durch diese
gesunde und ökologisch einwandfreie Ernährung (kein
Ressourcenverbrauch, keine Abfälle) umso prächtiger,
usw.
(Demonstration mit Fahrradreifen)
Abstrakt denkenden Menschen wird
diese Symbolik zu bildhaft gewesen sein und dem
problematischen Begriff des "Unendlichen" unangemessen.
Sie werden den schieren Kreis als Symbol bevorzugt
haben. Weil man sich weder vorstellen kann, daß die Zeit
oder der Raum jemals aufhört, und weil man sich das
Gegenteil, daß es immer und ewig weitergeht, ebensowenig
vorstellen kann, rettet man sich in die Vorstellung
eines Kreislaufs. Aber auch dann muß man anerkennen, daß
der in sie zu beißenden Schwanzspitze als einer
Markierung des Hier und Jetzt des Problems eine
fundamentale Bedeutung zukommt.
Nimmt man aber ein Hier und Jetzt
innerhalb des Zyklus an, dann gibt es auch einen
fernsten Punkt, den Antipoden auf der Kreisbahn
gegenüber.Auf unserer Karussellfahrt um den
Erdmittelpunkt etwa ist das die Uhrzeit 8 Uhr 40 ante
meridian, wo sich u.a. die Neuseeländer gerade in diesem
Augenblick befinden. Bei unserer Fahrt um die Sonne ist
es der 4. Dezember, wo sich zur Zeit zwar die
Neuseeländer ebensowenig befinden wie wir, doch wären
sie dort, könnten Sie diesen Termin aus unserer Sicht
auch für den heutigen Tag halten. Sie sehen, größere
Zyklen, vor allem wenn sie sich überlagern, kriegen
leicht etwas Unübersichtliches. Wir verlieren den fernen
Zusammenhang früher oder später aus den Augen. Wir
vernehmen beim Lauschen in die große Muschel ein
Hintergrundrauschen, und halten es für das Echo, nein
nicht des Meeresrauschens, sondern des Urknalls. Stimmen
dürfte an dieser objektivistischen Vorstellung
zumindest, daß dort, auf der anderen Seite der Welt,
alles vollständig verschieden von hier erscheinen wird.
Und daß nur universelle Gültigkeit beanspruchen kann,
was auch dort gilt: nämlich gar nichts, was irgendwie zu
begreifen wäre, womit wir schon wieder bei Parmenides
gelandet wären und bei Nick dem Weltraumfahrer.
Doch bleiben wir beim Symbol der
Unendlichkeit, und tragen wir dem Umstand Rechnung, daß
die notwendige Markierung ihren Antipoden bedingt und
umgekehrt. Legen wir also beide Seiten dieser einen
Medaille zusammen zu einem eleatischen Fokus, zu einem
Schnittpunkt der Kreisbahn mit sich selbst und erhalten
so die (liegende) Acht als das allgemein gebräuchliche
Symbol der Unendlichkeit. Betrachten wir jetzt näher den
Zugewinn an Symbolkraft.
Die Bewegung entlang einer
gewöhnlichen Kreisbahn ist recht monoton. Man kennt das
vom Schlittschuhlaufen. Bewegen wir uns dagegen auf
solch einer verschlungenen Bahn, legen uns abwechselnd
in die Links- und in die Rechtskurve, kreuzen mal von
links, mal von rechts unseren eigenen Weg, dann wird uns
die Unendlichkeit vielleicht weniger lang. Der Vorgang
ist deutlich strukturiert, und am Schnittpunkt haben wir
sogar die Möglichkeit, uns gewissermaßen selbst zu
begegnen. Man könnte hier eine Verkehrsampel
installieren und Unfälle abwenden oder auch verursachen.
Man könnte Information austauschen. Reflexion ist
möglich und Plastizität in dem Sinne, daß ein Durchlauf
den nächsten prägt und verändert, und keiner dem
vorhergehenden völlig gleicht. Es ist also noch in
wesentlich tieferen Sinn das Unendlichkeitssymbol als
plastisches Problem zu sehen!
(Demo mit zwei Spiegeln)
Sie alle haben sicher schon mal
ihren Kopf zwischen zwei Spiegel gesteckt. Was haben sie
gesehen? Eine unendliche Reihe von Paaren gleicher
Spiegelbilder links und rechts, nur perspektivisch in
Größe und Kontrast verschieden?- Probieren sie es noch
einmal aus, und schauen Sie ganz genau hin: Kein
Spiegelbild gleicht dem anderen. Alle unterscheiden sich
in der Stellung der Augen, je nachdem, welches Sie
gerade anschauen!
Selbstbeobachtung: Darin steckt
wieder merklich der Keim der Ebenenüberschreitung, ohne
die es die Idee des Unendlichen überhaupt nicht gäbe.
Eine Gerade ebenso wie ein Kreis kann diese Idee nicht
hervorbringen: Sie mögen unendlich sein, wie sie wollen,
doch sie sind ewig gleich und schließen den Wandel aus
und gerade dadurch die Idee des Unendlichen. (Parmenides
leugnet den Wandel und erklärt die Bewegung für
Täuschung. Und erst diese Täuschung, der er selbst
natürlich wie jeder andere Mensch unterliegt, macht es
möglich, das Unendliche zu denken) Es ist die Schleife
mit ihrem Moment der Selbstüberquerung also in viel
tieferem Sinn ein Symbol des Unendlichen als der
einfache Kreis, der nicht über seine Schranken
hinausweist, der nicht Plastizität impliziert, der kein
Vorher - Nachher kennt.
Solche Schleifen reißen
gewissermaßen ein Loch in die Welt. Wo vorher
langweilige, übersichtliche Aufgeräumtheit herrschte,
tut sich plötzlich ein bodenloser Abgrund auf, der alles
andere als monoton, sondern überraschend komplex ist.
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2) Loop
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Ich ziehe es vor, unser Zeichen,
die liegende Acht, die Schleife auf englisch "loop" zu
nennen. Und zwar einmal aus offensichtlichen graphischen
Gründen, aber vor allem auch, weil "loop" in der Sprache
der Informatiker die logische Schleife bedeutet. Das ist
eine Struktur, die beim Programmieren eine große Rolle
spielt, wenn Prozeduren wiederholt ausgeführt werden
sollen, was sehr häufig der Fall ist, oder auch nur,
wenn schlicht gewartet werden soll, bis ein bestimmter
Umstand eingetreten ist.
Ein
besonders wichtiger Fall solch eines loops ist die sog.
Iteration. Dieser mathematische Begriff bezeichnet die
rechnerische Annäherung an einen Wert, der nicht direkt
zu ermitteln ist. Man bedient sich dabei einer
Rechenvorschrift, einer Formel, deren Ergebnis erst
berechnet und dann von neuem in die selbe Formel
eingegeben wird. Das neue Ergebnis wird dann wieder
eingegeben usw.., solange man will und kann. So könnte
man beispielsweise denjenigen Punkt rechnerisch
annähern, den die Schildkröte und immer knapper hinter
ihr Achilles anstreben. Solche Iterationen im
besonderen, wie der loop im allgemeinen spielen eine
hervorragende Rolle, wenn es z.B. im technischen Sinne
um die Struktur des Denkens geht, also um künstliche
Intelligenz. All das läßt sich also ohne allzuviel
Phantasie, doch mit hinreichender Willkür (dem
künstlerischen Gestaltungsprinzip Nr. 1!) aus unserem
einfachen Symbol herauslesen: Die Rekursion, die
Reflexion und Selbstbezüglichkeit am Schnittpunkt in der
Mitte.
... Als nächstes gehe ich noch
einen Schritt weiter und wende dieses Konzept auf unser
Symbol selbst an. Konsequent selbstbezüglich also und
rundum im Sinne dieser Sache. Hier sei ein sehr
wichtiger Gedanken angemerkt: Symbolik, also im Grunde
genommen Bedeutung, scheint mit der logischen Schleife
aufs engste zusammenzuhängen, wie zwei Seiten der selben
Medaille. Loop und Symbol lieben sich innig und bringen
erst gemeinsam den Ebenensprung als auch sein
Geschwisterchen, das Paradoxon hervor. (z.B.
Dorfbarbier, Russell, Gödel-Escher-Bach) Deshalb
folgender Vorschlag: Als Symbol für den Begriff "Symbol"
sei fürderhin der loop eingesetzt. Das schließt
keineswegs aus, ihn auch weiterhin als Symbol der
Unendlichkeit einzusetzen, im Gegenteil!
Mal sehen, was dabei herauskommt,
wenn wir unser Symbol rekursiv bearbeiten. Gestatten Sie
mir, daß ich als erstes eine gewisse Asymmetrie
einführe, nicht aus prinzipiellen, nur aus formalen
Gründen, der Platz reicht sonst nicht. Sodann füge ich
hier eine weitere, kleinere Schleife an. Dadurch erhalte
ich einen zweiten Schnittpunkt, wodurch sich im Grunde
auch noch nichts ändert, denn der erste Schnittpunkt
kann ja auch beliebig oft durchlaufen werden. daß der zu
durchlaufende Weg dadurch etwas länger wird, kann das
Symbol der Unendlichkeit ebenfalls ganz gut vertragen.
Ich füge noch weitere Schleifen an. Überall, wo noch
Platz ist, füge ich eine entsprechend große Schleife an.
So lautet die Verfahrensregel: Füge überall, wo noch
Platz ist, weitere Schleifen an. Fahre fort, bis - - -
vielleicht der letzte Zuhörer den Raum verlassen hat,
und laß auch dann noch nicht locker. Die Chancen stehen
gut, den Vortrag unendlich in die Länge zu ziehen.
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D) Mandelbrotmenge
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Bei großzügigster Interpretation
könnte man diese Verfahrensregel mathematisch
folgendermaßen schreiben:
xn+1= xn2+c
Dabei sind x und c komplexe Zahlen.
Dieses mathematische Objekt mit dem populären Namen
"Apfelmännchen" kennt inzwischen jeder. Es handelt sich
um die Mandelbrotmenge, benannt nach Benoit Mandelbrot,
der sie 1980 entdeckte. Das Konzept ist allerdings
einige Zeit älter und geht auf die französischen
Mathematiker Gaston Julia und Pierre Fatou zurück, die
sich Anfang des Jahrhunderts mit komplexer Dynamik
befaßten. Sichtbar gemacht werden konnten diese
ungeheuer rechenintensiven Darstellungen aber erst,
nachdem der Computer da war, und sich bis zu einer
gewissen Rechenkapazität entwickelt hatte.
(Auf die scheinbaren Abweichungen
(Kerbe, Antennen) vom Konzept näher einzugehen, bin ich
nach dem Vortrag bereit, falls Wert darauf gelegt wird)
Lassen wir das Apfelmännchen, unser neues, modifiziertes
Symbol der Unendlichkeit, einen Augenblick beiseite und
erinnern uns an den Film von der Bessemerbirne: Der Film
ist hängen geblieben, also die Eigenzeit des Films wurde
angehalten. Das erzwang eine Ebenenüberschreitung in
eine andere konkretere Zeitebene, unsere damalige
Eigenzeit vor ca. 40 Jahren, als ich noch Schüler war,
denn unter dem Strich muß die Zeit immer weitergehen.
Daß dies selbstbezüglich und im Zeichen des Feuers
geschah, des Inbegriffs dynamischen Geschehens und des
Übergangs, war meines Erachtens nichts geringeres als
ein Augenzwinkern irgend eines Unsterblichen. Ich habe
Heraklit im Verdacht. Versuchen Sie sich jetzt
vorzustellen, man hätte damals, nachdem der Film
hängengeblieben war, und als das Zelluloid zu kochen
anfing und feurig gelb-rotgeränderte Blasen warf, und
als wir plötzlich auf diese viel konkretere Ebene
umstiegen, (jeder Moment ist übrigens konkreter als der
vorhergehende) wiederum die Zeit angehalten, in den
Schraubstock geklemmt - wie hätte das ausgesehen? können
Sie es sich nicht vorstellen? - -
Es ist mir das wahrhaft Unmögliche
gelungen, diesen Ebenensprung zu fixieren, diesen Moment
des Brennens auf ein Dia zu bannen.
(Dia 1).
Unser neues Unendlichkeits-
symbol. Das Feuer und der Rauch hier an den Rändern,
ohne Chance, sich Luft zu machen, ohne den Bruchteil
einer weiteren Sekunde, sich zu recken und zu entfalten
und jetzt die Halle der Städelschule hier in Schutt und
Asche zu legen. Das erstarrte Feuer ist sozusagen
gezwungen, sich in einer Art absolut stillen
Schwelbrandes in die Unendlichkeit des Mikrokosmos
hineinzufressen. Wir nehmen nun das Mikroskop zu Hilfe
und gehen der Sache nach (Dias 2-8)...
Prinzipiell ist es möglich, immer
weiter in diese Struktur hineinzuzoomen, ohne daß wir
jemals an ein Ende kämen, und ohne daß sich mehr als die
groben Grundformen wiederholen würden. Die Formen werden
im Detail sogar immer komplizierter, je weiter wir
hineinzoomen. Mathematisch gesehen, befinden wir uns
hier an der Grenze zwischen zwei Einzugsgebieten,
zwischen zwei Becken, ähnlich einer Wasserscheide. Ich
wohne selbst genau auf der großen Europäischen
Wasserscheide, wo jeder Regentropfen der links davon
fällt, über die Donau zum Schwarzen Meer hin fließt,
während ein anderer rechts davon, vielleicht nur einen
Zentimeter entfernt, in das andere Einzugsgebiet über
den Main und den Rhein zum Atlantik gelangt. Eine solche
Grenze liegt auch hier vor, wenn auch nicht auf der
Landkarte der Oberpfalz, sondern in der Komplexen
Zahlenebene namens C2:
Ein Punkt, der iterativ berechnet,
sich auf einen endlichen Wert einpendelt, gehört zur
Mandelbrotmenge im Inneren des Apfelmännchens. Dem
gegenüber gehört ein Punkt, der in der Iteration früher
oder später erkennen läßt, daß er immer extremere Werte
annimmt,also in unendliche Ferne abschweift, dem anderen
Einzugsgebiet an. So läßt sich jeder denkbare Punkt nach
hinlänglichem, oft beträchtlichen, oft schier
unendlichen Rechenaufwand einem der beiden
Einzugsgebiete zuordnen. Ich habe einmal vor 11 Jahren,
in meiner Hackerzeit, meinen Computer 6 Wochen an einem
solchen Bild rechnen lassen, während ich verreist war.
Wollte man anthropomorph schildern,
was an dieser sonderbaren Grenze geschieht, die sich
umso bizarrer kräußelt, je näher man ihr kommt, müßte
man annehmen, die beiden Einzugsbereiche zieren sich
derart prüde, sich nahezukommen, daß sie keine
Verrenkung scheuen, sich aus dem Weg zu gehen. Zwei
gänzlich unvereinbare Gebiete sehen sich auf gleicher
Ebene (C) zu paradoxer Koexistenz gezwungen. Sie weigern
sich förmlich, aneinander zu grenzen, denn es ist in der
Tat ausgeschlossen, auch nur den geringsten
Streckenabschnitt einer gemeinsamen Grenze auszumachen.
Alles, was wir können, ist, uns der Grenze beliebig zu
nähern, oder durchweg vereinzelte Grenzpunkte
auszumachen. Ein bildgewordener totaler Widerspruch -
so, meine Damen und Herren sieht es aus, wenn man nur
einen Augenblick die Zeit anhält. Wenn man eine fällige
Ebenenüberschreitung verweigert. - -
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E) Fazit:
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1) Das negativ definierte Un-endliche
ist in kategorischer Beschränkung (d.h. ebenenbezogen
z.B. bei Mengen, Abmessungen..) ein paradoxer Begriff.
Er ist ein Dorfbarbier. Die allgemeine Vollständigkeit
des Zusammenhangs, die er beansprucht, steht uns als
endlichen Wesen, als internen Beobachtern dieser Welt,
prinzipiell nicht zur Verfügung.
2) Das ebenenüberschreitende
Unendliche entspricht als dynamisches Prinzip
Anaximanders Urgrund aller Dinge ("damit das Werden
nicht aufhört"). Dynamik ist konkret gegeben, wo
Zirkularität der Beziehungen an sich geschlossene
Systeme öffnet, und so Zeitlichkeit, Plastizität
bedingt. Die Zeitlichkeit ist dann zyklisch, eine
Überlagerung beliebig großer Kreisläufe.
3) Jede Darstellung dynamischer
Zusammenhänge auf welcher Ebene auch immer, macht
wiederum das Paradoxon sichtbar.
Es mag eine Täuschung sein, verehrte
Zuhörer, doch damit scheint dieser Vortrag nun doch an
einem Ende angekommen, und stellt die teleologische
Annahme, daß alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende
nehmen muß, keine Sekunde länger in Frage.
Peter
Angermann
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