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Kritische Anmerkungen
zur Anthroposophie Rudolf Steiners,
zum anthroposophischen Gehalt der Waldorfpädagogik
und zu deren Konsequenzen
von
Joachim
Paul
Inhalt:
Als Vorwort: zur Motivation des Autors
Ebenso wie die anderen hier auf dieser WebSite (Anm.:
gemeint war www.solidinfo.de) vertretenen Autoren bin ich ein
aktiver Nutzer des sogenannten Usenet, des weltweiten Verbundes der Newsgroups,
jener öffentlichen Diskussionsforen, in denen man zu allen Themen, die Menschen
bewegen, Meinungen lesen und auch publizieren kann. U.a. lese ich die
deutschsprachige Newsgruppe de.sci.philosophie mäßig aber regelmäßig mit
und beteilige mich an den Diskussionen, wenn das ein oder andere Thema mein
Interesse findet.
Im November 2001 stellte jemand die Frage nach
weitergehenden Informationen zur philosophischen Denkrichtung des sogenannten
radikalen Konstruktivismus. Hierzu muss man wissen, dass es in
de.sci.philosophie kein ungewöhnlicher Vorgang ist, sonderen etwas
alltägliches, wenn nach Infos und Meinungen zu diversen philosophischen
Richtungen gefragt wird. Jedoch meldete sich daraufhin ein Poster namens Franz
Schmid, der behauptete, dass er eines der stichhaltigsten Argumente, um den
radikalen Konstruktivismus zu widerlegen, in der "Philosophie der Freiheit" von
Rudolf Steiner gefunden habe. Dies weckte meinen Widerspruch, nicht etwa weil
ich vielleicht Konstruktivist bin, sondern weil ich weiss, dass der radikale
Konstruktivismus in die Zeit des 20. Jahrhunderts und weit nach den 2. Weltkrieg
gehört, historisch also erheblich jünger ist als die Publikationen Rudolf
Steiners. Ein dort eventuell vorhandenes "Argument" kann also wohl gegen den
Konstruktivismus sprechen, es kann jedoch von Steiner nicht "gegen den
Konstruktivismus gemeint" gewesen sein. Beiden gemeinsam sind jedoch "Bezüge"
zum Philosophen Immanuel Kant. Um dieses klarzustellen, stieg ich in diese
Diskussion ein, in deren Verlauf über hundert Beiträge in diversen Haupt- und
Seitensträngen (sog. Threads) gepostet wurden.
Unter anderem sah ich mich veranlasst, die Standpunkte von Franz Schmid und
dem bald hinzugekommenen Reinhard Wolff zu kritisieren, die in der
Anthroposophie Rudolf Steiners - verkürzt formuliert - ein System zur
wissenschaftlichen Erkenntnis sehen, das - neben vielem anderen - eben auch die
Basis für die Waldorfpädagogik liefert. Meine Kritik gipfelte in einem langen
Posting mit dem Betreff "Anthroposophiekritik", in dem ich unter Rückgriff auf
zahlreiche Literaturquellen die Anthroposophie als eine gefährliche Ideologie
oder zumindest zweifelhafte Weltanschauung zu demaskieren versuche, die dem Anspruch der
Wissenschaftlichkeit in keiner Weise gerecht wird. Dieses Posting, das übrigens
bis heute nicht beantwortet wurde, bildet den Ausgangspunkt und
eigentlichen Kern des folgenden Aufsatzes. Es kann unter der Message-ID, bzw.
der Beitrags-Kennung 3BF9623C.A70D8C1C@xpertnet.de im Originaltext über
die erweiterte Maske der Suchmaschine
Google Groups gefunden werden.
Ich hatte einen großen Teil dieses Aufsatzes - zumindest "im Kopf" - schon
fertig, als mich Freimann, einer der Mitgründer von Solidinfo e.V. und ebenfalls
Poster in de.sci.philosophie, im Dezember 2001 danach fragte, etwas zu
seinem Publikationsvorhaben zum Thema "Kinder in Kulten" beizusteuern. Ich komme
dieser Aufforderung gerne nach, manchmal bewegen sich Dinge eben wie von selbst
aufeinander zu.
Schon bei der Diskussion mit den beiden Anthroposophie-Sympathisanten in der Newsgruppe und bei der Abfassung des langen
Postings wurde ich auf eigentümliche Art und Weise mit einem Teil meiner
Vergangenheit konfrontiert, den ich schon hinter mir gelassen zu haben glaubte. Ich erkläre hiermit explizit, dass ich weder ein
Anthroposoph bin noch war, ich stand aber über mehrere Jahre hindurch in
beruflichen Bezügen zu anthroposophischen oder der Anthroposophie nahestehenden
Einrichtungen. In diesen Einrichtungen habe ich auch Menschen kennengelernt, die
der Anthroposophie ebenfalls kritisch gegenüber stehen, und in einem
gewissen Sinne unter ihr litten, bzw. leiden. Von einem allgemeinen "Glaubenszwang" kann
allerdings keine Rede sein, die Verhältnisse sind - je nach Einrichtung - ungleich komplizierter. Zum
Zweck der aktiven Auseinandersetzung habe ich in dieser Zeit einige der
Publikationen Rudolf Steiners zur Gänze gelesen - u.a. sein designiertes
Hauptwerk, die "Philosophie der Freiheit" - und kenne andere in Auszügen.
Damit Sie nachvollziehen können, wer dies schreibt, und da Überzeugungen auch
immer mit Lebenswegen zu tun haben, sei hier der Vollständigkeit halber erwähnt,
dass ich aus einem Elternhaus praktizierender Katholiken stamme und im Alter von
etwa 16 als "pubertierender jugendlicher Sinnsucher" einen kurzen "Flirt" mit
der Sekte der transzendentalen Meditation (TM) des Gurus Maharishi Mahesh Yogi
hatte sowie eine noch kürzere Begegnung mit der "Divine Light Mission" des Gurus
Maharaj Ji. Ich, aktuell 44 Jahre, habe eine wissenschaftliche Ausbildung mit
Diplom und Promotion im Fachbereich "Angewandte Physik/ Biophysik"
absolviert und
bin heute als Referent für "Neue Medien" im Bildungswesen tätig.
Weiteres zu Person und Beruf finden Sie in der Rubrik
Autoren.
Dieser Aufsatz läßt sich auch als konstruktiv-kritisches und aktives
Bekenntnis zu dem auffassen, was wir sonst "Freiheitlich-demokratische
Grundordnung" nennen. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass eine solche vom
konstruktiven Konflikt lebt und - einmal eingerichtet - nicht von allein
existieren kann, sondern der permanenten Pflege und Weiterentwicklung durch
handelnde Menschen bedarf.
Es kann berechtigterweise gefragt werden, warum jemand der Anthroposophie
überhaupt Aufmerksamkeit schenkt, wenn er nichts von ihr hält, warum sie dann
überhaupt erwähnen, und sei es in einer Kritik? Meine Antwort auf eine solche
Frage ist einfach: Angesichts der unlängst publizierten und vielerorts als
schlimm kommentierten Resultate der PISA-Studie wird neben der Kritik an unserem
staatlich organisierten Schulsystem auch wieder die Frage nach sogenannten
alternativen Lernmethoden und Lernformen laut, für die die auf der
Anthroposophie basierende Waldorfpädagogik schon seit langem Antworten
bereithält, deren Voraussetzungen und deren Qualität hier zur Diskussion stehen. Sich angesichts der PISA-Studie und 440 Waldorf-Kindergärten sowie
insgesamt 180 Waldorfschulen in Deutschland - weltweit sind dies übrigens 770
Schulen mit einem Wachstum von seit 1999 pro Jahr etwa 25 neuen Schulen (www.waldorfnet.de)-
nicht mit Anthroposophie und Waldorfpädagogik auseinanderzusetzen, hieße, die
Augen vor der Realität verschließen. Verstehen Sie daher bitte den Aufsatz als
eine Handlung im oben genannten Sinne.
Neben Faktischem im Text enthaltene Polemik ist beabsichtigt und als solche
deutlich herauszulesen.
Zur Sache:
Sie finden Hyperlinks zu Quellenangaben immer am Ende des auf die Quelle
bezugnehmenden Satzes oder Absatzes als Ziffern in eckigen Klammern []. Fußnoten
sind mit einem Stern versehen und rund geklammert (*), Zitate sind eingerückt. Desweiteren
habe ich mich bemüht, dort wo es notwendig ist, Fachausdrücke und philosophische
Zusammenhänge auch für die Nicht-Fachleser so verständlich wie möglich
darzustellen, bzw. zu erläutern.
Einleitung und philosophisches Vorspiel
Ich darf Sie als Einstieg ins Thema zunächst bitten, mir auf einen kleinen
Schlenker in die Philosophie zu folgen.
Der radikale Konstruktivismus, für den einer der Poster bei Steiner ein
Gegenargument gefunden haben wollte, nimmt als philosophische Denkrichtung die
Prozesse des Beobachtens und Erkennens selbst zum Thema und eben nicht nur den
Gegenstand der Erkenntnis. Er fußt im Grunde auf dem Werk von Immanuel Kant, dem
großen Philosophen der Aufklärung, der auch den philosophisch weniger
Interessierten durch seinen "kategorischen Imperativ" bekannt ist: "Handle so,
dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne." Das grundlegende Selbstverständnis der modernen
Demokratien ist u.a. von diesem Satz beeinflußt.
Hierzu muss man wissen, dass das Philosophieren der Neuzeit im Prinzip etwas
anderes ist, als das Philosophieren in der Antike bei den alten Griechen. Bei
denen bestand Philosophie, also die Liebe zur Weisheit, im wesentlichen darin,
über die Welt nachzudenken und Erkenntnisse über sie zu gewinnen. Seit René
Descartes, man erinnere sich an sein berühmtes "Ich denke, also bin ich", und
spätestens seit Kant hat die Philosophie aber das erkennende mit Bewußtsein
ausgestattete menschliche Subjekt, das Erkennen und das Denken selbst zum Thema.
Man spricht von Bewußtseinsphilosophie oder - seit Kant - von
Reflexionsphilosophie. Das heißt aber, dass gerade wenn man speziell die
wissenschaftliche Erkenntnis zum Thema machen will, man an Kant nicht so einfach
vorbeikommt. Natürlich kann man Kant kritisieren, oder versuchen, seinem Werk
etwas hinzuzufügen oder modifizierte Ansichten zum Besten zu geben, aber vorbei kommt man an ihm nicht,
wenn man - wie ja auch die Anthroposophen - ernsthaft Erkenntnisphilosophie
betreiben will.
Der Physiker Heinz von Foerster, der allgemein als
Begründer oder Erfinder des radikalen Konstruktivismus gilt - er selbst sieht
das anders - legt den Fokus etwas mehr auf den Einzelnen und seine direkten
Beziehungen zu seiner Mitwelt und erweitert die Philosophie um seinen ethischen
Imperativ: "Handle stets so, dass die Zahl der Wahlmöglichkeiten größer wird." [1]
Wahlmöglichkeiten für Dich und Andere, ist man hier spontan versucht,
hinzuzufügen. Eben dieser Imperativ und die Aussagen des Konstruktivismus, dass
wir selbst es sind, die durch unsere Wahrnehmungen und Handlungen Wirklichkeit
konstruieren, sind der Grund dafür, warum der Konstruktivismus in der
zeitgenössischen Pädagogik der westlichen Gesellschaften solche Popularität
genießt, soll doch unser Bildungssystem darauf abzielen, unseren Kindern ein
Maximum an Wahlmöglichkeiten, an Optionen für die Zukunft zu bieten.
Selbstverständlich läßt sich auch berechtigte und fundierte Kritik an der
konstruktivistischen Weltsicht anführen, bzgl. des ethischen Imperativs als
Anspruch oder Leitlinie für ein Bildungssystem kann ich das jedoch aus voller
Überzeugung unterschreiben, allein die Wirklichkeit sieht anders aus ....
Ob jedoch die durch Anthroposophie geprägte Waldorfpädagogik eine Alternative
zu diesem Anspruch ist, darf definitiv bezweifelt werden.
"Steine" des Anstosses
"Wo genau ist dieses Argument (Anm. J. Paul: gegen den Konstruktivismus) und
wie lautet es?" Meines Erachtens fußt der Konstruktivismus im Grunde sehr stark
auf Kant, seiner Transzendentalphilosophie und der damit verbundenen Einführung
des Subjekts in den Erkenntnisprozess. Steiner und die Anthroposophie sind
jedoch im Kern zutiefst "vorkantisch". Mir ist zumindest kein Anthroposoph
bekannt, der Kant auch nur im Ansatz verstanden hätte. Der ist denen zu
"ahrimanisch" (Anm. J. Paul: hierzu später mehr ...). Insofern repräsentiert die
Anthroposophie eine Art "vulgäridealistische Rückwärtsorientierung" in den
vorkantischen Teil unserer Geistesgeschichte. Deutliches Indiz für diese
"fundamentalistische Starre" ist darüber hinaus, dass kein Anthroposoph den
"Erkenntnissen des Meisters" auch nur ein Jota hinzugefügt hat. Vom Standpunkt
einer fortschreitenden Bewußtseinsgeschichte des Menschen aus betrachtet ist
Steiner samt seiner Anthroposophie völlig indiskutabel." (Hinzufügungen und
erläuternde Kommentare zum Originaltext des Postings in runden Klammern.)
Mit diesen zugegeben recht provokanten Worten, die
sich nur auf die Anthroposophie und nicht auf Waldorfpädagogik bezogen, stieg
ich am 02.11.2001 in die oben genannte Diskussion ein. Man warf mir zunächst
"Unfähigkeit zu diskutieren" (Schmid) vor, da mein Urteil ja schon von
vornherein feststehe. Nachdem deutlich gemacht werden konnte, dass es nicht
strafbar ist, schon eine Meinung zu haben, kam dann eben die Diskussion
zustande, in deren Verlauf ich zur Untermauerung meiner Thesen insbesondere
bzgl. des Verhältnisses der Anthroposophie zu Kant den mit der
Anthroposophie hart ins Gericht gehenden Aufsatz des Pädagogen Heiner Ullrich
"Wissenschaft als rationalisierte Mystik. Eine problemgeschichtliche
Untersuchung der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Anthroposophie" [2]
argumentativ ins Feld führte.
"Auf Heiner Ullrich gehe ich hier nicht ein. Der ist völlig und gründlich
abgehandelt von Ravagli in »Waldorfpädagogik in der Diskussion«, Stuttgart
1990, also NACH Ullrichs Veröffentlichung."
Als wenn dieses zeitliche "nach" schon Grund
genug für die Richtigkeit der genannten Antwort von Ravagli sei,
antwortete mir Reinhard Wolff am 9.11.2001 mit der hier zitierten Entgegnung,
dass Heiner Ullrich durch Lorenzo Ravagli bereits abgehandelt sei, und zwar
genauer durch eine Replik Ravaglis zu Ullrich mit dem Titel "Geistesgeschichte
als Archäologie der Worte, Heiner Ullrichs exemplarisches Scheitern an der
Anthroposophie" [3]. Für mich war dies der Anlass, mir beide
Aufsätze und weitere Quellen noch einmal vorzunehmen. Es ist hierbei Herrn Wolff
zu danken und anzurechnen, dass er mir eine elektronische Version des Artikels von Ravagli zur
Verfügung stellte. Er mahnte bei mir - zu Recht, wie ich gern einräumen will - das "Aufholen in der
zeitgenössischen Debatte" an.
Bei meinen folgenden Recherchen stieß ich dann auf
einen anderen Beitrag zum Thema, der die bereits genannten von Heiner Ulrich und
Lorenzo Ravagli beide zitiert und zudem den 1993er Sachstand der Debatte, quasi
als Innehalten und Zurückblicken auf das bereits Gesagte, aufarbeitet,
"Waldorfpädagogik in der Diskussion/ Ein Überblick über neuere
Veröffentlichungen" von Hans Scheuerl [4]. Hierzu ist
anzumerken, dass Prof. Dr. Hans Scheuerl als in Deutschland einflussreicher
Pädagoge gilt und von 1968 bis 1972 Vorsitzender der wichtigsten
erziehungswissenschaftlichen Gesellschaft in der BRD war. Solcherart
zusammenfassendes Festhalten der Diskussionsinhalte wird allgemein in allen
Wissenschaften als guter Stil bezeichnet, ist für den oder die Autoren aber meist
mühsam und eine Fleissarbeit.
In einem eher vermittelnd-sachlichen Stil schildert Scheuerl in seinem Aufsatz zunächst den
aktuellen 1993er Status Quo der Diskussion um Waldorfschulen und
Waldorfpädagogik und zeichnet grob die Motivation der Kontrahenden nach vor dem
Hintergrund einer stetig wachsenden Zahl der Waldorfschulen vor allem im Osten
der Republik, bedingt durch die Wiedervereinigung.
"In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung lassen sich seit einiger Zeit
schärfere polemische Zuspitzungen beobachten: Galt es für WILHELM (Anm. J.
Paul: Theodor Wilhelm, ein in den 60ern einflussreicherPädagoge) noch als
"unbillig", die anthroposophischen Hintergründe zum Maßstab pädagogischer
Urteile zu machen, so will einer jüngeren, an "Ideologiekritik" gewöhnten
Erziehungswissenschaftler-Generation teilweise gerade die Ausklammerung
solcher Grund- und Letztfragen eher als zu "billig" erscheinen. Die
Waldorfianer sehen sich dabei mißverstanden und finden ihren Ansatz polemisch
verzerrt. Drei Erziehungswissenschaftler haben es ihnen besonders angetan:
HEINER ULLRICH, KLAUS PRANGE und ALFRED K. TREML." [4]
Scheuerl legt den Zeigefinger also deutlich auf die Zunahme des Polemischen
und interpretiert dies als Folge einer Verschiebung des Diskussionsschwerpunktes
hin zu den anthroposophischen Hintergründen der Waldorf-Praxis. Darüber hinaus
ist festzuhalten, dass die drei von ihm genannten Kritiker eine weit über das
Pädagogische hinausgehende Sachkenntnis besitzen und eben auch auf dem Boden der
Philosophie fundiert zu argumentieren wissen.
Argumentativ-Stilistisches: Anthroposophische Knieschüsse
Am Beispiel einer in "KRANICH/RAVAGLI (Hrsg.): Waldorfpädagogik in der
Diskussion." enthaltenen Kritik des Anthroposophen Kranich an dem Kritiker
Prange benennt Scheuerl eine Taktik des Argumentierens, die andernorts auch bei
Ravagli
häufiger gefunden werden kann.
"Die Intention dieser Gegenkritik leuchtet ein. Angesichts der
Weitläufigkeit von Hinterlassenschaft lassen sich zu den meisten
STEINER-Zitaten leicht relativierende Gegenzitate finden, so daß jeder
Kritiker unvollständiger STEINER-Lektüre überführt werden kann. Und je nach
Lage kann ihm das Einzigartige, von gängigen Zeitvorstellungen Abweichende
oder aber das Analoge, Gleichklingende entgegengehalten werden." [4]
Diese 'leicht-relativierenden' Gegenzitate sind vor allem im Kontext der
gerade in den letzten Jahren laut gewordenen Vorwürfe der Rassismus-Aussagen
Steiners als Argumentationstaktik häufiger bemüht worden.
Was den anthroposophisch motivierten Verteidigern dabei allerdings zu entgehen
scheint, ist
Folgendes: Es werden - um den Preis des Unbelesenheitsvorwurfs für den Gegner -
dadurch elegante Knieschüsse produziert, dass man zu Verteidigungszwecken das
wohl von vielen Anthroposophen als "philosophisch-esoterischer Weltentwurf"
empfundene Gesamtwerk des Meisters zu einem Sammelsurium von Versatzstücken
herabargumentiert, aus dem beliebige zu allen möglichen Situationen passende
Aussagen extrahiert werden können.
Hiergegen ist einzuwenden: Entweder man akzeptiert Aussagen im
Gesamtwerk eines Menschen mit
wissenschaftlichem Anspruch als das was sie sind, als Statements, als
Positionen, und zwar auch dann wenn sie widersprüchlich sind - was nebenbei
bemerkt so etwas wie "Menschlichkeit" auch unterstreichen kann -, oder man
nimmt sie im Angesicht eines speziellen Argumentationsbedarfs für absolut. Sieht man diese
verschiedenen Argumentationsbedürfnisse oder -Anlässe dann einmal im Zusammenhang,
produziert das allerdings in der Summe Widersprüchlichkeiten, die das "Gesamtwerk
des Meisters" zu einer Art Aussagenbrei verkommen lassen. Kontrahenden
anthroposophischer Couleur scheinen sich offensichtlich für die zweite Option
entschieden zu haben.
Scheuerl fährt dann eine Seite weiter in seinem Aufsatz fort:
"An Umfang und Schärfe noch gesteigert, richtet sich RAVAGLIS Gegenkritik
dann auf ULLRICH (S. 60-238): Dieser habe seine "Inkompetenz" bereits durch den
methodischen Mißgriff" bewiesen, "daß er sich in seiner Rezeption der
Anthroposophie weitgehend nicht auf STEINER selbst, Sondern auf
anthroposophische Sekundärliteratur" gestützt habe (S. 77). Innerhalb dieser
Sekundärliteratur finden sich Waldorf-Kollegen, deren Diskussionsäußerungen
RAVAGLI entschieden mißbilligt .... " [4]
Man muss sich das mal vorstellen, das heißt, Kritik ist bitteschön wenn
notwendig, dann nur auf Steiner selbst, nicht aber auf seine anthroposophischen
Interpreten zu beziehen.
Na, das riecht dann aber schon doch nach so etwas wie einer "reinen
Lehre", oder? Im Vordergrund einer der Kritikpunkte Ravaglis an Ullrich
steht die Herabwürdigung von Autoren aus den eigenen Reihen, auf die
kann man sich doch nicht berufen! Und der methodische Mißgriff, solche
'unsauberen' Quellen zu verwenden, liegt, man höre und staune,
bei Ullrich!
Ein Schelm, der Böses dabei denkt ...
Der Zauber der fundamentalistischen Selbstbegründung
Auf Seite 65 der Kranich/Ravagli-Publikation heisst es im Aufsatz von
Ravagli:
"Wenn die Anthroposophie eines hermeneutischen Zugriffs (*1) bedürfte, der
ausserhalb ihrer entspränge, dann würde ihre Kohärenz (*2) mit Recht in Frage
gestellt. Die Anthroposophie legt sich aber selbst aus, da sie einem
sich selbst verstehenden Erkennen entspringt, ja, sie ist die einzige
Form des wissenschaftlichen Erkennens, die sich selbst auszulegen
vermag, da sie in all ihren Einzelergebnissen auf ihren Ursprung der
Selbstverständigung des Erkennens bezogen bleibt." [3]
Halten wir hier als erstes für später fest, ".... dann würde ihre Kohärenz
mit Recht in Frage gestellt. Die Anthroposophie legt sich aber selbst
aus,...", also: die Anthroposophie erhebt für sich den Anspruch der Kohärenz.
-> Aussage A
Zu exakt dieser Textpassage meint Scheuerl:
"RAVAGLIs Tendenz und Konsequenz also: eine Art von fundamentalistischer
Abschottung von der gegenwärtigen "Scientific Community - durch Rückgang
allein auf STEINERS "geheimwissenschaftliche" Einsichten') Ich muß
bekennen, daß mir erst bei diesen Passagen RAVAGLIs der Sinn dessen
vollends deutlich geworden ist, was ULLRICH mit seiner zunächst nur
salopp klingenden Formel von der "ver-steiner-ten Reformpädagogik"
gemeint hat." [4]
Mit der ver-steiner-ten Reformpädagogik bezieht sich Scheuerl auf einen
Ausdruck aus einem früheren Aufsatz Ullrichs. Die Absicht hinter
Ravaglis Argument ist aber klar:
Die Anthroposophie braucht keinen auslegenden, keinen
hermeneutischen Zugriff von aussen, ein solcher muss zwangsläufig
fehlgreifen, da die interpretierende Kompetenz ausserhalb der
Anthroposophie nicht gegeben ist. Man nennt so etwas auch einen "Zirkel der
Selbstbegründung", etwas laxer auch
by-his-bootstraps-Argument oder
Münchhausen'sche-aus-dem-Sumpf-Schleife genannt.
Nebenbei lässt sich anmerken, das dieses Verfahren in unserer
Bewusstseins- und Religionsgeschichte durchaus seine Anwendungen hatte.
So vereinigt sich z.B. die Sönnengöttin Amaterasu mit ihrem Sohn, dem
frisch inthronisierten Tenno in einem rituellen Geschlechtsakt. Durch
diesen symbolisch-religiösen Inzest begründet sich das Volk Japans
rituell selbst.
Dies ist allerdings nur ein Beispiel. In der Menschheitsgeschichte gibt's
massenhaft davon, die in der Entwicklung unseres Bewusstseins historisch
unbedingt ihren Sinn haben.
Was das allerdings mit einer modernen Philosophie mit wissenschaftlichem
Anspruch zu tun haben soll - denn soviel muss festgehalten werden,
'wissenschaftlich' ist in diesem Kontext seit der Aufklärung
gleichbedeutend mit 'säkular', mit 'verweltlicht' -, oder mehr, mit einer von Steiner
intendierten "Erweiterung" des Wissenschaftlichen überhaupt,
wird auch von Ravagli nicht deutlich gesagt. Wen wundert's?
Exkurs in anthroposophischer Logik
Zunächst sei zur Erinnerung die oben als Aussage A zum besten
gegebene Ravagli-Passage wiederholt, weil's so schön war:
"Wenn die Anthroposophie eines hermeneutischen Zugriffs bedürfte, der
ausserhalb ihrer entspränge, dann würde ihre Kohärenz mit Recht in Frage
gestellt. Die Anthroposophie legt sich aber selbst aus, da sie einem
sich selbst verstehenden Erkennen entspringt, ja, ..... " [3] usw. usw.
Nur ein paar Seiten weiter will Ravagli Ullrichs Methodenansatz in vier
Punkten zerpflücken und macht im ersten Punkt folgende Äusserung:
"1. Systemanspruch und Inkohärenzproblem. Zunächst sieht er
(gemeint ist Ullrich, Anm., J.Paul) sich bemüßigt,
eine Behauptung zu widerlegen, die entgegen seiner
Unterstellung weder von Steiner selbst noch von seinen Schülern
(sofern sie über ein Mindestmaß an kritischem Bewußtsein verfügten)
aufgestellt worden ist: daß die Anthroposophie ein einheitlich
systematisiertes, "widerspruchsfreies Gedankengebäude" darstelle.
Vielmehr unterlägen Steiners Auffassungen Wandlungen, sei seine
geistige Entwicklung von Brüchen und Neueinsätzen gekennzeichnet." [3]
Oops, was ist denn da passiert? Zunächst sähe Ullrich sich bemüßigt
eine unzutreffende Behauptung zu unterstellen, die aber nie von
Steiner und seinen Epigonen aufgestellt worden ist, und jetzt drückt
er (Ravagli) sich schwammig aus, dass die Anthroposophie eben kein einheitlich
systematisiertes "widerspruchsfreies Gedankengebäude" sei.
Ohne das jetzt hier vertiefen zu wollen, haben wir es mit zwei Aussagen
zu tun:
Aussage A: Die Anthroposophie erhebt für sich den Anspruch der Kohärenz.
Aussage B: Die Anthroposophie erhebt für sich den Anspruch der Kohärenz
nicht.
Nach den gängigen Regeln der Logik kann nur eine der Aussagen wahr sein.
Es gibt jedoch eine Ausnahme, für den Fall, dass die Statements in
unterschiedlichen Kontexten gelten sollen, denn wie der US-Mathematiker
und Logiker Keith Devlin in seinem feinen Buch 'Goodby Descartes'
feststellt, gilt:
"Everything that we do is done in, and influenced by,
a context."
[5]
Also: "Alles, was wir tun, wird in einem getan und von einem beeinflusst,
einem Kontext."
Sollten die Aussagen A und B in unterschiedlichen Kontexten gelten,
muss aber sofort konstatiert werden, dass dann die über Aussage A
postulierte Geschlossenheit und Einheitlichkeit aufgegeben ist.
Womit die Existenz des Widerspruchs erwiesen ist: q.e.d.
Ravagli seien hier zur Therapie logische Hausaufgaben mit Alfred
Tarski's Einführung in die mathematische Logik anempfohlen.
Im Anschluß daran eiert Ravagli noch ein wenig mit Hegel herum
und spielt erschreckend undialektisch mit den Begriffen von Form und
Inhalt.
Wenig später im Text heisst es:
"Angesichts der in sich geschlossenen und zugleich in sich offenen
Gestalt der angedeuteten Grundintuition erscheint die Vorstellung,
Anthroposophie sei ein "einheitlich systematisiertes, widerspruchsfreies
Gedankengebäude", merkwürdig schal, ja ledern. Anthroposophie ist kein
Gebäude von Gedanken, sondern ein Gefüge von Methoden, die ähnlich wie
die ontologischen Seinsschichten ineinander in lebendigem Widerspruch
verschränkt sind. Genauso wie der Vorwurf gegenüber der lebendigen
Wirklichkeit, sie vermeide es nicht, sich selbst zu widersprechen, nur
absurd erscheinen kann, muß diesem Methodengefüge gegenüber der Vorwurf
absurd erscheinen, die einzelnen, in ihm vereinigten Methoden hätten
versäumt, ihre Differenzen aufzuheben. Das Wahre ist in der Tat das
Ganze: aber nicht das Ganze als Inhaltstotalität, sondern das Ganze als
die Form des menschlichen Erkennens, die sich in den einzelnen
Wissenschaften oder Lebensgebieten zu jener Vielfalt von Einblicken
verspiegelt, die erst die Fülle der Totalität sichtbar werden lassen." [3]
Anthroposophie ist also, erfahren wir, "kein Gebäude von Gedanken, sondern
ein Gefüge von Methoden, die ähnlich wie die ontologischen Seinsschichten
ineinander in lebendigem Widerspruch verschränkt sind." Dem aufmerksamen Leser
sollte nicht entgangen sein, dass hiermit der bislang hochgehaltene Anspruch von
Wissenschaftlichkeit de facto schon aufgegeben ist.
Andernfalls müsste nämlich exakt in der Sprache der Logik zu thematisieren
sein, was man unter einer "Verschränkung von Methoden in lebendigem Widerspruch"
zu verstehen habe. Das ist meines Erachtens noch nicht einmal dialektisch. Es
ist Schwampf.
Im letzten Drittel seines Aufsatzes fasst Ravagli ganz passabel die
wesentlichen Kritikpunkte Ullrichs an der Anthroposophie aus dessen
Aufsatz "Wissenschaft als
rationalisierte Mystik. Eine problemgeschichtliche Untersuchung der
erkenntnistheoretischen Grundlagen der Anthroposophie" zusammen:
"Steiner erhebe nur scheinbar den Anspruch der Voraussetzungslosigkeit: in
Wahrheit sei sein Stil des Philosophierens "ganz und gar von spekulativer
Metaphysik durchwaltet". Er lege in seiner Philosophie eine "pantheistische
Ontologie, Kosmologie, Anthropologie und Ethik" dar. Zu seinen metaphysischen
Voraussetzungen könne man nicht "induktiv gelangen", sondern nur durch
Glaubensvoraussetzungen. Steiner liefere keine voraussetzungslose
Erkenntnistheorie, sondern eine "spekulative Deduktion aus dogmatischer
Metaphysik". Verglichen mit den "Denkgewohnheiten der damaligen Zeit" stelle
Steiners Denken wegen seines "naiven Realismus" und seiner deduktiven Dogmatik,
etwa gegenüber Hartmanns "induktiver Metaphysik", eine "erstaunliche Rückbildung
des Philosophierens" dar. Genau besehen sei Steiners Philosophie ein "gänzlicher
Anachronismus", ein "diskreter Rückfall in die vorneuzeitliche
philosophisch-mystische Spekulation"." [3]
In der Folge schildert Ravagli Ullrichs argumentativen Exkurs zum
Neuplatonismus des Philosophen Plotin, um dann mit der Wiedergabe der Kritik Ullrichs
an Steiner fortzufahren:
"Ja, es sei sogar kein Unterschied zwischen dem Stufenweg des Erkennens zu
sehen, wie Plotin und wie Steiner ihn verstehen, denn Steiner habe lediglich die
dritte und die vierte plotinische Stufe in eine zusammengefaßt. (Die vier
plotinischen Stufen sind nach Ullrich (1) sinnliches Erkennen, (2) diskursives,
mathematisches Erkennen, (3) unmittelbare, intuitive Ideenschau und (4)
ekstatische, überrationale Vereinigung mit dem Urgrund). Steiner stehe, so
Ullrich, mit seiner Auffassung des Philosophierens jenseits der Neuzeit. Zwar
hätten auch andere Philosophen aus dem Neuplatonismus geschöpft (so etwa
Paracelsus, Böhme, Bruno, Spinoza, Goethe, Schelling und Schopenhauer), aber sie
hätten es jeweils auf der Höhe ihrer Zeit getan, vom Standpunkt der damaligen
Entwicklung der Reflexion, während "Steiners Haltung zum Neuplatonismus" nicht
"durch das klare Bewußtsein unüberbrückbarer geschichtlicher Distanz
gekennzeichnet ist. "Steiner identifiziere sich vielmehr mit einer
Weltanschauung, die seiner "eigenen mystischen Grundhaltung Ausdruck zu geben
vermag". " [3]
Und ein weiterer folgender Absatz beschäftigt sich mit Ullrichs Kritik an Steiners
Verständnis des Idealismus:
"Diese fehlende Distanz und unkritische Identifikation mit einem längst
überholten Verständnis von Philosophie zeige auch Steiners Idealismusbegriff. Er
glaube, daß das Denken als Denkinhalt ein objektives, metaphysisches Wesen, der
Weltgrund sei, mit dem sich der Mensch im Erleben des Denkens vereinigen könne.
Diese Form des Idealismus sei vom "neuzeitlichen Idealismus" grundverschieden.
Wenn Steiner das Denken als metaphysischen Prozeß auffasse, dann stehe er in
krassem Widerspruch "zum modernen Ansatz des selbständigen Philosophierens seit
Descartes". Statt von der unmittelbaren Gewißheit des cogito ergo sum und der
Trennung von Sein und Bewußtsein auszugehen, sei für ihn das Ich des Menschen
ein "Geistesauge, das ein objektives Weltwesen tätig zur Erscheinung bringt".
Wenn Steiner die "Substantialität der Individuen" fallen lasse, das Ich als
Emanation des Weltgrundes auffasse, in dem wie in einem "Spiegel" sich das
Höchste in den aus ihm hervorgeströmten Ideen selbst anschaue, dann falle er
"dogmatisch hinter den Idealismus der neuzeitlichen Subjektphilosophie zurück".
Deshalb könne er den erkenntniskritischen Grundsatz, daß es kein Objekt ohne
Subjekt gebe, und daß es das Bewußtsein nur mit seinen eigenen Vorstellungen zu
tun habe, nicht anerkennen. Zudem verfalle Steiner dem "vorneuzeitlichen
dogmatischen Universalienrealismus". Wenn Steiner von der subjektiven
Wirklichkeit der erlebten Ideen-Bilder auf deren objektive Realität jenseits des
Subjekts schließe, dann unterstelle er möglicherweise subjektiven Trugbildern
Wirklichkeitscharakter. Die Gefahr, subjektiven Trugbildern zu verfallen, könne
nur umgangen werden, wenn man ausschließlich Begriffe verwende, "zu deren
Anschauung jedermann in verläßlich nachprüfbarer Weise gelangen kann". Der
"extreme Universalienrealismus", den Steiner vertrete, sei schon im
Universalienstreit des Mittelalters "verabschiedet" worden." [3]
Als nächstes rezitiert Ravagli Ullrichs Kritik an Steiners Begriff der
intellektuellen Anschauung:
"Auch Steiners Verständnis der intellektuellen Anschauung sei Dokument einer
unkritischen Verfehlung. Während Kant dargelegt habe, daß der Begriff der
intellektuellen Anschauung lediglich ein Grenzbegriff sei, weil der Intellekt
keine eigenständigen Objekte besitze, die er anschauen könne, Schelling und
Schopenhauer intellektuelle Anschauung als "künstlerischen Prozeß der
Ideenerfassung" verstanden hätten, meine Steiner, daß diese "Form der
willenlosen, die Individuation momentweise aufhebenden Anschauung der Ideen" als
Selbstbeobachtung des Denkens "für jedermann" zugänglich sei. Für die Romantiker
sei die intellektuelle Anschauung ein Vorgang der Begnadung, für Steiner sei,
weil er ja die dritte und die vierte Stufe des plotinischen Erkenntniswegs in
eins setze, Ideenschau und ekstatische unio mystica dasselbe. Dadurch verletze
er aber auch alle normativen Standards der Mystik, denn während Mystik "im
hergebrachten Sinn" "Selbstaufgabe in die Unsagbarkeit des Einen" sei, wolle er
die Mystik rationalisieren oder die Anschauung der Ratio zum mystischen Erlebnis
deklarieren." [3]
und abschließend Ullrichs Fazit, eingeleitet von seiner beissenden
Unterstellung, Steiner habe
Philosophie als Weltanschauung missverstanden und am Erkenntnisprogramm
Kants vorbeigegriffen:
"Zuletzt aber entarte Steiners Philosophieren soweit, daß es ihn dazu
verführe, Wissenschaft als "Welt-Anschauung" mißzuverstehen. Während "spätestens
seit Kant" die Grundfrage der Erkenntnistheorie die nach der "objektiven
Gültigkeit der Erfahrung" und die nach den "Bedingungen für die Gewißheit der
wissenschaftlichen Erkenntnis" sei, gehe Steiners Grundfrage wie bei Plotin nach
der "Bedeutung, dem Ursprung und der Vollendung des Erkennens". Kant gelange
durch den Verfolg seiner Grundfrage zur Einsicht, daß objektiv gültige
Erkenntnis für den Menschen nur im "Rahmen des gegenständlichen Bewußtseins"
möglich sei, und damit zu einer Verabschiedung jeglicher Metaphysik als
wissenschaftlicher Ontologie, Steiner hingegen verdanke seinen "dogmatischen
Glaubensgewißheiten" Einsicht in die Irrtümlichkeit der Voraussetzungen und
Ergebnisse der Kantischen Kritik und sehe für das menschliche Erkennen einen
unmittelbaren Zugang zum Absoluten im Denken des Menschen gegeben. Steiner sei
"nicht in der Lage, das Programm und die strenge Konsequenz der Kantischen
Erkenntniskritik zu ermessen", deshalb habe er auch keinen Zugang zum "modernen
Begriff der Wissenschaft". Da für Steiner Wissenschaft intuitives Erkennen sei,
lasse er sich auch nicht auf die "neuzeitlichen empirisch-experimentellen sowie
historisch-kritischen Einzelwissenschaften ein". Ullrichs fulminante
Wortkaskaden münden in das gänzlich vernichtende Fazit: "Im Gegensatz zur
bewußten methodischen Selbstbegrenzung, zur Pluralität und Unabschließbarkeit
moderner Wissenschaftlichkeit wollen Steiner und seine Schülerschaft das
wohlgeordnete Ganze der Welt gleich einer ewig unwandelbaren Wahrheit dogmatisch
wissen bzw. schauen… Ihre Denkform ist degenerierte Philosophie, ist
Weltanschauung… Den Gefahren eines solchen Denkens … ist Steiner mit der
Herausbildung der anthroposophischen ‹Geheimwissenschaft› gänzlich erlegen. Hier
geht die vorneuzeitliche dogmatisch-metaphysische Spekulation des Neuplatonismus
über in die bewußt remythisierende Weltdeutung der Theosophie… Der mit seiner
Erkenntnistheorie anhebende Auszug Steiners aus der zeitgenössischen Philosophie
gelangt erst damit zu seinem Ende." "[3]
Nach dieser durchaus als präzise zu bezeichnenden Wiedergabe der
Kritikpunkte Ullrichs komme nun, möchte man erwarten, eine Widerlegung
in allen Punkten, zumindest eine Gegenüberstellung der Argumente. Weit
gefehlt.
Ravagli ergeht sich zunächst einleitend in einer Entschuldigung und dann
in Polemik:
"Wollte man all die Mißverständnisse, Vorurteile und Irrtümer in
hermeneutischer, geschichtlicher, systematischer und logischer Hinsicht,
die Ullrichs Studie über die erkenntniswissenschaftliche Grundlegung der
Anthroposophie in sich birgt, beiseiteräumen, man müßte wohl ein ganzes
Buch zur Entgegnung schreiben. Da es aber nicht der Sinn eines Dialogs
sein kann, auf alles und jedes zu antworten, was der andere sagt, sollen
hier einige Motive herausgegriffen werden, die besonders fundamental und
gravierend scheinen. Auch in dieser Entgegnung soll weitgehend die
bisherige Methode einer immanenten Kritik verfolgt werden, die von den
ausgesprochenen Thesen ausgeht und diese nach allen Richtungen
weiterdenkt.
Vorab sei bemerkt, daß die Argumentation Ullrichs von den beiden
Grundmotiven seines Arbeitens durchzogen ist, die uns auch bisher schon
begegnet sind: der geistesgeschichtlichen Archäologie im Stile eines
kryptologischen Wissenschaftsjournalismus und der verbissenen Katechetik
der Modernität. Auch in seiner jüngsten Studie spürt Ullrich wieder
kryptische Quellen auf, wie ein Sherlock Holmes der
Philosophiegeschichte, der die bisher übersehenen Spuren im Staub der
Archive mit seiner instinktgeschärften Blickfähigkeit entdeckt. Auch
hier fragt er wie ein scholastischer Inquisitor die Kriterien der
Rationalität ab, die Neuzeitliches von Vorneuzeitlichem und
Wissenschaftliches von Vorwissenschaftlichem scheiden und enthüllt so
nach und nach den normativen Katechismus der Moderne, den erfüllen muß,
wer nicht mit dem Anathem der Unwissenschaftlichkeit belegt werden will.
Wie all seine bisherigen Versuche krankt aber auch dieser daran, daß die
leitenden normativen Gesichtspunkte seiner Untersuchung nichts als
historisch bedingte Vorurteile sind, die den Horizont des Verstehens in
einem Maße verengen, daß sie es am Ende verunmöglichen. So bleibt denn
vom ursprünglichen Anspruch der Hermeneutik nur noch die Kritik übrig.
Wie aber soll man kritisieren, was man nicht verstanden hat?" [3]
Es sei, so Ravagli, kryptologischer Wissenschaftsjournalismus gepaart
mit der verbissenen Katechetik der Moderne und elementarem
Unverständnis, die Ullrichs Kritik letztlich ausmache.
An dieser Stelle mag auch meinerseits noch eine kleine Polemik erlaubt sein. Es ist eben jene
verbissene Katechetik der Moderne, die uns die moderne Wissenschaft und
unsere maschinelle Prothetik beschert hat. Selbstredend muss man das
nicht toll finden, im anthroposophisch-esoterischen Sinn handelt es sich
dabei ja eher um eine
'Ahrimanisierung' (*3) der Welt, die uns vom Ursprünglichen - bzw. dem, was
die
Anthroposophie darunter zu verstehen glaubt, den Beweis ist sie uns noch
schuldig - hinfort führt.
Wie dem auch sei, die Aburteilung von Ullrichs Kritik als 'historisch
bedingtes Vorurteil', soweit ist Ravaglis Text überdeutlich,
konstituiert die Front zwischen Glauben und Wissen, zwischen mystischer
Erkenntnis und dem Wissenschaftsbegriff der Moderne. Auf einer darüber liegenden
Ebene
bestätigt Lorenzo Ravaglis Argumentation exakt Heiner Ullrichs Kritik. Das, was man von
beiden Standpunkten als akzeptiert gelten lassen will, ist für den Leser
nunmehr eine Willensentscheidung. Wobei natürlich derjenige, der zur
Wissenschaftsseite neigt, all die neuzeitlichen technischen Exzerpte
unserer Objektwelt als unterstützende Argumente auf seiner Seite
weiss.
Jedenfalls kann gerade aus diesen Ausführungen nicht konstatiert
werden, dass Ravagli 1990 den Ullrich von 1988 'vollständig abgehandelt'
habe, so wie der Diskussionspartner aus de.sci.philosophie, Reinhard Wolff das verstanden haben will.
Eine solche Aussage muss sich vielmehr den Vorwurf eines neuplatonistischen
Absolutheitsanspruches gefallen lassen. Im Text Ravaglis folgen dann 'klärende'
Absätze zum Verhältnis Steiners zum Philosophen Eduard von Hartmann und zum
Neuplatonismus (mehr hierzu s.u.) und Ullrichs Fehlinterpretation desselben. Zum
Verhältnis Steiners zu Eduard von Hartmann bemerkt Ravagli, dass von Hartmann
ebenso wie Steiner seinerzeit von der Fachphilosophie eher als Outsider gesehen
wurde, spielt also die Bedeutung von Hartmanns, die er, Ravagli im Text Ullrichs
zu sehen gemeint haben will, herunter. Auf die von Ullrich im Nachgang zu
Steiner zitierte elementare inhaltliche Kritik von Hartmanns an Steiners
Philosophieren anhand der "Philosophie der Freiheit" geht Ravagli mit keinem
Wort ein.
"In diesem Buch ist weder HUMEs in sich
absoluter Phänomenalismus (*4) mit dem auf Gott gestützten
Phänomenalismus BERKELEYs versöhnt, noch überhaupt dieser immanente oder
subjektive Phänomenalismus mit dem transzendentalen Panlogismus (*5)
HEGELs, noch auch der HEGELsche Panlogismus mit dem GOETHEschen Individualismus.
Zwischen je zweien dieser Bestandteile gähnt eine unüberbrückbare Kluft. Vor
allen aber ist übersehen, daß der Phänomenalismus mit unausweichlicher
Konsequenz zum Solipsismus (*6), absoluten Illusionismus und
Agnostizismus (*7) führt, und nichts ist getan, diesem Rutsch
in den Abgrund der Unphilosophie vorzubeugen, weil die Gefahr gar nicht erkannt
ist". [2]
Soweit Eduard von Hartmann, deutscher Philosoph (23.2.1842 - 5.6.1906),
über die "Philosophie der Freiheit", das Hauptwerk Steiners.
Beim Themenkomplex "Neuplatonismus" wird's dann nochmal besonders
spaßig.
Lorenzo Ravaglis Abwehrargument zum Vorwurf des Neuplatonismus baut zunächst - oh
wunder! - lediglich darauf auf, dass Steiner bis zur Jahrhundertwende keinen
expliziten Bezug auf den Neuplatonismus nimmt!
"Ullrichs völlig abwegiger Versuch, Steiners Erkenntnistheorie als
Repristination des Neuplatonismus zu decouvrieren, bedarf eines
klärenden Hinweises. Ullrich hebt hervor, daß Steiners "Haltung zum
Neuplatonismus" als "unmittelbare Identifikation" gekennzeichnet werden
könne. Die Frage ist nur, woraus Ullrich seine Kenntnis von Steiners
Haltung zum Neuplatonismus schöpft. Denn im gesamten Schriftwerk vor der
Jahrhundertwende findet sich meines Wissens keine einzige Stelle, an der
Steiner zum Neuplatonismus plotinischer Prägung oder zum Neuplatonismus
überhaupt auch nur andeutungsweise Stellung nimmt. Eine explizite
Haltung Steiners zum Neuplatonismus gibt es vor der Jahrhundertwende
schlichtweg nicht. Jede Aussage über eine solche Haltung Steiners ist
schlichtweg Phantasieprodukt. Als das hat man, wie bereits erwähnt, die
Studie Ullrichs zur philosophischen Grundlegung der Anthroposophie
weitgehend zu betrachten. Um wenigstens den Hauch einer Legitimation zu
besitzen, die erlauben würde, von einem Neuplatonismus Steiners zu
sprechen, müßte durch eine genaue Textanalyse an Steiners
philosophischen Schriften nachgewiesen werden, daß dieser an zentralen
Stellen Philosopheme benutzt, die auch Plotin verwendet. Eine solche
genaue Textanalyse findet sich aber nicht. Was Ullrich als gedrängtes
Referat der Grundgedanken der Noetik Steiners liefert, ist dieser völlig
inadäquat, tendenziös interpretiert und mit Mißverständnissen oder
Entstellungen durchsetzt." [3]
Wollte man nun schofel argumentieren, liesse sich konstatieren, dass es
ja auch keinen Sinn macht, expliziten Bezug auf etwas zu nehmen, bei dem
man sich strukturell abschreibenderweise bedient hat. Ein solcher
Vorwurf an Steiner wäre jedoch in der Tat zu einfach. Es scheint m.E.
vielmehr so, dass, will ich der Philosophie der Moderne ausweichen, es
eben - bezogen auf das Abendland - strukturell nicht mehr allzuviele
Möglichkeiten gibt. Und eine der
schillernsten ist die des Neuplatonismus, auf die man ganz zwangsläufig
gerät, wenn man einen Hang dazu entwickelt hat, mystische Erfahrung mit
philosophischen Denkansätzen zu verbandeln. Wer dann noch in der Weise
wie o.g. an Kant 'vorbeidenkt', locht seine Philosophie fast automatisch
beim Neuplatonismus ein. Dazu muss man ihn nicht explizit zitieren.
Aber etwas anderes scheint mir hier bemerkenswert, äußert sich in
Ravaglis Argumentation nicht eine prinzipielle Schwäche der
Anthroposophie im Umgang Argumenten, die auf Struktureigenschaften bezogen sind? Der Neuplatonismus hatte dieselbe Schwäche ....
Diese resultiert in der vergleichsweise einfachen pyramidalen Struktur der Ideen sowie in den
hierarchischen Schichtungen (des Steiner'schen Menschenbildes). Wie dem auch sei, an der Stelle ist es
sicher sinnvoll, mal etwas genauer zu
schauen, was denn so unter Neuplatonismus eigentlich verstanden wird.
Hierzu sagt Kröner's Philosophisches Wörterbuch:
"Neuplatonismus, die in vielen und mannigfaltigen Arten von der Mitte des
3. bis zur Mitte des 6. Jh.n.Chr. auftretende letzte Form der griech.
Philosophie, entstanden durch Verschmelzung platonischer, aber auch
aristotelischer, stoischer, pythagoräischer und anderer Lehren (mit
Ausnahme des Epikureismus) mit orientalischer, auch mit christlicher
Mystik und Religion. ....
Hauptlehren: Mystische-intuitive Erkenntnis des Höchsten, vom "Ein und
Alles" bis zur Materie hinab, Befreiung des stoffgefesselten Menschen
zur reinen Geistigkeit durch Ekstase oder Askese." [6]
Na, mit dem unscharfen integrierenden Auge geurteilt kann man da ohne
weiteres eine strukturelle Deckungsgleichheit zur Anthroposophie sehen.
Jaja, nun läßt sich sicher einwenden, dass genauer betrachtet ...., aber
darum
geht es gar nicht. Die neuzeitliche Reflexionsphilosophie hat schon eine
völlig andere innere Grobstruktur als die neuplatonistische
"Seinsphilosophie". Eine Argumentation um irgendwelche Feinheiten kann
ergo nur zwischen Positionen geführt
werden, die von ihrer Grundstruktur her neuplatonistisch sind, also
innerhalb der Anthroposophie. Daher ist
es müssig und Verschwendung von Lebenszeit, diesbezüglich auf die
weitere
Argumentation Lorenzo Ravaglis einzugehen.
Der Begriff des Beweises und der Beweis des Begriffs
Jedoch an anderer Stelle, im ersten Drittel des Aufsatzes von Ravagli,
kann ein weiterer wesentlicher Argumentationsstrang festgemacht werden.
Es geht um das Steiner'sche, bzw. anthroposophische Verständnis des
Begriffs. Dieser unterscheidet sich in einer Weise vom gängigen philosophischen
Begriff des Begriffs seit Kant, dass ein gemeinsames Philosophieren
allein dadurch nahezu unmöglich gemacht wird, sieht man "Begriffe" als
die Rohstoffe philosophischen Disputierens an. Zunächst zur gängigen
Auffassung, hierzu sagt o.g. Wörterbuch von Kröner:
"Ein Begriff ist der einfachste Denkakt im Gegensatz zu 'Urteil' und
'Schluss', die aus den Begriffen zusammengesetzt sind. ... Das Denken in
Begriffen ... ist inhaltsärmer als die genetisch frühere Anschauung, es
dringt aber tiefer in die Struktur des Gegebenen ein und ist für die
Erkenntnis unentbehrlich ..." [6]
Seit der Moderne haben sich nun - im Wesentlichen - drei
Begriffsbildungen herauskristallisiert, deren hier nach Kröner wiedergegebene Differenzierungen allein schon genügend philosophischen Zündstoff enthalten, als
das man sich noch mit Steiner auseinandersetzen müßte, 1. die
mathematische Begriffsbildung, 2. die empirisch-naturwissenschaftliche
und 3. die geisteswissenschaftliche, die auch als die
historisch-hermeneutische bezeichnet wird.
Bei Steiner jedoch werden Begriffe abgeleitet (bewiesen)!
"Legt man Steiner immanent aus, findet sich bei ihm selbst eine Erklärung
seiner scheinbaren didaktisch-ermüdenden Weitläufigkeit: "Darinnen besteht die
wissenschaftliche Methode, daß wir den Begriff einer einzelnen Erscheinung in
seinem Zusammenhange mit der übrigen Ideenwelt (Anm. J.Paul, das ist Platon!)
aufzeigen. Wir nennen diesen Vorgang: Ableiten (Beweisen) des Begriffes (Anm. J.
Paul, das ist das Auf- und Niedersteigen auf der Platonischen Begriffspyramide in Reinkultur!). Alles
wissenschaftliche Denken besteht aber nur darinnen, daß wir die bestehenden
Übergänge von Begriff zu Begriff finden, besteht in dem Hervorgehenlassen eines
Begriffes aus dem andern. Hin- und Herbewegung unseres Denkens von Begriff zu
Begriff, das ist wissenschaftliche Methode." Dieses methodische Prinzip, das
Steiner 1887 formuliert hat, darf nicht mit der Hegelschen dialektischen
Begriffsbewegung verwechselt werden. Steiner formuliert sein Methodenprinzip von
der naturwissenschaftlichen Phänomenologie Goethes aus. Maßgebend für diese ist
das unablässige Wechselspiel von Begriff und Anschauung. Nur in diesem
Wechselspiel kann auch das Transzendente des Begriffs, der Beobachtungsinhalt,
in diesen eingehen."
Und eben dieses Prinzip der Anschauung reicht nach den Maßstäben der
Reflexionsphilosophie allein nicht mehr aus. Was man vielmehr erhält, ist eine
mystisch verquaste Version der Platonischen Ideenwelt.
Die Steiner'sche Anschauung in Aktion
Selbstverständlich kann man über den philosophischen Methodenkanon zur
Erlangung von Erkenntnissen trefflich disputieren. Niemand würde hierbei
bestreiten, dass eine Erweiterung des Methodenangebots sinnvoll ist. Aber besonders bunt wird
es bei Ravagli, wenn er die anthroposophische Version einer Erweiterung
um Steiners Methode der Anschauung erläutert:
"Es kann angesichts dieser schon in Anknüpfung an die methodologischen
Ausführungen der "Grundlinien..." möglichen Gedankengänge auch die Frage
nach einer Weiterentwicklung oder Vertiefung der Methoden aufgeworfen
werden, die in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen zur Anwendung
kommen. Gewiß ist die historisch-hermeneutische Methode zunächst der
Weg, durch den ein Zugang zur Geschichte des Vergangenen überhaupt
erschlossen wird. Es ist aber keineswegs gesagt, daß die Eröffnung des
Zugangs bereits das gesamte Gelände in all seinen Verwerfungen und
Überschichtungen verständlich macht. (Anm. J.Paul, dem zuletzt Gesagten
kann noch soeben zugestimmt werden, aber jetzt wird's, wie weiter unten zu
zeigen sein wird, richtig heikel....) Die
Frage ist, ob nicht die Möglichkeit besteht, den Idealtypus eines
einzelnen Menschen losgelöst von seiner empirischen Verkleidung
unmittelbar anzuschauen. Dasselbe läßt sich auch in bezug auf die
Idealtypen von Völkern und Zeiten fragen. Die Frage setzt allerdings
voraus, daß diese Idealtypen mehr als bloß induktive Abstraktionen sind.
Die Indizien, die sich auf hermeneutischem Weg gewinnen lassen, sprechen
jedoch mehr für das Vorhandensein einer überempirischen Realität von
Idealtypen, als dagegen." [3]
Hiermit spricht sich Ravagli letztlich explizit für die Existenz der
Idealtypen, also apriori, d.h. von vorn herein vorhandene "Ideen", für
die "ewigen platonischen Formen", sowohl für den einzelnen Menschen als auch für Völker aus und tritt
damit vollends in die Falle des Platonismus. Es wird bei der Anthroposophie
davon ausgegangen - dieses Motiv zieht sich vor allem durch das spätere Werk Steiners -
dass sowohl der Idealtypus einzelner Menschen als auch die Idealtypen von
Völkern für einen - natürlich nach den Vorgaben der Anthroposophie -
entsprechend trainierten Geist unmittelbar anzuschauen seien, sie also in einem
gewissen Sinne erkennbar sind. Einmal abgesehen davon, dass die Anwendung des
Begriffs "Idealtypus" seit der Zeit der modernen Reflexionsphilosophie schon für sich genommen eine Fragwürdigkeit
erster Güte darstellt,
ergeben sich aus diesem anthroposophischen Erkenntnismotiv unmittelbar zwei
Konsequenzen, einmal für eine Art "Völker- oder Rassenlehre" und zum anderen für
den Umgang mit einzelnen Individuen, also auch für Pädagogik.
Wenden wir uns zunächst kurz der unmittelbaren Anschauung der "Idealtypen von
Völkern und Zeiten" zu. Im folgenden sind ein paar Anschauungen aus der
Feder bzw. dem Mund Rudolf Steiners wiedergegeben:
"Alles, was der äthiopischen Rasse ihre besonderen Merkmale verleiht, das
kommt davon her, dass die Merkurkräfte in dem Drüsensystem der betreffenden
Menschen kochen und brodeln. Das kommt davon her, dass sie auskochen, was die
allgemeine, gleiche Menschengestalt zu der besonderen der äthiopischen Rasse
macht mit der schwarzen Hautfarbe, dem wolligen Haar und so weiter." [7]
"Die Seele, die Aura erscheint so, dass wir diese
einfache Aura, diese undifferenzierte, farbenarme
Aura des Wilden in bezug auf ihre Vollkommenheit zu der komplizierten Aura eines
europäischen Kulturmenschen in den selben Gegensatz bringen können wie eine
unvollkommene Schnecke oder Amöbe zu einem vollkommenen Löwen." [8]
"Der Neger hat also ein starkes Triebleben. Und weil er
eigentlich das Sonnige, Licht und Wärme, da an der Oberfläche in seiner Haut
hat, geht sein ganzer Stoffwechsel so vor sich, wie wenn er in seinem Inneren
von der Sonne selber gekocht würde. Daher kommt sein Triebleben. Im Neger wird
da drinnen fortwährend richtig gekocht, und dasjenige, was dieses Feuer schürt,
das ist das Hinterhirn." [9]
"Nun, in Amerika, da gedeihen diejenigen, die
eigentlich zugrunde gehende Neger einmal waren, das heisst, sie gedeihen nicht,
sie gehen zugrunde, die Indianer. (...) Daher werden sie kupferrot, werden
Indianer. Das kommt davon her, weil sie gezwungen sind, etwas von Licht und
Wärme zurückzuwerfen. Das glänzt dann kupferrot. (...) Das können sie nicht
aushalten. Daher sterben die als Indianer im Westen aus, sind wiederum eine
untergehende Rasse, sterben an ihrer eigenen Natur, die zu wenig Licht und Wärme
bekommt, sterben an dem irdischen." [10]
Aus: GA 354, S 62 f
"Das Judentum als solches hat sich aber längst
ausgelebt, hat keine Berechtigung des modernen Völkerlebens, und dass es sich
dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht
ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion
alleine, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise."
[11]
Weitere Beispiele schenken wir uns. Wer
möchte, kann gern diese und andere auf der Webseite der
Aktionsgemeinschaft Kinder des
Holocaust in der Rubrik Anthroposophiekritik nachlesen. Anlässlich der
Rassismusvorwürfe Mitte der Neunziger Jahre rief die Anthroposophische
Gesellschaft der Niederlande 1996 eine Kommission ins Leben zur genaueren
Untersuchung der Vorwürfe. Vier Jahre lang haben sieben Gutachter, die übrigens
ausnahmslos alle der Anthroposophischen Gesellschaft angehören, das Werk
Rudolf Steiners auf verdächtige Stellen hin untersucht. Es wurden auf den 89.000
Seiten des Steiner'schen Werks insgesamt 16
Zitate gefunden, die "nach heutigen Maßstäben diskriminierenden Charakters sind
oder als diskriminierend erfahren werden könnten". 50 weitere Fundstellen
bedürften der Interpretation, um nicht als "im geringem Maße diskriminierend"
aufgefasst zu werden. Einige der Sätze seien jedoch als bloße "Entgleisungen" zu
werten, andere sowieso nicht richtig ernst zu nehmen, weil sie Steiner gegenüber
Bauarbeitern geäußert habe, sich also auf deren intellektuelles Niveau habe
hinabbegeben müssen. [12]
Es soll und kann hier nicht darum gehen, Steiner anhand
dieser "Entgleisungen" als Rassisten festzunageln. Solche Ansichten hat es um
die Jahrhundertwende auch von Zeitgenossen Steiners allzu viele gegeben.
Rassismus sei weder irrational noch antimodern, sondern gehöre zur Aufklärung
wie die Made zum Speck, so Christof Hamann in seinem Artikel in der taz. Und der
Anthroposophiekritiker Peter Bierl etwa rechnet Steiner zum
"esoterisch-völkischen Sumpf der Jahrhundertwende", der sich gegen
aufklärerische Ideen von 1789 vehement zur Wehr setzte [13].
Es muss vielmehr ein Zusammenschau hergestellt werden zwischen diesen
Steiner'schen Aussagen und der von ihm propagierten Vertiefung und Ergänzung der
wissenschaftlichen Erkenntnismethode um seine spezifische Art der Anschauung.
Beschränkt man sich eben nicht auf die inhaltliche Kritik an irgendwelchen
Steinerzitaten, dann ergeben sich für seine "Methodik" unmittelbar zwei
Schlussfolgerungen.
Erstens, wenn Logik
noch etwas gelten soll, dann muss in letzter Konsequenz nun selbst aus anthroposophischer Sicht zugegeben werden, dass es mit dem "Anschauen
der Idealtypen" sowie mit der damit verbundenen Methode ja nicht
weit her sein kann, wenn man jetzt bereit ist, dem Meister "Entgleisungen"
einzuräumen. Wie läßt sich da noch sicher die Grenze zwischen "Entgleisung" und
"wirklicher Erkenntnis" ziehen? Wo ist dann eigentlich die "Methode",
die diesen Namen verdient?
Zweitens ergibt sich eine prinzipiellere Schlussfolgerung. Wenn von der
Existenz von "Idealtypen von Menschen und Völkern" und der Möglichkeit für
entsprechend trainierte Menschen, diese zu erkennen, ausgegangen wird, so folgt
daraus zwingend eine Rassenlehre, die zugleich eine nur Eingeweihten zugängliche
Geheimlehre sein muss. Die Aussage "Steiner's Lehre ist rassistisch" ist damit
im Kern verifiziert und als implizit in seiner Anschauungsmethode enthalten
feststellbar. Ein weiteres Moment ergibt sich für die Anordnungsstruktur
dieser Idealtypen, bzw. für deren Bezüge untereinander. Aufgrund der strukturellen
Verwandtschaft zur platonischen Ideenpyramide ist diese Anordnungsstruktur
zwangsläufig hierarchisch. Dies impliziert quantitative Wertungsschemata wie
"weiter entwickelt", "weniger weit entwickelt", usw.. Der - u.a. auch in o.g.
Zitaten - bei Steiner durchschimmernde kulturelle Führungsanspruch der "weissen
Rasse" findet hier seine "Begründung".
Die in Steiners Augen ja so uninspirierte
und unbedingt zu bereichernde moderne Naturwissenschaft hat in neuerer Zeit aufgrund
biologischer und biogenetischer Forschungen dem Begriff der
"Rasse" längst eine klare Absage erteilt. [14,15]
Anschauung, "Menschenerkenntnis" und Pädagogik nach Steiner
Ähnliche Schlussfolgerungen ergeben sich für die Betrachtung einzelner
menschlicher Individuen mit dem Unterschied, dass hier ungleich schlimmere
Konsequenzen zumindest möglich werden, da u.a. auch überzeugte Anthroposophen in
Waldorfschulen aktiv als Pädagogen tätig sind. Ein "Sehen" oder "Anschauen" des
Idealtypus eines Menschen ist in diesem Kontext gemeint als die Erkenntnis des
Entwicklungspotentials eines Kindes, gekoppelt mit der optimalen Förderung zur
Entfaltung dieses Potentials. Die Waldorfpädagogik hat das selbstgesteckte
Ziel, dass die "Lehrer für die verschiedenen seelischen Konstitutionen der
Kinder Sensibilität entwickeln sollten und sie in den Unterricht mit
einbeziehen." "Selbst der Rechenunterricht", so Detlef Hardorp, der
bildungspolitische Sprecher der Waldorfschulen in Berlin-Brandenburg, "wird
wesentlich abwechslungsreicher und spielerischer, wenn im Klassengespräch auch
auf die Temperamente der Kinder Rücksicht genommen wird. Die vier klassischen
Temperamente - Choleriker, Sanguiniker, Melancholiker und Phlegmatiker - sind
dabei nur Anhaltspunkte." [16] Da sind sie wieder, die
Typen, wenn auch hier nur als "Anhaltspunkte" genannt. Allein die Nennung gibt
zu deutlichen Zweifeln Anlass, und im Folgenden kann gesehen werden, was Steiner
selbst zu diesen "Anhaltspunkten" geäussert hat.
"Erziehung aus wahrer Menschenerkenntnis" ist das Steiner-Wort, das den
Waldorfschulen als Motto dient. Selbstverständlich muss eingeräumt werden, dass
je nach Vermögen des einzelnen Pädagogen in der Tat Kinder in ihrer Entwicklung
bestens gefördert werden können, auch an der ein oder anderen Waldorfschule.
Dies entspringt dann allerdings weniger einer Typologie, sondern eben mehr der
individuellen Persönlichkeit und Befähigung des Lehrers, auf Kinder und ihre
unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen.
Zu welchen Ergebnissen allerdings die übertriebene Anschauung von
"Idealtypen" führen kann, mag das folgende Beispiel verdeutlichen. Der Sohn
eines ehemaligen Arbeitskollegen von mir besuchte die zweite Klasse einer
Waldorfschule. Im Kunstunterricht malte der Junge mit grellen Farben und Schwarz
und mit eckigen Pinselstrichen eine Dampflokomotive auf seinen Malblock. Stolz zeigt
er es seinem Lehrer, dieser nimmt einen Becher Wasser, kippt ihn über das Bild,
so daß die Farben ineinander verlaufen und meint: "Jetzt stimmt Dein Bild!" Mit der
Rechtfertigung der Anschauung eines "stimmigen Bildes" wird hier eine
Kinderseele vergewaltigt.
Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der waldorfkritische Film "Ich
lobe das Wort" von Harriet Kloss aus dem Jahre 1994. In diesem keinesfalls
als objektiv zu bezeichnenden Film kommen vor allem ehemalige Waldorfschüler und
Waldorflehrer mit kritischen Stimmen zu Wort. Da beklagt z.B. eine ehemalige
Schülerin, jetzt Künstlerin, dass es ihr nach der Zeit in der Waldorfschule
besonders schwerfiel, ein eigenes, individuelles Kunst- und Malverständnis
aufzubauen. "Meine Bilder gerieten immer wieder in diesen anthroposophischen
Stil der verlaufenden Farben, ... ich hatte eine regelrechte Malblockade und
extreme Schwierigkeiten, mich davon zu lösen ...." Und ehemalige Waldorflehrer
bestätigen mangelnde, unnatürliche Individualität bzw. eine auffällige
Ähnlichkeit der im Kunstunterricht einer Waldorfklasse produzierten Malarbeiten.
Exkurs: Bemerkenswert ist auch die Art und Weise, wie der Bund der freien
Waldorfschulen mit dieser Art Kritik - und mit Kritikern überhaupt - umgeht. Da wird
erklärt, das seien auf Einzelfällen basierende tendentiöse Darstellungen, die
das "allgemeine Wohlwollen der Öffentlichkeit" gegenüber den Waldorfschulen
durch einen "vernichtenden Negativmythos" (www.waldorf.net)
ersetzen wollen, usw. Allen diesen Kritiken an der Kritik gemeinsam ist der
Hinweis auf "Einzelfälle". Solche Einzelfälle gäbe es im staatlich organisierten
Schulsystem schließlich auch. Dem ist rückhaltlos zuzustimmen. Allerdings weisen
die Einzelfälle des staatlichen Schulsystems nicht solche thematischen Häufungen
auf, wie die genannten an Waldorfschulen. Allein hieraus läßt sich nach meiner
Ansicht die Rechtfertigung ableiten für das Verdachtsmoment, dass Waldorfschulen
"Weltanschauungsschulen" sind.
Es bleibt zu fragen, worin genau die Ursachen für diese oben genannten
Verarmungen des künstlerischen Ausdrucks liegen. Eine mögliche Antwort liegt
meines Erachtens in zwei Resultaten der anthroposophischen Anschauung, der
Steiner'schen Entwicklungpsychologie und der Steiner'schen
Persönlichkeitspsychologie.
Erstere ergibt sich aus der Steiner'schen Variante der Vier-Leiber-Lehre, die
auch schon bei historisch früheren Okkultisten auftritt. Danach ist der Mensch ein
viergliedriges Wesen, das aus vier verschiedenen Leibern besteht, dem physischen
Leib, dem Lebens- oder Ätherleib, dem Empfindungs- oder Astralleib und
zuguterletzt dem Ich-Träger oder Ich-Leib. Details zu dieser Viergliedrigkeit
sollten - um Irrtümern und Missverständnissen vorzubeugen - besser bei Steiner selbst nachgelesen
werden.
"Das, was die Sinnesbeobachtung am Menschen
kennenlernt, und was die materialistische Lebensauffassung als das Einzige im
Wesen des Menschen gelten lassen will, ist für die geistige Erforschung nur ein
Teil, ein Glied der Menschennatur, nämlich sein physischer Leib. Dieser
physische Leib unterliegt denselben Gesetzen des physischen Lebens, er setzt
sich aus denselben Stoffen und Kräften zusammen wie die ganze übrige sogenannte
leblose Welt. Die Geisteswissenschaft sagt daher: der Mensch habe diesen
physischen Leib mit dem ganzen Mineralreich gemeinsam. Und sie bezeichnet am
Menschen nur als physischen Leib, was dieselben Stoffe nach denselben Gesetzen
zur Mischung, Verbindung, Gestaltung und Auflösung bringt, die auch in der
mineralischen Welt als Stoffe nach eben diesen Gesetzen wirken." [17]
Es darf hier nicht vergessen werden anzumerken, dass Steiner seine eigene
andere Auffassung von dem hat, was wir landläufig unter 'Geisteswissenschaft'
verstehen.
Wesentliches von Steiner ist allerdings auch in der
Wiedergabe des ehemaligen Wuppertaler Schulpsychologen Fritz Beckmannshagen in
seinem bemerkenswerten Büchlein "Rudolf Steiner und die Waldorfschulen" von 1984
nachzulesen. [18] Leider ist es mittlerweile
vergriffen, aber vielleicht wird man in einem Antiquariat fündig oder kann es
leihweise in der ein oder anderen Bibliothek erhalten. Da es sich nur in
einem Kapitel mit zeitnahen Beispielen aus Waldorfschulen befasst, ist das Buch auch heute
noch aktuell, leider bekam es viel zu wenig Aufmerksamkeit. Beckmannshagen macht
in seinem Werk den interessanten Versuch, die innere Verfasstheit der Anthroposophiebewegung
vom Standpunkt eines beobachtenden Psychologen aus zu
beschreiben, um deren Verhaltens- und Reaktionsmuster transparent zu machen.
Aber zunächst zurück zu den Entwicklungsphasen nach Steiner: Mit der Zeit des Zahnwechsels, so kann bei
ihm nachgelesen werden, werde
in der individuellen Entwicklung des Menschen der zweite, der Ätherleib geboren.
Der Vorgang dieser "Geburt" sei analog zu der physischen Geburt zu verstehen, im
Alter von etwa sieben Jahren verlasse der Ätherleib die Ätherhülle, ebenso, wie
bei der Geburt des physischen Leibes die physische Hülle, der
physische Leib der Mutter, verlassen werde. Bis zum Zahnwechsel, also im
ersten Lebensjahrsiebt, besteht die Entwicklung des Kindes wesentlich im Moment
der unmittelbaren Nachahmung. Im Anschluß daran wird in der folgenden Phase das
Erleben oder Nichterleben einer starken Autorität eminent wichtig und hat nach
Steiner bestimmte Folgen für das gesamte Leben, denn: "Verehrung und Ehrfurcht
sind Kräfte, durch welche der Ätherleib in der richtigen Weise wächst." [19]
Bei Eintritt der Geschlechtsreife
werde dann der dritte, der Astralleib geboren, mit ihm tritt der Heranwachsende
in die Entwicklungszeit ein, in der die Befähigung heranreift, sich "über die Dinge, die
er vorher gelernt hat, ein eigenes Urteil zu bilden."
"Man kann einem Menschen nichts Schlimmeres zufügen, als wenn man zu früh
sein eigenes Urteil wachruft. Erst dann kann man urteilen, wenn man in sich erst
Stoff zum Urteilen, zum Vergleichen aufgespeichert hat. Bildet man sich vorher
selbständige Urteile, so muß diesen die Grundlage fehlen. Alle Einseitigkeit im
Leben, alle öden ,Glaubensbekenntnisse', die sich auf ein paar Wissensbrocken
gründen, und von diesen aus richten möchten über oft durch lange Zeiträume
bewährte Vorstellungserlebnisse der Menschheit, rühren von Fehlern der Erziehung
in dieser Richtung her. Um reif zum Denken zu sein, muß man sich die Achtung vor
dem angeeignet haben, was andere gedacht haben. Es gibt kein gesundes Denken,
dem nicht ein auf selbstverständlichen Autoritätsglauben gestütztes gesundes
Empfinden für die Wahrheit vorangegangen wäre." [20]
Punktuell sind die Steiner'schen Ausführungen - immer zu sehen vor dem
Hintergrund seiner Zeit - von einem tiefen Verständnis
getragen, so z.B. bei seinen Ausführungen über das verfrühte Urteil, wiederum
gefolgt von höchst unzulässigen Verallgemeinerungen wie z.B. dem letzten Satz des
obigen Zitates.
An anderer Stelle äußert sich Steiner
speziell über den Geschichtsunterricht und bemerkt, dass Kausalitätsgedanken vor
dem 12. Lebensjahr "seelische, in höherem Alter auch physische Sklerose"
erzeugen können [21]. Beiden Zitaten - und darüber hinaus
vielen anderen - gemeinsam ist eine
merkwürdige schematische Starre, auf die ebenfalls das Adjektiv "sklerotisch" angewendet
werden könnte. Es findet sich keine Spur von Dynamik, vom lebendigen, sich vom
Kindlichen ausgehend her mit dem wachsenden Ichbewußtsein allmählich entwickelnden und reifenden Urteil.
Insbesondere die Ergebnisse der Untersuchungen Jean Piagets zu den
vorsprachlichen kognitiven Funktionen, die etwa 1925, also nach Steiner's Tod,
begannen, rechtfertigen in keiner Weise das Steiner'sche Bild vom Urteilen. Auch wenn Steiner anzurechnen
ist, dass er die Wichtigkeit z.B. der Phase um das 12. Lebensjahr
erkannt hat, die strukturelle Armut seines Entwicklungsmodells ist nicht zu
übersehen. Beckmannshagen bemerkt hierzu:
"Steiner hat in zahlreichen
pädagogischen Vorträgen ..... immer
wieder diesen Siebenjahresrhythmus aufgegriffen, hat ihn weiter zu unterteilen
versucht, einmal sogar streng mathematisch gedrittelt, was nicht recht
geglückt war. Vor allem hat er im zweiten Jahrsiebent die große Bedeutung der
Entwicklungsphasen um das neunte und zwölfte Lebensjahr erkannt und
herausgearbeitet. Dennoch: der Kenner der pädagogischen Psychologie und ihrer
umfangreichen Entwicklungsforschung steht verblüfft vor diesem kargen Modell
und fragt sich vergeblich, wie ein renommiertes Schulsystem seit über sechzig
Jahren, unbekümmert um die Fortschritte der Wissenschaft, danach arbeiten
kann. Möglicherweise liegt gerade in der Anspruchlosigkeit des 'Gerätes' seine
Durchschlagkraft; dieses kann schließlich jeder begreifen und handhaben, auch
ohne pädagogische Examen. Möglicherweise liegt sie auch in der okkulten
Ableitung des ganzen oder aber in der schier unbegreiflichen ministeriellen
Duldung und Förderung." [22]
Und etwas später heisst es bei Beckmannshagen:
"Man kann den Menschen nicht nur in seinem Entwicklungsverlauf, wie
beispielsweise in dem aufgezeigten mageren Siebenjahresrhythmus, betrachten,
sondern auch in seiner individuellen Verschiedenheit von anderen Menschen, also
in seiner persönlichen Besonderheit. Wir betreten damit das riesige Gebiet der
Persönlichkeitsforschung, der Charakterologie oder der differentiellen
Psychologie. Auch Rudolf Steiner ist dieser Umstand nicht entgangen: "Wie
unendlich verschieden sind die Menschen in ihrem individuellen, tiefsten
Innern!" Leider muß aber gesagt werden, daß sein Beitrag zur
Persönlichkeitsforschung noch wesentlich dürftiger ausfällt als der zur
Entwicklungstheorie. Rudolf Steiner hat seinen Waldorflehrern und das glaubt
kein Außenstehender - zum Verständnis der individuellen Eigenart ihrer Kinder,
außer ein paar unsystematisch hingeworfenen Bemerkungen, nichts anderes
mitgegeben als die auf die Antike zurückgehende Lehre von den vier
Temperamenten.
Diese Lehre, die ohnehin nur eine grobe Typenlehre sein will und keineswegs
beansprucht, die individuelle Persönlichkeit zu erfassen, ist aber auch als
bloße Typenlehre seit Jahrzehnten - auch schon vor Gründung der ersten
Waldorfschule - kritisiert und als ungeeignet verworfen worden. Unter anderem
deshalb, weil "die Zuordnung eines Menschen zu einem der vier Temperamente
uns von diesem nichts weiter verrät, als was für die Zuordnung bereits
erforderlich ist." Rudolf Steiner ficht das alles nicht an. Er gibt der Lehre
eine okkulte Begründung und gibt sie seinen Lehrern als Instrumentarium zum
Verständnis der Schülerpersönlichkeiten. Man kann sich kaum etwas Peinlicheres
vorstellen als einen Waldorflehrer, der sich mit diesen Mitteln über die
Eigenart eines Kindes zu äußern versucht. Da vernimmt man dann hilflose Sätze,
die alles und jedes aus der Phasen und/oder Temperamentszugehörigkeit erklären
wollen."
Auch hier kann man wieder diesen merkwürdig schematischen, schubladenhaft
starren Charakter seiner Modelle feststellen, als wenn alles irgendwie fertig
und ab einem bestimmten Zeitpunkt des individuellen Lebens wie auf Knopfdruck in
Erscheinung trete. In einem tieferen Sinn betrachtet kann bei Steiner ein
mangelndes Verständnis für den Begriff der Entwicklung diagnostiziert werden,
seine Modelle sind strukturell eher an einem starken 'Ordnungsbedürfnis' und an den Weltanschauungen der ewigen
Wiederkehr unserer altvorderen Naturreligionen orientiert, eine Struktur, die
sich zuguterletzt auch in den Wiedergeburtsglauben der Anthroposophie hinein
abbildet.
In dieser Hinsicht bemerkenswert sind die
Handlungsanweisungen Steiners für den tätigen Pädagogen im Hinblick auf die
Temperamente:
"Denn bei der Erziehung muß sehr genau auf die Art des Temperamentes geachtet
werden; bei Kindern ist es besonders von Wichtigkeit, dieses sich entwickelnde
Temperament leiten und lenken zu können ... Es ist wichtig für den Erzieher,
sich sagen zu können: Was tust du zum Beispiel bei einem sanguinischen Kinde?
[......] So dürfen wir sagen, der Sanguiniker ist am besten daran, wenn er
heranwächst an fester Hand, wenn ihm ein Mensch von außen Seiten des Charakters
zeigen kann, wodurch er persönliche Liebe entwickeln kann. Liebe zu einer
Persönlichkeit ist das beste für den Sanguiniker. - Nicht bloß Liebe, sondern
Achtung und Schätzung für dasjenige, was eine Persönlichkeit leisten kann, ist
das beste für den Choleriker. - Ein Melancholiker darf sich glücklich schätzen,
wenn er heranwachsen kann an der Hand eines Menschen, der ein herbes Schicksal
hat ... Sie wachsen gut auf, wenn sie sich weniger in Anhänglichkeit an eine
Persönlichkeit, weniger in Achtung und Schätzung der Leistung einer
Persönlichkeit, sondern in dem Mitfühlen für das Leid und berechtigte
Schmerzensschicksal ergeben können. - Der Phlegmatiker ist ein Mensch, dem am
besten beizukommen ist, wenn wir ihm die Neigung beibringen für die Interessen
anderer Persönlichkeiten, wenn er sich entfachen kann für die Interessen anderer
Personen." [23]
Hier bei der Persönlichkeitspsychologie ist die Verblüffung über die
Dürftigkeit und allzugroße Einfachheit des Modells vielleicht noch größer als
bei der Entwicklungspsychologie. Der noch offenen Frage, wie ein solch einfaches
Modell - gemessen an Schulgründungen - dennoch einen derartigen Erfolg nach sich ziehen konnte, soll im nächsten
Absatz nachgegangen werden.
Fritz Beckmannshagen sieht einen möglichen Grund für den Erfolg des
Waldorfmodells gerade in den okulten Bezügen der Anthroposophie:
"Nach Steiners und seiner Anhänger Auffassung sitzen auf den Schulbänken
nicht einfach Kinder mit einer menschengemäßen Lebensfrist, sondern ewige
'Entelechien' (*8), die schon viele Verkörperungen hinter sich und weitere
Verkörperungen vor sich haben. Erziehen ist deshalb mehr als ein
Sozialisierungsprozeß - es ist sozusagen 'Einkörperungshilfe'; und kein Lehrer
kann sicher sein, daß er nicht Goethe oder Schiller unter seinen Rangen hat.
Dieser metaphysische Aspekt ist es aber, der, nach meiner Beobachtung, den
wirklich gläubigen anthroposophischen Lehrer veranlaßt, sich das Äußerste an
Leistung abzuverlangen. Und eben das bleibt nicht ohne Wirkung." [24]
An einer Stelle irrt Beckmannshagen allerdings, denn nach Steiner'scher
Erkenntnis sind es "mehrere Jahrhunderte", die vergehen bis zu einer
Reinkarnation. Man kann also weniger von Goethe oder Schiller ausgehen, wohl
aber z.B. von Karl dem Großen, Nikolaus von Kues oder Erasmus von Rotterdam. Doch lesen wir
hierzu bei Steiner selbst nach:
"Ein jeglicher Mensch hat also, wenn er
ins physische Leben eintritt, eine Reihe von Leben hinter sich. Und dies hat
nichts zu tun mit dem, was in der Vererbungslinie liegt. Wir müßten mehr als
Jahrhunderte zurückgehen, wenn wir untersuchen wollten" welches sein früheres
Leben war, wann er durch die Pforte des Todes durchgegangen ist. Nachdem er
durchgegangen ist, lebt er in anderen Daseinsformen in der geistigen Welt. Und
wenn wieder der Zeitpunkt gekommen ist, ein Leben in der physischen Welt zu
durchleben, dann sucht er sich ein Elternpaar." [25]
Ein Kernelement für den pädagogisch tätigen Anthroposophen aber scheint es zu sein, dass eben das Bewusstsein jener Möglichkeit,
dass unter seinen Schülerinnen und Schülern eine oder mehrere "vormalige Berühmtheiten" weilen, dem
anthroposophisch gläubigen Lehrer das Letzte an Einsatz und Bemühung abverlangt.
Neben dem sich gegenseitigen Beharken auf dem erkenntnistheoretischen Feld zwischen Anthroposophen und Kritikern
der Anthroposophie, eine Diskussion, die übrigens nach Scheuerl
1993 nicht mehr geführt wird, vielleicht, weil auf beiden Seiten einfach alles
gesagt ist, gab und gibt es auch eine erfreuliche Zusammenarbeit im pädagogischen Praxiskontext.
Resultat derselben ist der ebenfalls von Scheuerl im genannten Aufsatz zitierte
vierteilige Sammelband "Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik",
herausgegeben von
Fritz Bohnsack und Ernst-Michael Kranich, 1990. Im vierten Teil gibt es einen
Aufsatz des Waldorf-Pädagogen Christoph Lindenberg, dessen Aussagen über
"Probleme im Umgang mit der Anthroposophie Rudolf Steiners" der eingangs oft
zitierte Hans Scheuerl als "bemerkenswert" bezeichnet [4]. Dort wird
der "Umgang mit anthroposophischen Wahrheiten" von Lindenberg am Beispiel "der
Idee der wiederholten Erdenleben" verdeutlicht:
Fasst man als Lehrer oder Erzieher diesen
Gedanken, so ergibt sich eine bestimmte Einstellung zur eigenen Berufstätigkeit
... die Schulkinder, die mir anvertraut sind, sind nicht einfach unbelehrte
Wesen, denen ich Kulturtechniken und Lerninhalte beizubringen habe. Es sind
Menschen, die eine lange Entwicklung bereits hinter sich haben. Ich bin einige
Jahre oder Jahrzehnte früher als sie geboren, aber es ist denkbar, daß in den
Schulkindern ... Menschen anwesend sind, die mich in einem früheren Erdenleben
an Weisheit und Güte weit überragt haben. Meine Aufgabe ist es, ihnen zu helfen,
sich in diesem Leben voll zu entfalten. Der Lehrer wird sich durch solche
Gedanken nicht als ein "Beibringer" oder als ein Beurteiler verstehen, sondern
als jemand, der die Entwicklung dieser Person zu schützen und
Entfaltungshindernisse wegzuräumen hat. - In diesem Sinne wird aus der bloßen
Theorie der Inkarnation ein lebendiges Ideal." [26]
Was Lindenberg hier - vielleicht bewusst - übersieht, was allerdings von
Beckmannshagen 1984 schon klar benannt wurde, ist die Tatsache, dass bei
gläubiger Überzeugung eine solche Vorstellung von der menschlichen Natur "dem
Erzieherberuf ein fast priesterliches Selbstwertgefühl" verleihen kann, das sich
in der Kommunikation der Erziehungsbeteiligten untereinander, Eltern und Lehrer, oft schwerwiegend bemerkbar
macht:
"Dieses besonders gefärbte Selbstgefühl hat zweifellos jede Schülermutter und
jeder Schülervater schon zu spüren bekommen, wenn sie im Gespräch mit
Waldorflehrern etwa eine eigene Ansicht vertraten." [27]
Rudolf Steiner selbst scheute sich nicht, den Lehrerberuf wiederholt mit
dem des Priesters zu vergleichen:
"Der Lehrer muß eigentlich dazu kommen, daß alles Unterrichten für ihn eine
sittliche, eine religiöse Tat werde, daß er in dem Unterrichten selber eine Art
Gottesdienst sehe ..." [28]
Genau hier ist die Kehrseite der Medaille des hingebungsvollen
Lehrereinsatzes zu suchen, die über die blosse 'Berufung zur Lehre' hinausgeht. Bei allzu tiefer Gläubigkeit resultiert dieses
Engagement fast
zwangsläufig in dogmatischer Erstarrung und strenger Anwendung der pädagogischen
und psychologischen Schemata des Meisters, deren strukturelle Armut ja bereits
gezeigt wurde. Die "Gefahr" für Schülerinnen und Schüler besteht also darin, in
ein pädagogisches Prokrustesbett zu geraten, das die Entfaltungsmöglichkeiten
eher einschränkt als fördert. Und für Eltern ist
eine Abschätzung der spezifischen Gepflogenheiten und Ausprägungen einer
für die eigenen Kinder vielleicht in Frage kommmenden Waldorfschule, die Erlangung von
Entscheidungsgrundlagen, vorab nur sehr schwer möglich.
Exkurs: Und eben für Eltern, aber auch
für Erzieher, wird es zunehmend schwierig, in unserer immer dynamischer
werdenden Welt einen Werte-Leitfaden, eine pädagogische Maxime zu finden, der eine solide Basis für die
Entscheidung z.B. einer Schulwahl geben kann. Zugleich pragmatisch und
umfassend, jedoch nicht so allgemein und abstrakt wie z.B. der ethische
Imperativ Heinz von Foersters erscheint mir hier immer noch Maslow:
"Erziehung muß sich sowohl auf die Kultivierung der Kontrollen als auch
auf die Kultivierung der Spontaneität und Ausdrucksfähigkeit richten. In unserer
Kultur und an diesem Punkt der Geschichte ist es notwendig, die Balance
zugunsten der Spontaneität zu verändern, der Fähigkeit, expressiv, passiv,
unentschieden zu sein, voller Vertrauen in Prozesse, die anders sind als Wille
und Kontrolle, unbedacht, schöpferisch usw. Doch man muß erkennen, daß es andere
Kulturen und andere Bereiche gegeben hat und geben wird, in denen die Balance in
die andere Richtung ausgeschlagen hat oder ausschlagen wird." [29]
Nun bleibt es noch zu betrachten, warum die pädagogischen Vorstellungen des
Meisters strukturell so arm und damit dogmatisch geblieben sind. Es muss hier
noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Steiners Modell durch seine
wiederkehrenen Bezüge zur Temperamentenlehre eine strukturelle Verwandschaft zu
den Vorstellungen der Spätantike als auch zu denen des Neoplatonismus des frühen
Mittelalters aufweist.
Paradox scheint auf den ersten und oberflächlichen
Blick, dass die gerade in der Zeit Steiners, in der Wende zwischen dem 19. und
20. Jahrhundert, geschehenen tiefgreifenden Veränderungen und Durchbrüche in der
Psychologie, eingeleitet von Breuer, Freud und anderen, auf Steiners Werk keinen
Einfluß gehabt haben sollen. Mehr noch, Steiner nimmt in seinen Schriften von
vielen der unmittelbar nach der Jahrhundertwende erschienenen Grundlagenwerke
noch nicht einmal kritische Notiz. Nach heutigen Maßstäben des
wissenschaftlichen Publikationsverhaltens verdient allein schon diese Tatsache
der Nichtbeachtung einer ganzen Gruppe von Publikationen das Attribut
'Schlechter Stil' und muss sich obendrein den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit
gefallen lassen.
"Wer heute irgendeine Psychologie oder auch nur irgendetwas in die Hand
nimmt, das mit Psychologiebegriffen zu tun hat, der wird finden, dass ein
wirklicher Inhalt heute in solchen Schriftwerken nicht mehr drinnen ist. Man hat
das Gefühl, dass die Psychologen nur mit Begriffen spielen." [30]
So Rudolf Steiner in einem Vortrag, der 1919 auch als Buch erschien
"Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik", das heute noch
grundlegend für die Ausbildung von Waldorflehrern ist.
Etwas anders verhält es sich allerdings mit der
Tiefenpsychologie. Ausgerechnet deren Entwicklungen hat Steiner
interessanterweise nicht übergangen. Zum Zeitpunkt des Erscheinens von Steiners
Philosophie der Freiheit 1894, konnte das in Kap. 9 enthaltene Triebfedernmodell
nach dem Stand der Zeit zwar als wenig differenziert aber im Grunde als
akzeptabel gelten. Jedoch bei der Neuauflage 1918 war es durch die Fortschritte
der Psychologie bereits so gründlich überholt, bzw. in Bewegung geraten, dass
seine Beibehaltung peinlich wirkt, schreibt Beckmannshagen [31].
Eine wesentliche Aufgabe der
Tiefenpsychologie ist es, die unbewußten Gründe der Antriebe und Motive unseres
Handelns zu beschreiben. Thomas Mann drückte deren Bedeutung in seinem
Festvortrag zum 100. Geburtstag Sigmund Freuds wie folgt aus:
"Die analytische Einsicht ist weltverändernd, ... ein heiterer Argwohn ist
mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvender Verdacht, die Verstecktheiten und
Machenschaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder daraus
verschwinden kann. Er infiltriert das Leben, untergräbt seine rohe Naivität,
nimmt ihm das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpathetisierung [.....]
Vollkommen bin ich überzeugt, dass man in Freuds Lebenswerk einmal einen der
wichtigsten Bausteine erkennen wird, die beigetragen worden sind zu einer heute
auf vielfache Weise sich bildenden neuen Anthropologie und damit zum Fundament
der Zukunft, dem Hause einer klügeren und freieren Menschheit." [32]
Selbstredend kann auch die Psychoanalyse einer
grundlegenden und auch berechtigten Kritik unterzogen werden, Steiner jedoch
leistet dies nicht. Einer seiner Biographen, Gerhard Wehr, bezeichnet Steiner als
"einen erklärten Gegner der Tiefenpsychologie seiner Zeit". [33]
Und der Psychologe Fritz Beckmannshagen bemerkt recht bissig, dass er "selten
Einfältigeres über die Psychoanalyse gelesen" habe als bei Steiner, Steiner habe "weder Freuds Intentionen verstanden noch - trotz Hellsehergabe - vorausgesehen,
wie weltverändernd" der Freud'sche Impuls werden würde. Der "heitere
Argwohn" eines Thomas Mann sei "Steiners Sache" nicht. [34]
Darüber hinaus diagnostiziert er Verbohrtheit bei Steiner immer dann, wenn es um
Psychoanalyse geht, er schrecke "absichtlich oder unabsichtlich" selbst vor
"einer grob entstellenden Darstellung" der Psychoanalyse nicht zurück. Richtige
Empörung und Verärgerung spürt man bei Beckmannshagen, wenn er auf Steiners 4.
Vortrag [35] eingeht, in dem Steiner offensichtlich eine Interpretation eines Falles von Jung als
seine eigene ausgibt und Jung obendrein noch vorwirft, dass er nicht selbst
darauf gekommen sei. Beckmannshagen:
"Welche Zuhörerschaft muss vor dem großen Mann gesessen haben? Sie muss
selbständiges Lesen - was sich auch an anderen Beispielen nachweisen läßt - wie
die Pest gemieden haben. Noch heute ist es ein bei Waldorflehrern bekanntes
Übel, dass sie in der Regel lieber dreihundert Kilometer zu einem vorverdauten
Vortrag anreisen als eine Seite Originaltext zu lesen, und sei er von Steiner."
[36]
Man kann an Textanalysen belegen, dass alles, was mit Gefühlen oder
ausserbewussten eben nicht dem bewussten Denken zugänglichen Elementen zu tun hat, bei
Steiner ein abwertendes Moment erfährt. Ich wage mal zu behaupten, dass ihm
dabei nicht bewusst war, ja dass ihm gar nicht bewusst sein konnte, dass er damit sein eigenes Idol Goethe verraten hat.
Der existiert für Steiner nur bis zur Halskrause, als Geist, als Intellekt.
Das allerdings das Gefühl es ist, eben der Goethe auch unter der Gürtellinie,
der den Dichter zu einem 'ganzen Menschen' macht, scheint Steiner zu entgehen
oder von ihm verdrängt zu werden.
Er fixiert sich förmlich auf das Geistige und wertet das Gefühl ab: "..... der naive Realist sieht in dem
Gefühlsleben ein wirklicheres Leben der Persönlichkeit als in dem rein ideellen
Element des Wissens." [37]
Vordergründig betrachtet ist es die das Unter-
und Unbewußte thematisierende Psychoanalyse, die Steiner gar nicht akzeptieren
kann, will er nicht 'seine' Vier-Leiber-Lehre aufgeben, die vom Intellekt, vom
Geistigen aus, vom Ich-Leib-Ende der Pyramide aus den Menschen thematisiert. Es
läßt sich jedoch noch eine tiefere rationale Begründung für diese Ablehnung finden. Der amerikanische
Physiologe und 'Neurophilosoph' Warren McCulloch zeigte 1953 in seinem Aufsatz
"The Past of a Delusion" ganz klar, dass die Freud'sche Psychoanalyse
sich erkenntnisgeschichtlich auf die Bewusstseinsphilosophie Kants zurückführen läßt,
oder anders gewendet, dass sie eben eine direkte und zwangsläufige Konsequenz der
Bewußtseinsphilosophie Kants ist [38].
Die Psychoanalyse findet nach McCulloch ihre ersten Quellen also in der Philosophie der Aufklärung.
In Verbindung mit dem Steiner'schen 'Kant-Verständnis' lässt dies nun den Schluss
zu, dass es entweder bei Steiner ganz prinzipiell an einem modernen Verständnis des
Menschseins mangelt, oder dass bei ihm eine tief 'gefühlte' Abneigung gegen eben dieses
moderne Verständnis zum Tragen kommt, oder gar eine Kombination aus beidem. Man
kann es aber nicht einfach ablehnen zu fühlen, denn die Ablehnung ist selbst ein
Gefühl! Insofern führt das - statt die im Fühlen vorliegenden Umstände zu
reflektieren und damit teilweise ins eigene Bewusstsein zu holen, nur zu einer
'Ausblendung' eines Teils der eigenen Persönlichkeit und damit zu einem enormen
geschwulstartigen Anwachsen des eigenen blinden Flecks!
Wie auch immer, diese Haltung lässt Steiner also Gefühle weder reflektieren,
noch ausdrücken, sondern
nur unterdrücken oder abspalten, Beckmannshagen sieht sich daher veranlasst, Steiner als
einen Menschen zu bezeichen, der - ganz in Analogie zu Adelbert Chamisso's
Schlemihl [39] - seinen Schatten gewissermaßen verneint und letztlich an diesem
Selbstbetrug scheitert. Denn der verkaufte und abgespaltene Schatten, um die
Anerkenntnis seiner Existenz gebracht, greift dann zu relativ rabiaten Mitteln
bis hin zur Vernichtung seines Besitzers.
Das Scheitern Steiners läßt sich so interpretieren, dass er
letztlich von seinem Schatten - in Gestalt der Anthroposophischen Bewegung -
ein- oder gar überholt wird. Diese 'Bewegung', und damit auch die Waldorfianer,
sollen im folgenden Anschnitt eingehender betrachtet werden. Lassen wir hier zur
Illustration und zum Stichwort "Theosophie", der Mutterbewegung der
Anthroposophie, einmal einen Zeitgenossen Steiners zu Wort kommen, den Autor des
Wörterbuchs der Philosophie, Fritz Mauthner:
„Die Theosophie, deren Cagliostro Rudolf Steiner
heißt, hatte bereits vor dem Weltkriege zu einer Art von Sektenbildung geführt,
der es durchaus nicht an den Kennzeichen aller religiösen Sekten fehlte:
Geheimbündelei, Autorität eines suggestiv wirkenden Mannes, Schwärmerei und
Opferbereitschaft zahlungsfähiger Weiblein, Verfolgungssucht gegen alle, die den
neuen Cagliostro und seine Rednerei nicht ernst nehmen konnten [Anm. J.Paul, an dieser Stelle
gibt es bei Mauthner eine Fussnote]. Die Theosophie war schon vor dem Kriege
eine kleine Gefahr für die Taschen der Gläubigen; durch den Weltkrieg wurde sie
erst zu einer eigentlichen Gefahr für die geistige Volksgesundheit.“ [40].
Und in der im obigen Zitat erwähnten Fussnote
heisst es:
"Dieser Aufsatz war bereits geschrieben, als ich erfuhr, daß Steiner mir
mehrfach die Ehre erwiesen hat, sich in seinen Vorträgen mit mir und mit meiner
»Kritik der Sprache« zu beschäftigen. In einer geisteswissenschaftlichen
Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (April bis Juni 1919). Herr Steiner
gibt diese seine Vorträge heraus mit dem in wirklich geisteswissenschaftlichen
Büchern ungewöhnlichen Vermerk, er sei für den Wortlaut nicht verantwortlich zu
machen; Buddha und Jesus Christus waren nicht ganz so vorsichtig wie diese ihre
groteske Reinkarnation. Ich weiß also die Ehre, die mir der neueste
Religionsgründer da zugedacht hat, vollauf zu würdigen. Es ist freilich häßlich
von Steiner, daß er den edeln Anarchisten Gustav Landauer denunziert; ich weiß
nicht, ob erst nach Landauers Ermordung. Aber es ist hübsch und mir überaus
erfreulich, daß just Steiner mich für »nicht gescheit« erklärt, weil ich - so
sagt er mehr als einmal - Kant überkantet habe. Steiner hat mich noch höher
geehrt, da er mich - an anderer Stelle - seinen (Steiners) Antipoden genannt
hat. Mehr kann ich gar nicht verlangen. Ich fühle mich geschmeichelt, aber ich
darf mich nicht bestechen lassen; ich ändere nichts an meinem Aufsatz." [41]
Wie das Beispiel Mauthners zeigt, ist die auch polemisch geführte Kontroverse
um die Philosophie Steiners und die Anthroposophie kein Phänomen ausschließlich
unserer Tage. Schon mit dem Beginn der anthroposophischen Bewegung haben
aufgeweckte Geister ihr sektenhaftes Potenzial voll erkannt.
Was hat es nun auf sich mit der oben als Schatten Steiners titulierten
anthroposophischen Bewegung und mit den Waldorf-Anhängern?
Schon in dem o.g. Zitat Mauthners wird bereits das Schattenhafte deutlich.
Die anthroposophische Bewegung, die nach Mauthner deutlich auf dem Weg zur Sekte
ist, entwickelt eine Binnenkultur (u.a. "Geheimbündelei"), die der Schaffung
einer Gruppenidentität dient mit dem Ziel, sich - in der Gruppe - mit Recht
sagen zu können: "Wir sind anders." Diese Gruppenidentität, oder, um einen
Ausdruck Steiners zu gebrauchen, diese "Gruppenseelenhaftigkeit" hat vor allem
einen Sinn, sie schützt den Einzelnen vor Zweifeln. Aber das von Steiner selbst
erklärte Ziel seiner "Lehre" ist es oder sollte es sein - das kann man schon
ablesen an Buchtiteln wie z.B. "Die Philosophie der Freiheit" - die menschliche
Individuation, die Ich-Stärkung und die Bewusstheit um die Selbstwerdung des
Einzelnen anzustreben und zu fördern. Hierzu gehört, wie wir wissen, auch der
gesunde Zweifel. Eben genau dieser Zweifel bleibt aber in der Gruppenidentität,
der Gruppenseelenhaftigkeit der Bewegung vor der Tür, und was erreicht wird, ist
das genaue Gegenteil. Man denkt nicht selbst, man lässt denken, vieles steht ja
sowieso schon bei Steiner, und genau deswegen hat man auch immer Recht - in
Diskussionen mit Schüler-Eltern zum Beispiel -, die Gruppe, die Bewegung, das
Gemeinsame schützt. Das heisst jedoch nicht, das Anthroposophen durchweg
ungebildet wären. Schon Beckmannshagen bemerkt dieses Phänomen des Rechthabens
auch bei gebildeten Personen,
wie weiter unten in einem Zitat zu lesen sein wird. Und genau das ist der Schatten Steiners,
der Anspruch der Förderung und Entwicklung des Individuums geht in der Gruppe
unter und verkehrt sich in sein Gegenteil.
Sind Sie einmal in einer anthroposophischen Einrichtung, z.B. einem
Schulungszentrum, zu Gast gewesen? Dann haben Sie es vielleicht auch gespürt,
das besondere Flair solcher dem Höheren und Geistigen geweihten Räume? Äußerlich
unterstrichen durch Gemälde - meist Aquarelle - anthroposophischer Künstler
an den Wänden, durch nicht- oder nicht ganz gegenständliche Skulpturen und durch
die Gebäudebeschilderung, deren Weleda-Schrift an altgermanische Runen erinnert?
Vielleicht haben Sie auch die sich so von unserer sonst gängigen
Rechtwinkligkeit absetzende Gebäudearchitektur bewundert, das hat doch was,
oder? Nur ganz wenige werden sagen, dass sie keine besonderen Empfindungen
haben. Viele unbefangene Nicht-Antroposophen empfinden oder begrüßen die so vom
üblichen abweichende, erfrischende Andersartigkeit. Mich, den Verfasser dieser
Zeilen überkommt allerdings Beklemmung, eine 'nicht physisch zu nennende
Atemnot' und Traurigkeit, Traurigkeit z.B. angesichts der Aquarelle an den
Wänden über soviel abgetötete Individualität. Da gibt es nichts lautes, keinen
schrillen Kontrast, keine harte Ecke, keinen Bruch, alles ist harmonisch und Ton
in Ton und nach den von Steiner selbst festgelegten Prinzipien der Gestaltung
gefertigt. Auf einer Metaebene wirkt eben genau jene Harmonie disharmonisch und
im worteigenen Sinn -
man verzeihe mir den Ausdruck - vulgär.
Und die 'Bewohner' dieser Einrichtungen selbst begegnen einem mit einer
Steifheit und zum Teil einer wie zur Schau gestellten gestelzten Ernsthaftigkeit - ein
Ausdruck ihrer tief empfundenen Privilegierung gegenüber dem Rest der Welt - die zum Lachen reizen würde,
wäre es nicht so traurig.
Zum Verhalten der Anhänger Steiners bemerkt Fritz Beckmannshagen:
".... wer die Welt ein wenig kennt, wird schwerlich eine Menschengruppe
finden, die so vollständig und ausschließlich nur von 'geborgtem Wissen' lebt wie
Steiners große Jüngerschar. Wie hypnotisierte Medien laufen sie umher und haben
für jede erdenkliche Lebenslage bereits eine vorgefertigte Auskunft Dr. Steiners
parat, was Peter Brenner zu der sarkastischen Bemerkung veranlaßte: "Es scheint
nichts zu geben, was Rudolf Steiner nicht gesagt haben soll." Diese übergroße
Abhängigkeit hat nichts mit Intelligenz o. ä. zu tun. Man trifft unter
Anthroposophen, neben strohdummen Exemplaren, die von nichts als dem ihnen allen
gemeinsamen Gefühl der Privilegierung getragen sind, kluge, geistreiche, ja
hochgelehrte Persönlichkeiten. Aber auf welcher Niveaustufe auch immer man mit
ihnen diskutiert, Recht wird man nie bekommen. Sie sind Eiferer ihrer Ideen und
ihrer Ideologie fanatisch ergeben. [....] Fanatismus ist stets ein Zeichen von
unbewußtem Zweifel an der eigenen Überzeugung. Mag man ihn bei dem Schöpfer und
Produzenten seiner Ideen noch ertragen - bei den Konsumenten ist er
unerträglich, ja lachhaft, zumal er mit dem Grad der Unkenntnis zu wachsen
pflegt." [42]
Es ist eben jener sich aus dem unbewußten,
nicht in die Reflektion geholten Zweifel nährende Fanatismus, der sich hier zum
alles dominierenden Schatten auswächst. Schon Steiner muss das geahnt haben,
denn in einem Vortrag 1917 äussert er:
"Von dem Ernst und der Gewichtigkeit desjenigen, was die anthroposophisch
orientierte Geisteswissenschaft sein soll, haben ja doch noch - verzeihen Sie,
daß ich das ausspreche - die wenigsten, die sich zu dieser Geisteswissenschaft
bekennen, eine wirkliche Ahnung." [43]
Und Nikolai Berdjajew, ein sonst
anthroposophischen Ideen wohlwollend gegenüberstehender Denker, äussert zu diesem ent-individualisierenden Moment des
Fanatismus bei den Anthroposophen Folgendes:
"Gläubige Anthroposophen sind viel dogmatischer, viel
autoritätsgebundener als die orthodoxesten Orthodoxen und Katholiken." [44]
Was Berdjajew allerdings nicht sieht, sind die prinzipiell solche
Verhaltensmomente fördernden Anlagen im neuplatonischen 'Grundkonzept' der
Anthroposophie.
Und Beckmannshagen schreibt, Karl Rogers zitierend
[45],
"Der wahre Gläubige ist auch der Feind des Wandels [....] ... solche Leute
werden sich immer gegen prozeßbewußte Menschen wenden, die nach Wahrheit suchen.
Solche überzeugten Gläubigen besitzen die Wahrheit, und die andern müssen ihnen
zustimmen",
und ergänzt:
"Es sind also Leute, die nicht nur selbst nichts Neues mehr lernen, sondern
überhaupt anderes Sein nicht mehr akzeptieren oder auch nur gelten lassen
können. Sie werden blind für fremde Werte." [46]
Dieses Erblinden für fremde Werte, das sich Wenden gegen prozessbewusste
Menschen ist genau genommen gleichbedeutend mit einem Stillstand des Denkens
selbst. Denn 'Fremde Werte', zu denen ich mich im Moment des Kennenlernens in
einer eher indifferenten Position befinde, erfordern zum Verständnis eine
abwägende, eine dialogische Haltung, eben Dialektik. Dieses sich vom
Griechischen 'dialektike', bzw. 'dialegesthai', "sich unterreden" herleitende
Wort bezeichnet nach Hegel den Prozess des Denkens selbst. Ein Kernmoment dabei
ist die Zusammenschau von zunächst Gegensätzlichem. Hier haben es die
Anthroposophen und auch Steiner selbst - höflich formuliert - nicht sehr weit
gebracht.
Allerdings muss nun zu deren Ehrenrettung gesagt werden, dass auch die
Anhänger anderer 'Denksysteme' von derartigen Vorwürfen nicht ganz freizusprechen sind.
Dabei
ist die zeitliche Aktualität eines Denksystems keine Entschuldigung. Der Kern
eines jeden Fanatismus - und der zwangsläufig dazugehörigen unbewussten
Selbstzweifel - besteht darin, das eigene 'Weltverständnis' von einer und nur
einer Sache her aufzuziehen, ist also ein strukturell beschreibbares Phänomen,
ein Muster, das durchaus auch auf andere Fakultäten - und eben gerade auf Sekten! - bezogen
werden kann. Jede Form des Idealismus muss auf diese Phänomene hin abgeklopft
werden. So können zum Beispiel auch 'Anhänger' der Psychoanalyse dem
Denkstillstand anheimfallen, wenn alles und jedes immer in bei ihnen
entsprechend vorbereitete Interpretationsmuster fällt. Auch da wird die Welt von
nur einem Standpunkt aus gesehen und 'mit nur einem Hebel' bedient. Ein Beispiel
hierfür ist die bis etwa zu Beginn der Neunziger Jahre bei vielen
Führungskräften der Wirtschaft in Mode befindliche Unart des Psychologisierens.
Bleibt zu fragen, und? Hat es die Probleme der Firma gelöst? ..... Eben!
Auch Beckmannshagen stellt dies fest, er
spricht zwar nicht explizit von Dialektik, jedoch von der Fähigkeit, Gegensätze
miteinander verbinden zu können und benutzt die Gelegenheit gleich für
Spöttisches:
"Diesen, die Gegensätze verbindenden Standpunkt haben die Anthroposophen
leider nie gewinnen können. Steiner nicht, die Anhänger erst recht nicht. Mit
einer teils tragischen, teils komischen Einseitigkeit klammern sie sich an den
sogenannten geistigen Pol der Welt. Anthroposophen bietet die Erde allein keine
Freude. Sie können es auf ihr gewissermaßen nur aushalten, weil der Doktor ihnen versichert hat, daß alles spirituell durchsetzt ist.
Sie schätzen das Leben nicht um des Lebens willen, sondern weil der Doktor ihnen
erklärt hat, daß sie an seinem Ende in die geistige Welt eingehen. Dieses Leben
aus zweiter Hand im Banne geborgter Denkmuster, dieses ausschließliche
Second-hand-life ergibt die typische, sozusagen von weitem erkennbare
Anthroposophen-Persönlichkeit mit ihrem"peinlichen Charakter der
Fragmenthaftigkeit!" (Anm. J. Paul: B. zitiert hier Jung aus einem anderen
Zusammenhang sinngemäß) Von unbewußten Zweifeln
getrieben, entfalten diese esoterischen Eiferer einen exoterischen Bau-,
Tagungs- und Veranstaltungsrummel, als gelte es, das Kaliyuga in Beton zu gießen
und gleichzeitig die psychische Verfassung der Ameise zu realisieren." [47]
Es ist nun angebracht, sich zu fragen, was das oben als "Abspaltung des
Schattens" bezeichnete Phänomen bei den Anhängern der Anthroposophie und
damit auch in Waldorf-Kollegien für Effekte
verursacht. Für Beckmannshagen, der Steiner als sehr starke Persönlichkeit sieht
- was der Begründer der Anthroposophie ohne Zweifel auch war - ist Steiner
interpretierbar als ein Mensch, der seine dunklen Anteile mit schierer
Unterdrückungskraft abspaltete. In christlicher Metaphorik ausgedrückt ist er
der heilige Georg, der den Unterweltsdrachen besiegt. (Anm. J.Paul: Wo bleibt da
eigentlich die Prinzessin?) Aber eben nicht jeder
Mensch hat das Talent und die Kraft zum Drachentöter. Steiner hat 'seinen ganz persönlichen
und individuellen Weg der mentalen Entwicklung und Vervollkommnung' durch die
Gründung der Gesellschaft als Königsweg für alle genommen. Und genau dort steht
der Drache dann - vervielfacht! - wieder auf.
Exkurs: Übrigens lässt sich die mythische Bedeutung des Schattens für die
Anthroposophie auch direkt an der Tatsache ablesen, dass während der totalen
Sonnenfinsternis 1999 Dutzende von Waldorf-Lehrern mit ihren Schulklassen nach
Süddeutschland in den Kernschatten gefahren sind, um sich dort eurythmisch
singend und tanzend "Das Böse" aus dem Körper ziehen zu lassen. Das ist kein
Scherz!
Andere Menschen, in Verfolgung eines gleichen ethischen Ziels, nehmen den
Kampf mit dem Drachen gar nicht erst auf, sondern benutzen den psychischen Trick
der Verdrängung, sie tun so, als wäre ihr Schatten erst gar nicht da. Der Teil,
den man an sich nicht mag, wird eben aus dem Bewusstsein ausgeschlossen und
Punkt. So entsteht dann das oben schon genannte Fragmentarische,
Scheinpersönlichkeiten, die sich meist durch eine besonders hohe Differenz
zwischen Selbstbild und Fremdbild auszeichnen, da natürlich der 'Drache' im
Unterbewussten weiterwest und sein 'Unwesen' treibt.
Zu diesem psychologischen Phänomen schreibt Erich
Neumann:
"Das Ich verwechselt sich mit der Scheinpersönlichkeit ... und vergißt, dass
es Seiten besitzt, welche mit der Persona (Anm. J. Paul, 'Persona' ist hier als
'Scheinpersönlichkeit' zu verstehen) in Widerspruch stehen ... Das Ich hat
die Schattenseite verdrängt, und es besteht kein Kontakt zu den Dunkelinhalten,
die als negativ vom Bewußtseinsbezirk abgespalten sind." [48]
Für den erfolgreichen - wenn man das nach
heutigen Vorstellungen so bezeichnen kann - Weg der Unterdrückung hat das
Individuum Kraft aufzuwenden, man denke z.B. an Selbstdisziplinierung oder
Askese, dieser Kraftaufwand wird mit Leid bezahlt, das vom Individuum angenommen,
also bejaht wird. So haben die ausgeschalteten Persönlichkeitsanteile in den
Worten Neumanns "dauernd eine Verbindung zum Ich" [49].
Ist allerdings die Verdrängung der Weg der Wahl, die Nichtakzeptanz der
Existenz des Schattens, dann kann nicht mehr von einer Tugend gesprochen werden,
folgerichtig nennt C.G.Jung diese Form des psychischen Hochs "Ichinflation".
Fritz Beckmannshagen macht unter Waldorflehrern auf Anhieb "drei typische Erscheinungsformen der
Ichinflation" aus, die "immer wiederkehren und in jedem Waldorf-Schulkollegium
anzutreffen sind". [50] Die Beschreibungen von
Beckmannshagen sind m.E. auch für Mitglieder anderer anthroposophischer
Einrichtungen so treffend, dass sie hier nicht vorenthalten werden
sollen, sondern in voller Länge wiedergegeben sind:
Beckmannshagen: Der Kopfmensch:
"Der meines Erachtens angenehmste Typus ist noch der wirkliche
"Kopfmensch", der ausschließlich vom geborgten Wissen lebt. Er ist doktrinär wie
alle, aber kenntnisreich, unterhaltsam und hat - da Wissen auch Steiners Stärke
war - wirklich profitiert. Er leitet Kurse, versteht Einwände zu verarbeiten,
Argumente zurechtzubiegen und - was wesentlich ist - kann seinen unbelesenen
Brüdern und Schwestern die Eigenlektüre Steiners ersparen." [50]
Beckmannshagen: Der Willenstyp:
"Der unerfreulichste Typus ist zweifellos der "Willenstyp" der Steiners hohe
Wertsetzung erborgt und sich mit ihr identifiziert hat. Er muß deshalb stärker
als alle anderen seinen eigenen Schatten verdrängen. Er entwickelt darum nicht
selten bigotte und sadistische Züge von Selbstgerechtigkeit. Er ist ein
Tugendprediger und rechtes Ekel der Menschheit. "Verschiedene Male habe ich von
Neuseeland, via Australien, Schottland und Deutschland beobachtet, wie sich eine
Art von Superanthroposoph an die Spitze von Institutionen - meist Schulen oder
Behindertenheime - stellt und dann systematisch alles um sich ausrottet, was
auch nur das geringste Leben unterhalb der Halslinie zeigt." Jeder kennt
diesen Typus - auch aus anderen Glaubensgemeinschaften." [50]
Beckmannshagen: Der Geist der Lee(h)re:
"Typisch anthroposophisch scheint mir die dritte Form der Ichinflation zu
sein, die gefühlshafte Identifizierung mit Steiner selbst oder auch mit dem
Geist der Lehre als ganzem. Weder unbedingt belesen, noch unbedingt tugendhaft
befinden sich diese, meist weiblichen, Seelen in einer Art Dauerhöhenflug. Die
Ichinflation ist hier sozusagen durch 'nichts' erreicht worden, und der besonnene
Zuhörer kann nur erschrecken, wenn er hört, mit welcher Leichtfertigkeit die
Betreffenden gelassen über die komplexesten Zusammenhänge reden und urteilen." [50]
Beckmannshagen bietet auch gleich eine
Interpretation an, wer will, mag in den drei Typen die Bösewichter des neuen
Testaments sehen, den Schriftgelehrten, den selbstgerechten Pharisäer und den
Hohepriester. Allerdings drängt sich dann die Frage nach dem vierten Typus, dem
von allen verachteten Zöllner auf. Beckmannshagen hierzu:
"Keine Waldorfschule, keine
anthroposophische Institution könnte ohne ihn existieren. Es sind jene stillen
Kollegen und Mitarbeiter, die in keiner Konferenz den Mund aufmachen, aber immer
ihre Arbeit und nicht selten die der andern mittun. Sie stehen ganz im 'Schatten'
ihrer aufgeblähten Brüder und Schwestern. Sie haben weder das Wissen der einen,
noch die 'Tugend' der anderen und am allerwenigsten das Selbstwertgefühl der
dritten Gruppe erreicht. Unter dem immerwährenden Eindruck von so viel
kollegialer Pracht leiden sie - psychologisch gesprochen - an einer
'Ichdeflation'. Beim Evangelisten Lukas heißt es: 'Der Zöllner aber stand ganz
hinten und getraute sich nicht einmal aufzublicken. Er schlug sich nur an die
Brust und sagte: "Gott hab Nachsicht mit mir, ich bin ein schlechter Mensch"'" [51,52].
Wie wir aus dem neuen Testament wissen, kommentiert Jesus
den Zöllner als denjenigen, der gegenüber den drei anderen Typen alle Chancen
hat, denn der Zöllner anerkennt wenigstens
seine Schlechtigkeit, also seinen Schatten. Aber in den Augen der Schriftgelehrten, Pharisäer und
Hohepriester sind allerdings alle Zöllner, auch diejenigen die die Lehre des Meisters nicht
anerkennen.
Zugegeben, diese vier Charaktere mögen eine für Menschen allzu einfache
Typologie darstellen, allerdings brauchen sich gerade Anthroposophen nicht darüber
zu beklagen, hat uns Rudolf Steiner das nicht selbst vorgemacht?
Jedenfalls ergeben sich - schon aus dieser einfachen Typologie - für die Gruppe oder für ein Waldorf-Kollegium recht interessante
gruppendynamische Verhaltenspatterns und Reaktionsmuster.
So ist der Zöllner oft nur in Relation zu den drei anderen Typen zu sehen,
herausgelöst aus dem Arbeits- und Lebensumfeld einer Waldorf-Schule oder einer
anderen anthroposophischen Einrichtung ist er nicht auffällig und eher normal zu
nennen, er zeichnet sich ja auch nicht durch Fragmenthaftigkeit, Aufgeblasenheit
oder 'Schattenlosigkeit' aus. Er 'gewinnt' seine Rolle erst im Kontext mit den
drei anderen, und meist als Wasserträger oder Kärrner des Systems. Zöllner sind
meist keine Mitglieder z.B. einer Schulleitung.
Als ehemaliger Insider des schulpsychologischen Dienstes
beschreibt Fritz Beckmannshagen einige Konfliktfälle in Kollegien von Waldorfschulen, in denen
einzelne Kollegen psychisch massivst und bis an den Rand des Zusammenbruchs vom
Kollektiv unter Druck gesetzt wurden. Er diagnostiziert für die anthroposophische
Gruppendynamik gegenüber der anderer Schulkollegien ein besonders häufiges
Auftreten des sogenannten Sündenbockphänomens.
Die Psychologie bezieht sich hier metaphorisch auf den alttestamentarischen
Brauch, am dritten Tag des jüdischen Versöhnungsfestes einen lebenden Bock durch
das Los auszuwählen, über dem dann der Hohepriester die Sünden der Kinder
Israels beichtete. Nach diesem symbolischen Übertrag der Sünden auf das Tier
wurde der Bock buchstäblich "in die Wüste geschickt" und dort sich selbst
überlassen. Die Gemeinschaft entledigte sich über dieses im Grunde harmlose
Ritual ihres schlechten Gewissens. Allerdings war man sich des Symbolcharakters
dieser religiösen Handlung durchaus bewusst.
In der Psychologie bezeichnet das Sündenbockphänomen eine Verhaltensweise
einer Gruppe, eines Kollektivs, bei der die individuellen Verdrängungsprozesse
der einzelnen Personen sich mit einer kollektiv auftretenden Projektion koppeln.
Die Hexenprozesse der frühen Neuzeit und die Rolle der Juden in den Augen der
Nazis sind grossgesellschaftliche Beispiele für dieses Phänomen.
Diese Projektion hat eben den "Sündenbock" als Ziel, unabhängig davon, was
für eines 'Vergehens' sich diese Person schuldig gemacht hat. Meist reichen
kleine Anlässe aus, damit ein solcher Prozess ins Rollen kommt oder sich gar ein
neues Ziel sucht. Bei den gläubigen Mitgliedern des Kollektivs sind es die
Schatten, die geleugneten, verdrängten und im Unterbewussten weiterwesenden
Persönlichkeitsanteile, die dafür sorgen, dass dieses Bedürfnis nach
'reinigender Projektion' nie ganz aufhört. Die 'Schattenverdränger' entwickeln
oft ein exorbitantes Bestreben, eben ihre Schatten an Mitmenschen zu entdecken
und dann dort vehement zu bekämpfen, wobei die Zöllner sich geradezu als Ziel
für Sündenbockkampagnen anbieten.
Diese Sündenbockpsychologie ist übrigens ein zwangsläufiges Grundmuster aller
Glaubensgemeinschaften mit praktizierter 'Verdrängungsethik'. Wie der Autor
Freimann in einem anderen Beitrag zeigt, gilt dies nicht nur allgemein für
Sekten, sondern ist - zwar unter einem anderen Namen - bei Scientology ein
institutionalisiertes Prinzip!
Bitte stellen Sie sich nun vor, ein oder mehrere Lehrer oder Lehrerinnen mit
'Zöllnermuster' treffen in einem Kollegium auf mehrere Ausgaben der ersten drei
o.g. Typen. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Selbstredend muss nach
Beckmannshagen auch damit gerechnet werden, dass in einer solchen Gemeinschaft
der 'Problemschüler' auf eine Umgebung trifft, die ihm nicht dabei hilft, seine
Probleme in den Griff zu kriegen, sondern stattdessen auch in den Klassen das
Sündenbockprinzip anwendet. Die Folgen für die Psyche der Kinder und
Jugendlichen sind katastrophal, da hier unsere ethischen Grundprinzipien - z.B.
das 'im Zweifel für den Angeklagten', um nur eins zu nennen - nicht greifen
können. Und damit ist natürlich auch die Vermittlung unserer demokratischen
Prinzipien und Werte - gerade und einschließlich dem des moderierten Konfikts -
fürs erste den Bach hinunter, an was soll sich das Kind dann orientieren?
Selbstverständlich treten solche Phänomene gelegentlich auch an staatlichen
Schulen auf. Ist hier ein Konflikt partout nicht lösbar, gibt es aber immer noch
institutionalisierte Lösungsmöglichkeiten über die Schulaufsicht, den
schulpsychologischen Dienst, etc. Im Falle der Waldorfschulen gestaltet sich
dies jedoch weitaus schwieriger.
Es wurde nicht nur versucht, nachzuweisen, dass es im Falle der
Waldorfschulen und der Anthroposophie eklatante Differenzen zwischen den
Ansprüchen auf der einen und den Wirklichkeiten auf der anderen Seite gibt, so
im Falle des Anspruchs der Persönlichkeitsbildung für Kinder, vielmehr konnte
gezeigt werden, dass bereits in den 'philosophischen' und esoterischen
Voraussetzungen der Waldorfpädagogik im Werk Steiners in principio die
Fundierung einer Glaubensgemeinschaft oder Sekte angelegt ist. Zudem
leitet sich unmittelbar aus der Steinerschen Annahme, bzw. dem Glauben an die
Möglichkeit einer Anschauung von Idealtypen, eben Idealen und deren
absoluter Gültigkeit, das ganze üble Konstrukt von einer Art von Leitbildern
her, die in keinster Weise durch eingehende moderne wissenschaftliche Prüfungen
gerechtfertigt sind, noch solchen Prüfungen standhalten.
Gewissermaßen als Tipp für Disputanden ist zu sagen, dass es überhaupt nichts
bringt, mit einem gestandenen Anthroposophen inhaltlich
zu diskutieren, er wird Sie in seiner besseren Kenntnis des Werks von Steiner
hier immer widerlegen können. Kommt man allerdings über die Struktur, auch unter
Hinweis auf den Neuplatonismus und seine Stufen der Erkenntnis, fällt das
gesamte Gedankengebäude wie ein Kartenhaus zusammen. Aber Vorsicht! Ein
Anthroposoph wird in der Mehrheit der Fälle lieber dieses zusammengefallene
Kartenhaus beziehen, als irgend etwas anderes.
Den Eltern von Schülerinnen und Schülern ist zu sagen, dass - wie oben schon
angedeutet - die Wahl einer Waldorfschule nicht unbedingt eine schlechte sein
muss, es ist jedoch darauf hinzuweisen, das im Falle eines Konfliktes, der die
Psyche Ihres Kindes/ Ihrer Kinder immer stark in Anspruch nehmen kann, das
staatlich organisierte Schulsystem bessere und mehr Möglichkeiten des
elterlichen Eingreifens und der Beschwerdeführung erlaubt. Darüber hinaus ist
hier die Chance relativ gering, und auch dass kann den Ausschlag für die
Schulwahl geben, dass ein Konflikt gleich weltanschaulich ausartet. Ich, der
Verfasser bin der subjektiven Ansicht und ich äussere diese hier bewusst, das
Waldorfschulen zwangsläufig Weltanschauungsschulen sind. Punkt.
Allerdings mag es die ein oder andere Waldorfschule geben, die so heisst, aber
de facto keine mehr ist. Dann liegt das u.U. an den dort arbeitenden 'Zöllnern'.
Auch ging es mir nicht darum, einen Konflikt herbeizurufen oder zu dessen
Eskalation beizutragen. Vielmehr sollten die Waldorfschulen - und dort die
offenen Geister - m.E. von staatlicher Seite bewusst gestützt werden in
Prozessen, die zu Öffnung und Austausch beitragen. Schulen sind Inseln,
Waldorfschulen umso mehr, auf denen heranwachsende Menschen auf ein Leben
ausserhalb der Insel vorbereitet werden.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft unserer Kinder.
Die Knoten des Netzes müssen zu Schulen werden. (Vilém Flusser)
Neuss, den 07.03.2002,
Joachim Paul
jpaul@xpertnet.de
Der Kampf gegen die Dummheit hat gerade erst begonnen.
Motto der Wochenzeitschrift DIE ZEIT.
(*1) Hermeneutik, Der Begriff leitet sich her vom
griechischen hermeneutiké [techné], "Kunst der Auslegung",
Verdolmetschungskunst, Erklärungskunst (Hermes war in der griechischen
Mythologie der Vermittler zwischen Göttern und Menschen). Die Hermeneutik war
die besondere Methode der klassischen Sprachwissenschaft, um alte
Literaturdenkmale sinngemäß auszulegen. Besonders durch die Arbeit der sog.
Historischen Schule im 19 Jh., seit Schleiermacher, wurde sie die spezifische
geisteswissenschaftliche Methode. Sie ist die Lehre vom wiss. Verstehen, vom
wiss. Begreifen geisteswissenschaftlicher Gegenstände. Quelle: Philosophisches
Wörterbuch, Heinrich Schmidt, 21. Aufl., Kröner, Stuttgart 1982
(Weiterlesen im Text)
(*2) Kohärenz,
vom lateinischen cohaerere, "zusammenhängen", Zusammenhang, Kohärenzprinzip, der
Grundsatz, dass alles Seiende miteinander in Beziehung steht, ... Quelle:
Philosophisches Wörterbuch, Heinrich Schmidt, 21. Aufl., Kröner, Stuttgart 1982
Hier gemeint als inhaltlicher Zusammenhang einer Lehre.
(Weiterlesen im Text)
(*3) Ahriman,
mittelpersisch für Angra Mainyu, der böse
Geist, teuflischer Widersacher des Lichtbringers Ahura Mazda in der Religion des
persischen Propheten
Zarathustra. Die Überwindung Ahrimans durch Ahura Mazda und die Seinen
beendet den Weltprozess und führt das erwartete Reich Gottes herbei. Nach der
Sichtweise Steiners und der Anthroposophie vertritt Ahriman das dunkle Prinzip
im Gegensatz zum Lichtbringer Ahura Mazda. Zwischen beiden steht der
Christusgeist als Leitfigur für den gläubigen Menschen. Stellt man in Rechnung,
dass eine Religion realiter ausnahmslos immer etwas Neugeschmiedetes aus
religiösen Elementen der Vergangenheit ist, dann entpuppt sich Steiner hier als
Religionsstifter, der allerdings ziemlich unkreativ mit Versatzstücken aus der
Vergangenheit umgeht.
(Weiterlesen im Text)
(*4) Phänomenalismus, diejenige Richtung der
Philosophie, welche die Gegenstände der Erfahrung als Erscheinungen (Phänomene)
eines unerkennbaren "Dinges an sich" betrachtet (objektiver Phänomenalismus,
Kant, Schopenhauer, Herbart, Lotze, E.v.Hartmann) oder überhaupt als bloße
Bewußtseinsphänomene bzw. subjektive Empfindungen (extremer Phänomenalismus,
Mach, Vaihinger). Quelle: Philosophisches Wörterbuch, Heinrich Schmidt, 21.
Aufl., Kröner, Stuttgart 1982
(Weiterlesen im Text)
(*5) Panlogismus, griech., All-Vernunft-Lehre, nach
welcher der Logos, die Vernunft, als das absolut Wirkliche, die Welt als
Verwirklichung (Objektwerdung) der Vernunft aufzufassen ist; auch die Lehre von
der logischen Natur des Weltalls, die Philosophie Hegels wird bisweilen so
genannt. Quelle: Philosophisches Wörterbuch, Heinrich Schmidt, 21. Aufl.,
Kröner, Stuttgart 1982
(Weiterlesen im Text)
(*6) Solipsismus, lat. solus, "allein", ipse,
"selbst", philosoiphische Meinung, die das subjektive Ich mit seinem
Bewusstseinsinhalt für das einzig Seiende hält. Quelle: Philosophisches
Wörterbuch, Heinrich Schmidt, 21. Aufl., Kröner, Stuttgart 1982
(Weiterlesen im Text)
(*7) Agnostizismus, vom griech. agnostos,
"unbekannt", die Lehre von der Unerkennbarkeit des wahren Seins, d.h. von der
Transzendenz des Göttlichen (deus absconditus, der abwesende Gott), im weiteren
Sinne von der Unerkennbarkeit der Wahrheit und der Wirklichkeit überhaupt.
Quelle: Philosophisches Wörterbuch, Heinrich Schmidt, 21. Aufl., Kröner,
Stuttgart 1982
(Weiterlesen im Text)
(*8) Entelechie, aus griech. en, "in", telos, "Ziel"
und echein, "haben", was sein Ziel in sich selbst hat, nach Aristoteles die
Form, die sich im Stoff verwirklicht, das aktive Prinzip, welches das Mögliche
erst zum Wirklichen macht und dies zur Vollendung seines Daseins bringt. Quelle:
Philosophisches Wörterbuch, Heinrich Schmidt, 21. Aufl., Kröner, Stuttgart 1982
(Weiterlesen im Text)
[1] Heinz von Foerster, Über das Konstruieren von
Wirklichkeiten, in: Sicht und Einsicht, Vieweg, Brauschweig 1985, S. 25-42
(Weiterlesen im Text)
[2] Heiner Ullrich, Wissenschaft als rationalisierte
Mystik. Eine problemgeschichtliche Untersuchung der erkenntnistheoretischen
Grundlagen der Anthroposophie, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift
für Erziehung und Gesellschaft. 28, 1988
(Weiterlesen im Text)
[3] Lorenzo Ravagli, Geistesgeschichte als Archäologie der
Worte, Heiner Ullrichs exemplarisches Scheitern an der
Anthroposophie, in: Ernst-Michael Kranich/ Lorenzo Ravagli (Hrsg.),
Waldorfpädagogik in der Diskussion., Eine Analyse
erziehungswissenschaftlicher Kritik. Erziehung vor dem Forum der Zeit.
Schriften aus der Freien Waldorfschule. Bd. 17. Stuttgart, Verlag Freies
Geistesleben 1990, 257 S.
(Weiterlesen im Text)
[4] Hans Scheuerl, Waldorfpädagogik in der Diskussion/ Ein
Überblick über neuere Veröffentlichungen, Zeitschrift für Pädagogik, 39 Jg.,
1993, Nr. 2
(Weiterlesen im Text)
[5] Keith J. Devlin, Goodbye, Descartes : The End of Logic
and the Search for a New Cosmology of the Mind
Barbour Publishing, 1997
(Weiterlesen im Text)
[6] Heinrich Schmidt, Philosophisches Wörterbuch, 21.
Aufl., Kröner, Stuttgart 1982
(Weiterlesen im Text)
[7] Rudolf Steiner, Gesamtausgabe, 121, S.107 f
(Weiterlesen im Text)
[8] Rudolf Steiner, Gesamtausgabe, 53, 76
(Weiterlesen im Text)
[9] Rudolf Steiner, Gesamtausgabe, 349,55
(Weiterlesen im Text)
[10] Rudolf Steiner, Gesamtausgabe, 354, S 62 f
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[11] Rudolf Steiner, Gesammelte Aufsätze der Literatur,
Dornach 1971, S. 152 f, Gesamtausgabe 32
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[12] zitiert nach Christof Hamann, "Kräfte, die zum
Aussterben führen", Artikel in der taz Nr. 6250 vom 20.9.2000, Seite 12,
Bildung
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[13] Peter Bierl, Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister.
Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik, Konkret Literatur
Verlag, 1999
(Weiterlesen im Text)
[14] Stephen Jay Gould, „Illusion Fortschritt, Die
vielfältigen Wege der Evolution",
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 1998
(Weiterlesen im Text)
[15] Das vorauseilende Gehirn, Die Evolution der menschlichen
Sonderstellung,
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 1996
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[16] Detlef Hardorp, Was will Waldorfpädagogik? Artikel
auf der WebSite
www.waldorfnet.de
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[17] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom
Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, Dornach 1929, S. 10
(Weiterlesen im Text)
[18]
Fritz Beckmannshagen, Rudolf Steiner und die
Waldorfschulen, Eine psychologisch-kritische Studie, Paul-Hans Sievers
Verlagsgesellschaft mbH Wuppertal, 1984
(Weiterlesen im Text)
[19], Wie 17, S. 28 f
(Weiterlesen im Text)
[20] Wie 17, S. 18 f
(Weiterlesen im Text)
[21] Erich Gabert, aus dem Verzeichnis der Äusserungen
Rudolf Steiners über den Geschichtsunterricht. Aus seinen pädagogischen
Schriften und Vorträgen zusammengestellt, als Manuskript vervielfältigt durch
die Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen,
Stuttgart 1955, S. 22
(Weiterlesen im Text)
[22] Wie 18, S. 29
(Weiterlesen im Text)
[23] Rudolf Steiner, Das Geheimnis der menschlichen
Temperamente, Basel 1975, S. 29 -38
(Weiterlesen im Text)
[24] Wie 18, S. 32
(Weiterlesen im Text)
[25] Wie 23, S. 11
(Weiterlesen im Text)
[26] Christoph Lindenberg, Riskierte Schule, Die
Waldorfschulen im Kreuzfeuer der Kritik, in: Fritz Bohnsack, Ernst-Michael
Kranich, Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik, Beltz, Weinheim, Basel
1990, S. 362-366
(Weiterlesen im Text)
[27] Wie 18, S. 33
(Weiterlesen im Text)
[28] Rudolf Steiner, Gegenwärtiges Geistesleben und
Erziehung, Stuttgart 1957, S. 191
(Weiterlesen im Text)
[29] Abraham H. Maslow, Psychologie des Seins., 2. Aufl.
München 1981, S. 198, hier zitiert nach Beckmannshagen
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[30] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als
Grundlage der Pädagogik, 2. Vortrag
(Weiterlesen im Text)
[31] Wie 18, S. 70
(Weiterlesen im Text)
[32] Thomas Mann, Freud und die Zukunft, in: Schriften und
Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, 2. Band, Frankfurt a.M. 1968, S.
230
(Weiterlesen im Text)
[33] Gerhard Wehr, Rudolf Steiner, Freiburg i. Br., 1982,
S. 282
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[34] Wie 18, S. 71f
(Weiterlesen im Text)
[35] Wie 30, 4. Vortrag
(Weiterlesen im Text)
[36] Wie 18, S. 73f
(Weiterlesen im Text)
[37] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, Stuttgart 13. Aufl.,
Dornach, 1973, S. 138ff
(Weiterlesen im Text)
[38] Warren McCulloch, The Past of a Delusion, in: Warren McCulloch,
Embodiments of Mind, MIT Press, Cambridge, Mass, 1st. ed, 1965, p.276-306
(Weiterlesen im Text)
[39] Adelbert von Chamisso,
Die wundersame Geschichte des Peter Schlemihl, 1813
(Weiterlesen im Text)
[40] Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Neue
Beiträge zu einer Kritik der Sprache,
Erste Ausgabe: München 1910. Hier nach der zweiten, vermehrten Auflage,
Leipzig 1923
[aus: Digitale Bibliothek Band 3: Geschichte der Philosophie, S. 10931]
(Weiterlesen im Text)
[41] wie 40, [aus: Digitale Bibliothek Band 3: Geschichte
der Philosophie,
S. 22250]
(Weiterlesen im Text)
[42] Wie 18, S. 102f
(Weiterlesen im Text)
[43] Rudolf Steiner, Vortrag vom 1.10.1917
(Weiterlesen im Text)
[44] Nikolaij Berdjajew, Selbsterkenntnis, Darmstadt,
1953, S. 211
(Weiterlesen im Text)
[45] Karl Rogers, Die Kraft des Guten, München, 1978, S.
275
(Weiterlesen im Text)
[46] Wie 18, S. 104
(Weiterlesen im Text)
[47] Wie 18, S. 104f
(Weiterlesen im Text)
[48] Erich Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik,
München, 1964, S. 26
(Weiterlesen im Text)
[49] Wie 48
(Weiterlesen im Text)
[50] Wie 18, S. 108
(Weiterlesen im Text)
[51] Lukas 18, 13
(Weiterlesen im Text)
[52] Wie 18, S. 109
(Weiterlesen im Text)
Einige Links zum Thema, kein Anspruch auf Vollständigkeit
Die WebSite der Aktionsgemeinschaft Kinder des Holocaust bietet u.a.
Material und viele Links zur Anthroposophiekritik:
www.akdh.ch
WebSite
zur Anthroposophie von Lorenzo Ravagli:
www.anthroposophy.com
Die Site ist gut gepflegt und wird regelmäßig aktualisiert. Es kann darüber
hinaus ein Einblick in das Werk Steiners gewonnen werden, einige Titel sind
hier in vollem Umfang digital einsehbar, u.a. die Philosophie der Freiheit.
Eine internationale WebSite, die sich kritisch mit Waldorfpädagogik
auseinandersetzt: www.waldorfcritics.org
Neben allgemeinen Informationen bietet die Site auch interaktive Features, wie
z.B. Newsgroups für Betroffene.
Die HomePage des Bundes der Freien Waldorfschulen:
www.waldorf.net mit
umfangreichen Informationen zu Waldorfbewegung und Waldorfpädagogik weltweit.
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