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Buchcover

Apokalypse Now! Völker im Hyperraum

 

Gotthard Günther erzählt die "Entdeckung Amerikas" als Apokalypse des 21. Jahrhunderts

von Cai Werntgen

 

Was geschah vor dem 11. September? Was mußte geschehen sein, damit so etwas geschehen konnte? Mit solchen Fragen hat in der Stille nach dem ersten Schock eine zweite Phase der Ursachenforschung zum „Schwarzen Dienstag“ von New York und Washington eingesetzt. Und während Sinn und Erfolg der Vergeltungsschläge, die im Namen der sog. „zivilisierten Welt“ seit dem 7.Oktober gegen strategische Ziele in Afghanistan geflogen werden, zunehmend ins Fadenkreuz der Kritik geraten, wird der Ruf nach einem zweiten Blick auf das Menetekel vom 11. September immer lauter. Wer wollte behaupten, er hätte die bei aller Eindeutigkeit nach wie vor rätselhafte Gewaltschrift auf der New Yorker Skyline tatsächlich entziffert? Angesichts solcher Überforderung scheint der Vorschlag, einen informellen Sonderforschungsbereich zum Thema "Amerika“ ins Leben zu rufen, überfällig. Seine Aufgabe würde darin bestehen, drohender Hypnose durch die Sammlung neuer Spuren, Perspektiven vorzubeugen. Nicht Denkverbote, sondern Inspiration durch methodische Selbstirritation wäre hier das Gebot der Stunde. Denn der Vorwurf, überhört zu haben, wäre vielleicht das Schlimmste, was uns in Zukunft zugestoßen sein könnte.
Zu den Stimmen, die in dieser zweiten Fragestunde zu Wort kommen sollten, gehört der dt.-amerik. Philosoph und Logiker Gotthard Günther (1900-84). Gotthard Günther nämlich ist der heimliche Urheber des derzeit so vielzitierten „Clash of civilisations“. Bereits 1950 - also ein halbes Jahrhundert vor Huntington – hatte Günther den Anbruch eines Zeitalters „bitterster Kulturkriege“ prophezeit. Und zwar gerade nicht als Konflikt mehrerer hochkultureller global player, sondern als Konfrontation eben dieser alten Hochkulturen mit einem epochal neuen Kulturformat, das unter dem Namen „Amerika“ die Bühne der Weltgeschichte betreten hat. Günther versteht die „Entdeckung Amerikas“ als Apokalypse des 21. Jahrhunderts – nämlich als Übergang von einem über zweitausendjährigen Stadium regionaler Hochkultur in eine Phase planetarisch-technischer Weltzivilisation. Mit dem Erscheinen der „Amerikanischen Apokalypse“ aus dem Nachlaß ist Günthers grandiose Deutung dieser traumatischen Zukunftsschwelle nun erstmals zugänglich geworden. In ihrem Licht ergibt sich ein ebenso unheimlicher wie faszinierender kulturpsychologischer Blick durch die Trümmerschwaden über „ground zero“. Was hat der 11. September mit dem 12.10.1492 zu tun? Das ist die Schlüsselfrage, mit der sich Günther in die aktuelle Terrordebatte einmischt. Denn die Apokalypse vom schwarzen Dienstag könnte nur ein Vorbeben eines Epochenbruches gewesen sein, für den er die Formel „Amerikanische Apokalypse“ vorschlägt.

 

Die vergessene Zweite Odyssee

"Odysseus" - so lautet die mythische Formel abendländischer Individualität. Der sagenhafte Rückweg von Troja nach Ithaka gilt als Paradigma alteuropäischer Selbstdisziplinierung durch Identität schlechthin. Heimweh ist ihr Antrieb, List und Kalkül ihre logistischen Instrumente. Wohin denkt das alteuropäische Subjekt? Immer nach Hause, immer zurück aus der Fremde. Denn Herkunft ist Zukunft und Ankommen heißt Zurückkommen, am besten dorthin, wo wir immer schon gewesen waren, also in die Provinz. Doch der Weg nach Ithaka ist kein Triumphzug. Tod, Schmerz und Askese machen den Zivilisationsprozeß zum Passionsweg. Bittere Opfer säumen die via dolorosa der Fortschrittskaravane. Herz und Natur, Liebe und Freundschaft, Idylle, Traum und Kunst sind nur die prominentesten. Und am Ende ist jeder zu Hause, aber niemand mehr so richtig glücklich. So jedenfalls der Tenor bisheriger Odysseusforschung im Anschluß an Horkheimers und Adornos "Dialektik der Aufklärung". Eine ganz andere Variante des Heimkehrer-Mythos dagegen präsentiert uns der Philosoph und Logiker Gotthard Günther (1900-84) in seinem jüngst edierten Nachlaßmanuskript "Die Amerikanische Apokalypse" von 1952. Unter Berufung auf mittelalterliche Geheimquellen verfolgt Günther dort die Apokryphe einer vergessenen zweiten Odyssee. Danach soll sich der alteuropäische Identitätsstifter direkt nach erfolgreicher Rückkehr gelangweilt von Heimat, Thron und Familie noch ein zweites Mal eingeschifft haben. Diesmal jedoch zu einer Fahrt ohne Rückkehr, ohne Ithaka. Jedenfalls verliert sich das Schicksal dieser zweiten Ausfahrt jahrhundertelang spurlos in der leeren Weite der offenen See. Es ist schließlich Dante, der das Geheimnis der zweiten Ausfahrt lüftet. Im 26. Gesang seines Infernos hat der Verschollene als Hauptzeuge eines exemplarischen Schiffbruchs vor katholischen Zuschauern seinen letzten Auftritt. Eingereiht in die Heidenprozession der Büßer und Sünder läßt Dante den zweiten Odysseus dort die mea culpa seiner Hybris aufsagen. Er sei, so Dantes Odysseusbeichte, bei dem Versuch, die Grenzen der Alten Welt zu passieren und in das menschenleere Neuland jenseits der Säulen des Herkules vorzustoßen, Opfer des "unendlichen und schrecklichen Ozeans im Westen" geworden. Gotthard Günther entziffert dieses altkatholische Seefahrertribunal nun urszenisch. Ja, es liefert ihm den Schlüssel für eine nicht minder hybride Neuerfindung der Kulturphilosophie als Geopsychologie. Auf den bloßen nautischen Koordinaten der Odysseusschen Inquisitionsakte errichtet Günther eine gigantische Theoriebühne, auf der er die bisherige Weltgeschichte als geographisches Psycho-Drama in Spenglerscher Manier Revue passieren läßt. Sein Titel: "Die abendländische Seele und der metaphysische Terror vor dem Westen". Hier beginnt alles mit dem Ende, also den Säulen des Herkules. Denn die Straße von Gibraltar markiert für die alteuropäische Seele die spirituelle Schwelle schlechthin. Dahinter nämlich lauert der Atlantik, das eigentliche Medusenhaupt der Alten Welt. In Günthers Drehbuch ist er das Raummonster, vor dem die Formate des klassischen Weltbildes mitsamt seinem Götterhimmel bedingungslos kapitulieren. Selbst Athene, die Schutzpatronin der Philosophie, die noch den ersten Odysseus auf seinem Gang durch den Mittelmeerhades begleitet hatte, bleibt auf diesem Ozean machtlos. Nicht erst seit heute also steht die Alte Welt mit dem Rücken zum transatlantischen Fenster. Nach Westen fahren heißt für Abendländer seit jeher sterben. Das Grab der zweiten Odyssee im Atlantik ist die heimliche Geburtsstätte Europas. "Ithaka"? Für Günther eine antiatlantische Abwehrvokabel ante litteram. Denn für die, die im Westen untergehen, kann das Licht in Zukunft nur noch aus dem Osten kommen -"Ex oriente lux!".

 

Erfindung der Geopsychologie

Nun ist der Hinweis auf die elementare Bedeutung von Raum und Meer für die kulturelle Psychogenese an sich nicht neu. Bereits um 1920 hatten etwa Georg Simmel und Oswald Spengler das Projekt „Kulturgeschichte als Raumforschung“ formuliert. Simmel soziologisch mit dem Hinweis auf das "räumliche Apriori jeder Vergesellschaftung", Spengler in der Pose des Universalhistorikers. "Raum als Ursymbol der Kultur" - so seine raunende Pathosformel, die zeitgleich mit der Losung vom "Volk ohne Raum" zwischen den Weltkriegen die Runde machte. Wenig später sprach Carl Schmitt sogar ganz konkret von der Differenz ozeanisch und kontinental fixierter Kulturseelen ("Land und Meer" 1944). Nach dem Krieg waren es zunächst Blumenbergs Schiffbruch-Meditationen von 1979, die an das Meer als Daseinsmetapher existenzieller Grundlosigkeit erinnerten. Seither gehört die Opposition von Landratten und Seefahrern, Raumphobie und Raumlust zum festen Inventar moderner Anthropologie. Und zuletzt Michel Foucault, der den Gefängnischarakter moderner Raumpolitik untersuchte (Überwachen und Strafen, 1975). Kurz vor seinem Tod ging er gar soweit, ein neues "Jahrhundert der Raumphilosophie" zu prophezeien. Gotthard Günther aber will mehr. Bei ihm wird Raumdenken zu einer spirituellen Disziplin. Die Kulturphilosophen haben die Psychodynamik der Umweltrelationen nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, ihren metaphysischen Raumcode zu knacken. Wie? Nun, indem wir Heideggers Umweltanalysen auf das Großformat von Kulturen, ja ganzen Epochen übertragen. Denn "Seele" ist gerade keine anthropologische Konstante, sondern ein regionales Nischenprodukt, ein Luxuseffekt geschlossener Raumlagen. „Seele“ entsteht, und zwar genau dann, wenn Menschen im Schutz natürlicher Grenzen feste Bindungen zu konstanten Landschaften eingehen können. Nur im Treibhausklima regionaler closure gedeiht zwischen Mensch und Welt jener intime Gesprächskreis, der beim primitiven Animismus einsetzt und mit dem Elaborat einer ausgewachsenen Tiefenseele alias "Subjekt" endet. Alle Metaphysik ist daher im Kern Landschaftsreligion. Wie ein Meridian zieht sich die Idylle der Landschaftsandacht durch das euroasiatische Kontinuum. Ob indischer Regenwald oder ägäische Mittelmeerenklaven, ob arabische Wüste oder der berüchtigte teutonische Wald - geopsychologisch wiederholt sich hier überall nur ein- und dasselbe Raumritual: der Kniefall vor einem Außen, dessen Übermacht nicht einfach vernichtet, sondern zu Kontemplation und Askese verführt. Die eigentlichen Tempel und Kathedralen der Hochkulturen stehen deshalb innen. Innen ist der heilige Ort, an dem todtraurige und ohnmächtige Seelen solange an ihren Himmelfahrten arbeiten, bis sie das Echo draußen über den Wipfeln erlöst: "Warte nur, balde ruhest du auch." In dieser Hinsicht sagen Konfuzius, Buddha, Plato, Christus und Goethe dasselbe. Die heimliche Achse jener Achsenzeit, von der Jaspers gesprochen hatte, ist daher "Raumangst".

 

Kolumbus und die Geburt des Hyperraums

Das Ende dieses Weltalters mystischer Provinzen endet nun jedoch exakt im Morgengrauen des 12. Oktober.1492. Lange vor 1789 ist es die Kolumbuslandung vor den Bermudas, mit der für Günther das neuzeitliche Revolutionszeitalter beginnt. Es ist der Tag, an dem der mentale Westwall, der die Alte Welt gegen mindestens sechs vorkolumbische Amerikaentdeckungen immunisiert hatte, endgültig seinen Geist aufgibt. Auch Günther begreift die Globalisierung daher als heimliche Mutter aller Revolutionen der Moderne. Jedoch stellt er die Globalisierungsfrage eben geopsychologisch. Raumrevolution nämlich heißt mehr als Raumerweiterung. Wer den atlantischen Leviathan bezwungen hat, der hat mit der Alten Welt nicht nur einen Kontinent hinter sich gelassen, sondern sein Kostbarstes, ja Innerstes überhaupt - eben seine "Seele". Aber gerade diese "Seelenlosigkeit" ist es, die für Günther den wahren Adel neuzeitlicher Avantgarde ausmachen soll. Kolumbus und seine Nachfahren sind die eigentlichen Revolutionäre der Moderne, weil sie das Examen vorwegnehmen, das der Alten Welt seither bevorsteht: der coole take off ins Monströse, das angstfreie Navigieren in Räumen, die für Seelen viel zu groß sind. In Hyperräumen nämlich überlebt nur, wer alle Erwartung auf Heimat und Ursprung fahren läßt. Eben nicht Andacht, nicht Erinnerung, sondern Aufbruch, Projekt und Erfindung. Kein Schritt zurück, kein Ithaka, sondern weiter, immer weiter, nach vorne, ins Offene, Grenzenlose. Hyperräume sind Gedächtnisschlucker. Selbst wer wie Kolumbus ausfuhr, Indien zu suchen, wird, ob er will oder nicht, am Ende in Silicon Valley gelandet sein. Tatsächlich liefert Günther damit bereits 1950 den utopischen Stoff, aus dem die digitalen Träume der kalifornischen Supermoderne dieser Tage sein werden. Netkids, Cyberfreaks, Extropianer – das sind die technomythischen Blaupausen jenes „uomo novo“, dessen Neuanfang aus keiner Renaissance, sondern aus nichts als Zukunft kommen soll. Der postmoderne Mythos vom „Posthistoire“ aber gewinnt so ein neues Format. Auch für Günther ist die Geschichte zuende, und zwar bereits seit 1492. Jedoch nicht einfach als Ende sans phrase. Was mit der Transatlantikpassage endet, ist lediglich die Epoche der „alteuropäischen Seele“. Daher verkündet Günther im Gegenzug den Aufgang eines "dritten planetarischen Weltzeitalters" im Zeichen des "American dream". Wie seinerzeit Kolumbus vor der katholischen Junta im Kloster zu San Esteban prophezeit er dem geschichtsmüden Europa den Anbruch einer "neuen Erde und eines neuen Himmels" in Übersee. Jedoch verkehrt sich das apokalyptische Jesajapathos in seinem Mund zu ironischer Blasphemie. Günthers "amerikanische Apokalypse" gerät zu einer frivolen Offenbarung über die Offenbarung. Sie ist der Jüngste Tag, an dem sich die letzten Gerichte der Alten Welt in business und joint venture auflösen. Transatlantisch versammelt man sich eben nicht zum gemeinsamen Fürchten und Zittern, sondern zum kreativen brainstorming. Wenn hier Posaunen dröhnen, dann zu start up und dotcom. Und wo bisher Angst und Hoffnung war, wird in god`s own country pragmatischer Aktionismus. "Go west!" - in diesem Stil erzählt uns Günther die Erfolgsgeschichte der Besiedlung Amerikas als Gegengeschichte gegen den Nihilismus der Alten Welt. Sie erscheint ihm als Testlauf der globalen Weltgesellschaft. In den "settlers" und "pioneers" und ihrem Siegeszug von Ost nach West erkennt er die Vorhut einer dritten Odyssee. Für sie ist der Begriff der physischen Grenze ein Fremdwort. Ihr Zauberwort ist die "frontier", die uramerikanische Vision einer dynamischen Grenze, deren Außenseite niemals mehr bedeutet als Zielpunkt der nächsten Offensive -"your outside is your inside". Der Raum aber hat hier alle metaphysischen Qualitäten verloren. "Oben" und "Unten" sind nur noch Variablen im Planspiel unendlicher Expansion. "Nichts" und "Leere", die nihilistischen Horrorvokabeln der Alten Welt, nichts als "thrills" einer Abenteuerlust ins Extreme. Wolkenkratzer, unendliche Skyways durch noch unendlichere Nationalparks markieren das Ende europäischer Landschaftskunst. Für Eduard und Charlotte, das deutsche Kleingärtnerehepaar aus Weimar, jedenfalls ist in dieser Raumordnung kein Platz. Wenn überhaupt, dann ist es die Erde als Planet, die hier als Landschaft der Zukunft in Frage kommt. Denn selbst die Pazifikküste ist nichts als Durchgangsstation, an der die frontier ihr Element wechselt und ins Extraterrestrische übergeht. Am kalifornischen "cutting edge" werden die Cowboys zu Astronauten, die NASA zur Nachfolgerin Roms. Die Säkularisierung europäischer Transzendenz endet so im spaceshuttle. Namen wie "Discovery" und –man ahnt es- "Columbia" sind die eigentlichen Regierungserklärungen der Neuen Welt.

 

Das Toleranzedikt von Silicon Valley

Was nun die kultursoziologischen Konsequenzen dieses Umzugs in Hyperräume angeht, so hat Günther auch auf diese Frage eine eigenwillige Antwort in petto. Daß Amerika als "melting pot" der vielen Ethnien und Kulturen das Muster für eine pluralistische Weltzivilisation abgeben soll, ist nicht neu. Originell , ja geradezu frivol hingegen erscheint der Versuch, den so vielzitierten "clash of civilisations" als spirituelles Problem zu diskutieren. Günther fragt nach den mentalen Bedingungen eines globalen Gesellschaftsvertrages: Wer oder was soll das soziale Band im "Global Village" knüpfen? Antwort: Der "American Way of Life"! Aber auch hier spricht Günther als Kulturpsychologe und nicht als europäischer Zyniker oder gar Pressesprecher des Pentagon. "Weltzivilisation" ist für Günther ein "metaphysischer Vorgang", auf den Subjekte vorbereitet werden müssen, besonders wenn sie aus Hochkulturen kommen. Mit neoimperialistischen Supermachtvisionen, wie sie von den hardlinern der Geostrategie aus Washington neuerdings wieder zu vernehmen sind, ist es für ihn nicht getan. Wenn er die "Pax Americana" bemüht, dann als Projekt, um den drohenden Nihilismus "kultureller Nivellierung" in ein aktives und positives Projekt zu verwandeln. Günther ist eher ein kalifornischer Charon, der die "toten Seelen" des abgelaufenen Zeitalters auf der Schwelle des Global Village in Empfang nimmt, um sie wie ein spriritueller coach auf eine Zukunft nach ihrem Ende einzuschwören. Auf ein Zeitalter, in dem "innere, individuelle Evidenzen" nichts mehr zählen können. Vielmehr wird alles darauf ankommen, von Tiefe auf Oberfläche und Zerstreuung umzustellen, und zwar so gewaltlos und so unblutig wie möglich. Und eben dieser praktische Erfahrungsvorsprung beim Entsorgen und Stillegen metaphysischer Energien ist es, der Amerika für Günther zum Vorreiter der Weltgesellschaft macht. Denn Abschied und aktives Vergessen sind hier die Betriebsgrundlage eines "Experimentes", das seit 1492 läuft und nun zu einem globalen Schicksal wird: "Jeder Immigrant, der amerikanischen Boden betritt, muß das Teuerste, was er besitzt, hinter sich lassen. Der Chinese seinen Confuzius, der Deutsche seinen Goethe, der klassisch Gebildete seinen Plato und der Inder seinen Trimurti." Der Weg zu einer friedlichen Koexistenz in Hyperräumen führt nur durch das Nadelöhr eines spirituellen Nullzustandes. Jede alteuropäische Arroganz ob der längst sprichwörtlichen "amerikanischen Oberflächlichkeit" hat damit ihr Recht verloren. Was konservative Kulturkritiker abfällig als "McDonaldisisierung“ oder "Disneyworld" bezeichnen, sind für Günther nur erste Vorboten einer ebenso mißverstandenen wie unterschätzten "Entleerung des Menschen" zugunsten "planetarischer Universalität". Deren ultimatives Medium aber soll am Ende nicht die Massenkultur sein, sondern die Technik, genauer Kybernetik und Informatik. Nach "Gott" und "Subjekt" wird die Technik, genauer die Maschinentechnik damit zur letzten großen Erzählung der Weltgeschichte. Egalité im dritten Zeitalter heißt für Günther: globale Gleichheit vor den Computern. Nicht nur, was die Benutzeroberflächen angeht, sondern pikanterweise durchaus im Sinne einer "neuen Metaphysik". Mit dem Übergang zur "Artificial Intelligence" wird die Kybernetik in Günthers Zukunftskalender die einzig legitime Nachfolge der klassischen Geistestradition antreten. Allerdings in einer typisch amerikanischen Umwertung. Denn "Geist" wird dann erstmals so objektiv, ja buchstäblich so dingfest sein, daß allen spirituellen Sonderwegen fortan für immer der Weg nach innen abgeschnitten ist. Nicht "Weltethos" auch nicht "kommunikative Vernunft", sondern die Kunst des Maschineningenieurs soll die multikulturelle Weltgesellschaft zusammenhalten. Das "mechanical brain", das Elektronengehirn wird den globalen Friedensvertrag der Zukunft zeichnen. Der Weg dorthin aber wird ebenso gefährlich wie schmerzlich sein. Günther spricht von einem "jahrhundertelangen Passionsweg". Schmerzlich, weil die alte tiefenverwöhnte Seele bis zu ihrem Verlöschen zu einem einsamen Oberflächenmartyrium zwischen "small talk", „sitcom“ und "keep smiling" verdammt sein wird. Spielerparadiese wie Las Vegas werden der Ort für Hochzeiten sein, Tod und Leiden werden immer weniger bedeuten, der Unterschied zwischen Bildschirm und Nachbar immer geringer. Und v.a auch gefährlich, weil damit zu rechnen ist, daß sich die Seele gegen ihr Verschwinden zur Wehr setzen wird. Es werden die kommen, die aus den Schmerzen der Umgewöhnung fundamentalistisch Kapital schlagen. Der Übergang ins dritte Weltalter wird deshalb eine Phase erbittertster Kulturkämpfe sein. Denn, so Günthers prophetische Prognose aus dem Jahre 1952: „Das Leben im planetarischen Zeitalter wird dem Primitiven näher sein als der Hochkultur.“

 

Ihr Seelen, lernt sterben, werdet amerikanisch

Gewaltige Thesen, beängstigend gewaltig. Wer ist Gotthard Günther? Wer ist dieser Hasadeur, der es wagt, dem postmodernen Tabu der großen Erzählung durch eine solche Supertheorie die Stirn zu bieten? Günthers Vita liest sich wie der Steckbrief des Weltgeistes im 20 Jht. - von Jerusalem und Athen über Berlin nach Silicon Valley: schlesischer Pastorensohn Jahrgang 1900, zunächst Theologie-, dann Philosophiestudium, Promotion über Hegel, danach Assistent von Arnold Gehlen, 1942 die Flucht vor den Nazis in die USA, dort Logiker und Kybernetiker an diversen Instituten der Maschinen- und Bioinformatik u.a. mit v. Neumann und Heinz v. Foerster. Hierzulande war Günther bisher primär als Logiker bekannt. Sein Projekt, die amerikanische Kybernetik ausgerechnet mit Hegel kurzzuschließen, sorgte im beschaulichen Betrieb der dt. Nachkriegsphilosophie für einige Irritation. Seither jedoch fristet er das Schicksal eines vergessenen Geheimtips, dessen Texte im Untergrund der Akademien geheimbundartig zirkulieren. Mit der Veröffentlichung der "Amerikanischen Apokalypse" aus dem Nachlaß werden wir nun jedoch von einem völlig unbekannten Kulturphilosophen überrascht. Hinter der Fassade des Technopropheten wird jetzt ein existenzielles Motiv sichtbar. "Kolumbus" und "Odysseus" entpuppen sich als Masken, hinter denen Günther seinen eigenen Amerikaschock aufarbeitet. Günther selbst ist ein vierter Odysseus, der in umgekehrter Richtung ein letztes mal in See sticht. Diesmal, um in Ithaka die ungeheuren Neuigkeiten aus dem Westen zu verkünden. Die "amerikanische Apokalypse" wird so zu einer Chiffre für das Schicksal seiner eigenen Philosophenseele. Einer heroischen Seele, die bereit ist, ihren eigenen Tod als fälligen Eintrittspreis in die Neue Welt der Weltgesellschaft zu zahlen. Und die davon ausgeht, daß sie mit diesem Akt ein allgemeines Schicksal vorwegnimmt. „Ihr Seelen auf der Schwelle zum 21. Jht.! Lernt zu sterben, und zwar ohne Gewalt und ohne Bitterkeit!“ – das ist die Botschaft, die uns Günther wie ein apokalyptischer Reiter aus dem Jahre 1950 zuruft.

 

Globalisierung als therapeutische Frage

Bis zum 11. September hätte man diese Parole als üblichen Philosophenwahnsinn abtun können. Jetzt aber trifft sie einen Nerv. Sie stellt die Frage nach den Tiefenkräften, die im Terror vom Schwarzen Dienstag explodiert sind. Stimmen Günthers Koordinaten, dann löst sich die manichäische Klarheit an der Front des „clash of civilisations“ auf. Wir hätten dann mit einer zweiten, unsichtbaren Front zu rechnen, die im Grunde durch jeden einzelnen von uns verläuft. Diese Front wäre das „Projekt Moderne“ selbst, über dessen ultimatives Examen Günther keinen Zweifel lässt. Moderne heißt Globalisierung, Globalisierung aber Installierung einer epochal neuen, erstmals planetarisch-technischen Spiritualität. Und der 11. September lässt ahnen, welche Risiken eine solche Operation am offenen Herzen von Kulturen birgt. Seither sind wir auf schrecklichste Weise im Bilde, wozu dieser Patient zum Tode im Extremfall fähig ist und sein wird. Die Terrorschläge von New York haben den blinden Fleck der Weltgesellschaft um den Globus geschrieen. Der „Krieg der Kulturen“ ist v.a die Agonie der alten Seele. Tiefe Seelen lassen sich nicht abschalten. Sie sind wie uralte Brennelemente, die im Herzen des global village weiter vor sich hin strahlen. Damit rückt der 11. September kulturpsychologisch in die Nähe zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Aber wie steht es mit den Halbwertzeiten von Seelen? Lassen sich Seelen überhaupt entsorgen? Und was ist mit Zwischen- und Endlagern? Das sind Fragen, auf die wir Postmodernen kaum vorbereitet scheinen. Günthers Aufgabe könnte daher darin bestehen, in die therapeutische Dimension der Globalisierung einzuführen. Der schwarze Dienstag wäre dann das Stichwort der Geopsychologie. Aber täuschen wir uns nicht. Die Therapeuten, an die er denkt, würden keine Reanimateure sein. Helfen heißt Sterbehilfe. Dass die Castortransporte im Schatten des 11. September in diesen Tagen so gut wie unbemerkt durch Europa rollen, wirkt da plötzlich wie ein Menetekel im Menetekel.
 

Anmerkung: Dieser Aufsatz wurde erstveröffentlicht in Lettre Nr. 55/12.2001