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Zurück in die Zukunft
Alteuropäische Kybernetik-Träumereien
aus dem Jahre 1963
von Cai Werntgen
erstveröffentlicht in
Telepolis am 21.04.2003
Auch das 21. Jahrhundert. macht alle
Anstalten, ein amerikanisches zu werden. Die Terror- und Kriegsdebatte nach
dem 11. September lässt allzu leicht vergessen, dass es sich strenggenommen
bereits um den zweiten Großauftritt Amerikas nach der Jahrtausendwende
handelt. Vor der militärischen Drohgebärde nämlich stand die technologische.
Erinnert sich noch jemand?
Keine zwei Jahre ist es her, da lag die Diskurshoheit
noch nicht im Pentagon, sondern in den Labors der Biotechnik. Die New
Economy brummte und auf den Pressekonferenzen hagelte es im Wochentakt
Techno-Revolutionen aus Silicon Valley. Wo jetzt Bush und Rumsfeld die
Muskeln spielen lassen, beherrschte damals die kalifornische Technik- und
Wissenschaftselite die Szene. Figuren wie Craig Venter, Ray Kurzweil oder
Hans Moravec zelebrierten den Führungsanspruch des amerikanischen
Techno-Imperiums im neuen Jahrtausend.
Unverkennbar die Genugtuung, mit der sie dem Rest der
Welt die Zukunftsmelodie einer dritten, biotechnologischen Revolution
vorspielten. Seither geht ein Gespenst um in Alteuropa - das Gespenst einer
Pax Americana als "Darwin AG", einer kalifornischen Zukunft nach dem Ende
des Menschen, in der Industrie und Wissenschaft die Evolution unter sich
ausmachen werden.
Die zweite, technische Unabhängigkeitserklärung Amerikas
von der Alten Welt
Die Neuauflage des deutschen Nachkriegsklassikers "Das
Bewusstsein der Maschinen" erinnert dieser Tage an die Stunde Null des
amerikanischen Techno-Imperiums. An die Gründerzeit der fünfziger und
sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als der Stern der biotechnologischen
Schlüsseldisziplinen unter dem Zauberwort "Kybernetik" aufging.
"Kybernetik" stand damals nach Norbert Wieners
einschlägiger Formel für die "Wissenschaft von Steuerung und Kommunikation in
Lebewesen und Maschine". Hinter diesem Kollektivsingular versammelten sich so
diverse Kräfte wie Computer- und Nachrichtentechnik, Biologie und Physik, KI
und Robotik, später auch Psychologie und Pädagogik, ja sogar die Ästhetik zu
einer operativen Allianz. Erklärtes Ziel war die Neuerfindung der Wissenschaft
vom Lebendigen.
Kybernetiker war, wer die Dekonstruktion des
Gattungsnarzissmus menschlicher Vernunft als technisches Projekt begriff. Der
uralte Hochmut des Geistes gegenüber der Natur sollte im universalen Modell
der "informationsverarbeitenden Maschine" alias Computer endgültig gebrochen
werden. "Feedback", "Regelkreis", "Rückkopplung" - so die Schlagworte, die
Mensch, Pflanze, Tier und Maschine zu einem digitalen Kontinuum des Lebens
zusammenrücken ließen. Vollmundig verkündete man in Übersee die zweite,
diesmal technische Unabhängigkeitserklärung Amerikas von der Alten Welt: Ja,
die Geschichte des Menschen ist zuende, aber nur, um im Namen der Maschine neu
zu beginnen.
Gotthard Günther und die
amerikanische Weltrevolution der Seele
So gesehen könnte die Jahrtausendwende vielleicht
bereits 1963 begonnen haben. In jenem Jahr nämlich, als der deutsche Logiker
und Philosoph Gotthard Günther aus dem amerikanischen Exil nach Europa
zurückkehrt, um die transatlantischen Neuigkeiten publik zu machen.
Tatsächlich liest sich sein kybernetisches Traktat heute wie eine Vorwegnahme
des kalifornischen Techno-Prophetismus. Kurzweil und Moravec auf teutonisch.
Allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Denn Günther bekennt sich zur
amerikanischen Kybernetik, indem er sie europäisch überholt. Was das heißt,
verrät der frivole Untertitel: "Eine Metaphysik der Kybernetik". Also
Maschinentheorie als Fortsetzung der europäischen Metaphysik mit
amerikanischen Mitteln! Im Klartext: Kybernetik als spirituelle Disziplin!
Ein doppelter, aber kalkulierter Tabubruch. Doppelt,
weil Günther mit der "Metaphysik" das Unwort der europäischen Vormoderne nicht
nur wieder auf die Tagesordnung setzt, sondern es ausgerechnet mit dem
Inbegriff der amerikanischen Supermoderne kreuzt. Und kalkuliert, weil er
dabei mit dem angsterfüllten Klima im Nachkriegsdeutschland rechnet, jener
Zeit zu Beginn der 60er Jahre, als Politik und Technik im Schatten des Kalten
Krieges wie Schicksalsfragen diskutiert wurden. Atombombe, Raumfahrt,
Massenmedien und die Anfänge der Konsumgesellschaft beschäftigten das
kritische Bewusstsein der jungen Bundesrepublik. Es war die Stunde der großen
Erzählungen der Technikkritik: Adornos und Horkheimers "Dialektik der
Aufklärung", Heideggers "Gestell", Anders' "Antiquiertheit des Menschen",
Marcuses "eindimensionaler Mensch".
In diese Debatten platzt Günther mit seiner
kybernetischen Botschaft vom "Bewusstsein der Maschinen". Im Grunde ein
Auftritt wie aus dem Lehrbuch der aktuellsten Aufmerksamkeitsökonomie: Ein
akademischer nobody, ein vergessener Hegel-Experte und ehemaliger Assistent
von Arnold Gehlen, nach seiner Flucht vor den Nazis aus Deutschland seit 1948
amerikanischer Staatsbürger und dort seit 1960 Mitarbeiter am legendären, von
Heinz v. Foerster geleiteten "Biological Computer Laboratory" in Illinois,
meldet sich 1963 zurück, indem er das komplette Establishment herausfordert.
High noon.
Was immer Algorithmus werden kann, war niemals Seele!
Günthers These: in der Kybernetik schlummert eine
amerikanische Weltrevolution der Seele. Die intelligente Maschine verkörpert,
was Materialismus und Nihilismus in ihren Sonntagsreden bisher nur beschwören
konnten: der Geist ist tatsächlich von dieser Welt, aber nicht nur als
Privateigentum eines denkenden Ich, sondern auch als Denk-Maschine, also
draußen. Für Günther eine Umwertung aller Werte, weil damit die technische
Animation den Tod als Urszene des Geistes ablöst. An die Stelle des
ohnmächtigen Subjekts, das in den Hochkulturen vor der Leiche die Himmelfahrt
der Seele meditiert, wird der Ingenieur wie Christus vor Lazarus vor die
Materie treten und befehlen: "Materie, steh auf und denke!" Aber, so die
Pointe, nicht als Feind, der dem Subjekt die Seele raubt, sondern als
Schlichter im uralten Religionskrieg zwischen Seele und Ding. Denn
Ausdifferenzierung, nicht Nivellierung ist laut Günther das Ziel Künstlicher
Intelligenz.
Die notorische Ächtung der Selbstverdinglichung
verkennt die spirituelle Dimension technischer Inkarnation. Spirituell, weil
die maschinelle Reproduktion von Subjektivität eine Art negativen Seelenbeweis
liefert: Was immer Algorithmus werden kann, war niemals Seele! Umgekehrt
sprengt die Denkmaschine den Solipsismus der neuzeitlichen Vernunft. Sie
stiftet eine dingfeste Evidenz, die anders als die kartesische für jedes "Ich
denke" gleich nah und gleich fern ist. Und zwar im Sinne einer technischen
Sozialutopie: In einer Weltgesellschaft wird nur der globale Konsens
technischer Machbarkeit den clash der inneren Werte und Überzeugungen
befrieden.
Also kommt alles darauf an, im Maschinen-Ingenieur
neben dem Theologen auch den Friedensforscher und Sozialarbeiter zu entdecken.
Und genau hier liegt Günthers Problem. Denn der Amerikaner ahnt von seiner
welthistorischen Rolle auf Günthers kybernetischem Oster- und Pfingstfest
nicht das geringste. So kommt es wie es kommen muss: Ausgerechnet dem
teutonischen Alteuropäer fällt die Mission zu, Amerika seine Mission zu
erklären. Einzig er nämlich ist alt genug, um die Neuen Welt über ihre
wirkliche Neuheit aufzuklären.
Geburt der Kybernetik aus dem Geist des Krieges
Aber was haben wir heute davon zu halten? Nur ein
weiteres Beispiel für den teutonischen Philosophenwahnsinn, der den Weltgeist
diesmal zur Maschine vorbeireiten sieht und wieder versucht, ihm seinen Text
zu soufflieren? Wiederverzauberung der Entzauberung durch die Maschine?
Gemessen an einer Realität jedenfalls, in der Computer
zwar regelmäßig Schachweltmeister düpieren, aber nach wie vor über jeden
Gartenschlauch stolpern, scheint Günthers spiritueller Diskurs eher grotesk.
Andererseits spricht dieser Tage selbst der Guru der Artificial-Life-Szene am
MIT, Rodney Brooks, ganz offen von einer Sackgasse und einer fehlenden
Alternative zur bloß quantitativen Steigerung der Rechnerleistungen. Nicht
auszudenken, wie alt die Neue Welt aussähe, sollte ausgerechnet eine
teutonische Maschinentheorie der amerikanischen KI den Anstoß geben, ihre
Selbstblockade zu brechen.
Vielleicht also erfolgte die Antwort auf Rumsfeld
bereits 1963. Davon unberührt jedoch bliebe die fatale Marsblindheit des
Güntherschen Ansatzes. Gerade jetzt, da mit den "smart bombs" die
kybernetischen Realprodukte durch den arabischen Wüstenhimmel und über die
weltweiten Screens gegeistert sind, wirkt ein Totschweigen der militärischen
Dimension der amerikanischen Kybernetik im Zweiten Weltkrieg mehr als
fahrlässig. Friedrich Kittler hat diesen Komplex in den letzten Jahren als
Kriegsgeburt der Kybernetik aus dem Geiste der Flugabwehr eindrucksvoll
rekonstruiert. Mit ihm möchte man Günther aus dem Jahre 2003 zurufen: "Auch
die spirituelle Maschine bleibt zweckentfremdetes Heeresgerät!"
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