Meine Rede zur Aktuellen Stunde, TOP 1 am 08. Juli 2016 „Wie schätzt die Landesregierung die Auswirkungen des „Brexit“ auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nordrhein-Westfalen und dem Vereinigten Königreich ein und welche politischen Maßnahmen gedenkt sie zu ergreifen?“ –
Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der CDU – Drucksache 16/12418 – in Verbindung damit
„Mögliche Auswirkungen des Austritts des Vereinten Königreichs aus der Europäischen Union auf Nordrhein-Westfalen“
Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/12419
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Lindner. – Für die Piraten spricht Herr Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen lieben Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Saal und zu Hause! Die Menschen im Vereinigten Königreich haben sich mit knapper, aber dennoch unmissverständlicher Mehrheit für den Brexit entschieden. Sie haben mehrheitlich den Weg der Instabilität, der potentiellen Desintegration – insbesondere der im eigenen Land – und der politischen und wirtschaftlichen Verunsicherung gewählt. Und sie wurden gesellschaftlich gespalten. Doch es ist noch mehr passiert. Das zeigt auch diese Debatte hier.
Nach dem Brexit kann in Europa – in Brüssel, Berlin, Paris und auch Düsseldorf – nicht wie bisher weitergemacht werden. Wir haben den Brexit in einer ausführlichen und guten Debatte im Europaausschuss behandelt und behandeln ihn jetzt hier im Rahmen der Aktuellen Stunde im Plenum. Das ist gut so. Die Debatte beschäftigt sich aus unserer Sicht aber zu sehr mit vordergründigen Wirtschaftseffekten, mit dem müßigen Aufrechnen von Import- und Exportvolumina. Da hilft es auch nicht, Herr Laschet und Herr Engstfeld, wenn man die falschen Beispiele wählt. Bei ERASMUS ist der EWR mit dabei. Da mache ich mir die wenigsten Sorgen.
(Armin Laschet [CDU]: Ne, ne, ne!)
Ich mache mir viel mehr Sorgen darüber, was mit dem Forschungsstandort Europa passiert, und über die britischen Wissenschaftler, die händeringend auf Mittel aus Brüssel angewiesen sind.
(Beifall von den PIRATEN)
Das hilft uns zum jetzigen Zeitpunkt aber kaum weiter. Es macht auch wenig Sinn, sich an Farage, Cameron oder Johnson abzuarbeiten.
Vielleicht gestatten Sie mir ein persönliches Wort als Nachfahre eines Mannes und einer Frau, die den Zweiten Weltkrieg noch als Erwachsene mitgemacht haben. Ich habe das Bild von Menschen vor Augen, die sich politisch vor der Verantwortung drücken, auf den Scherben tanzen und Champagner trinken. Ich meine die AfD, die UKIP und den Front National. Dieses Bild, das ich vor Augen habe, ist schier unerträglich für einen überzeugten Europäer!
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD, der CDU und den PIRATEN)
Wir müssen uns jetzt erst einmal fragen: Wie konnte es soweit kommen? Zweitens ist zu fragen: Wo liegt möglicherweise unsere Verantwortung? Und drittens müssen wir uns fragen: Was muss jetzt passieren?
Zur ersten Frage: Wir wissen, die Leave-Kampagne war von populistischer Fehlinformation geprägt. Sie hat es bedauerlicherweise geschafft, in Teilen der Bevölkerung vorhandene Ressentiments gegen Ausländer und Muslime, das Gefühl des wirtschaftlichen und sozialen Abgehängtseins sowie den Hass auf den vermeintlichen Sündenbock Brüssel gezielt anzusprechen und die Stimmung aufzuheizen. Doch – da müssen wir auch ehrlich sein – die Europäische Union und ihre Protagonisten waren da auch ein allzu einfach zu schlagender Gegner. Denken wir beispielsweise an den undemokratischen Umgang mit CETA und TTIP oder an die Allmachtsfantasien der EZB. Wir wollen und brauchen ein anderes Europa!
(Beifall von den PIRATEN)
Seit langem fehlt die Vision für ein Europa jenseits der Binnenmarktintegration oder des Spardiktats. Was fehlt, ist Zuversicht. Es fehlt Zuversicht von Zagreb bis Hammerfest – ja, ich weiß, das liegt in Norwegen – und von Zypern bis Belfast. Was fehlt, ist der Gestaltungswille für eine lebenswerte Zukunft in Europa. Stattdessen erfahren die Menschen und insbesondere die jungen Europäer, dass viel Stillstand verwaltet wird. Das muss sich ändern!
(Beifall von den PIRATEN)
Wo liegt denn unsere Verantwortung? Unser Politiksystem – dazu gehört auch das in Nordrhein-Westfalen – braucht ein Update; denn momentan schafft es nur weiteres giftiges Misstrauen in die Politik und die Politiker.
Geld vernichtende ÖPP-Projekte, politisches Postengeschacher, das Platzen der Verfassungskommission – das alles sind kleine, manchmal klitzekleine Puzzlestücke im Big Picture des politischen Systemversagens.
Wir erleben aber auch die politischen Nachwehen der Finanz- und Bankenkrise von 2007. Mit der jahrzehntelangen Deregulierung der Finanzmärkte wurde nicht nur die Wirtschaft, sondern auch unsere Demokratie destabilisiert. Die namhafte Soziologin an der London School of Economics, Dr. Lisa MacKenzie, hat sogar die These aufgestellt, dass das Ergebnis des Brexit-Referendums in Großbritannien eine verspätete Absage an die britische Politik gewesen sei.
Was muss jetzt passieren? Das Ergebnis des Brexit-Referendums ist auch ein geteiltes Votum. Das ist gefährlich. Die Jüngeren, sofern sie zur Wahl gegangen sind, haben sich mit großer Mehrheit für einen Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen. Je älter die Wählergruppe, desto geringer die Zustimmung zur EU.
Es bedarf einer deutlichen Senkung des Wahlalters bei Wahlen und Volksentscheiden,
(Zuruf von der FDP: Quatsch!)
auch weil diese immer öfter fundamentale Zukunftsfragen behandeln. Diese Referenda sind sehr gut vorzubereiten. Vor allem die Jugend muss ihre eigene Zukunft direkt mitgestalten dürfen.
(Beifall von den PIRATEN – Zuruf von Christian Lindner [FDP])
Wir wissen: Der zentrale gesellschaftliche Konflikt unserer Zeit, den wir Europa austragen und zukünftig austragen werden – das zeigt sich vor allen Dingen in Südeuropa –, könnte lauten – davor habe ich große Angst –: alt versus jung. Die junge Generation von Cádiz bis Tallinn ist die Hauptverliererin. Dieser Konflikt ist potenziell spaltend und muss daher mit äußerster politischer Sorgsamkeit angegangen werden.
Wir Piraten wollen einen Ausgleich, aber im Zweifel stehen wir immer für die Zukunft.
(Beifall von den PIRATEN)
Was muss noch geschehen? Wir müssen die soziale Union ausbauen und eine soziale Komponente, soziale Mindeststandards, angemessene Unternehmensbesteuerung ohne gewollte Steuerschlupflöcher schaffen. Sonst kann mit der Europäischen Union kein positives Bild vermittelt werden.
Wir sollten die Menschen an einer verfassungsgebenden Versammlung, an einem Verfassungskonvent für die Europäische Union, teilhaben lassen. Ziel muss es sein, das politische System der Europäischen Union und ihre Beziehung zu den Mitgliedstaaten und Regionen neu zu strukturieren und auf eine wirklich demokratische Basis zu heben. Hierbei kann auch ein Europa der Regionen weitergedacht werden.
Wir brauchen eine demokratische Stärkung des Europäischen Parlaments mit mehr Initiativ- und Beschlussrechten. Denn es ist die einzige Institution, gegen die sich die EU-Skepsis nicht direkt gerichtet hat.
(Christian Lindner [FDP]: Darf das Parlament dann auch über CETA abstimmen?)
– Wie gesagt: neu strukturieren. – Wir müssen darüber erst einmal reden, Herr Lindner.
(Christian Lindner [FDP]: Sagen Sie das mal!)
– Das muss erst einmal auf die Agenda. Dann müssen wir debattieren. Ich gebe Ihnen hier kein abschließendes Votum.
(Zuruf von Christian Lindner [FDP] – Gegenruf von Michele Marsching [PIRATEN])
– Lassen Sie mich bitte zum Ende kommen. – An der Demokratisierung und Transparenz der EU weiterzuarbeiten, ist der einzig gangbare Weg, wenn man nicht zurück in die dunkle Vergangenheit nationaler Egoismen – da bin ich bei Ihnen – zurück möchte.
Ich komme zum Schluss. Der Brexit zeigt: Wir brauchen eine positive Vision für unseren Kontinent. Denn das Beispiel der Europäischen Union ist historisch beispiellos. Der Brexit ist auch beispiellos. Oftmals bedeutet die EU für die junge Generation nur noch einen leblosen Binnenmarkt oder ein chancenvernichtendes Spardiktat.
Wir brauchen ein Europa des sozialen Ausgleichs, der politischen Transparenz, der Bildung in der digitalen Welt und der fairen Unternehmensbesteuerung.
(Beifall von den PIRATEN)
Ein solches Systemupdate ist verfügbar. Lassen Sie uns das angehen! – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN – Zuruf von der CDU: Nix verstanden!)
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Paul. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Lersch-Mense.
2. Redeblock:
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Engstfeld. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank, verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Lieber Stefan Engstfeld! Ich kann dir versichern: Es geht weiter. Und wir werden uns hier intensiv weiter über Europa Gedanken machen und Handlungskonzepte entwickeln.
Zunächst einmal eine kleine Replik an Herrn Lindner, der es mehr oder weniger erfolgreich immer wieder versucht, mich beim Reden durcheinanderzubringen. Einen Supranationalismus, den Sie wahrscheinlich angesprochen haben, wenn jetzt das europäische Parlament allein über Großabkommen entscheidet, den kann natürlich niemand wollen. Das bringt mich aber zu der Frage, wie wir denn die Entscheidungsmodi für solche überregionalen Dinge in Zukunft organisieren.
(Zuruf von Armin Laschet [CDU])
– Herr Laschet, ich komme gleich zum zweiten Punkt. Es ist manchmal hilfreich, sich Leute anzusehen und zu Gemüte zu führen, die in der Vergangenheit mit ihren Einschätzungen der Zukunft richtig gelegen haben. Wenn sie Einschätzungen vorgebracht haben für die weitere Zukunft, dann macht es Sinn, sich das einmal anzusehen und wenigstens darüber nachzudenken.
Ein solcher Mensch war der Medienphilosoph aus Prag, der aus Prag stammende Vilém Flusser, ein Jude, der auch die Außensicht hatte, der sich von Brasilien aus die Entwicklungen in Europa angesehen hat. Er hat die These aufgestellt, dass in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts der Nationalismus in Rückzugsgefechte gerät. Und diese Einschätzung sollte uns eigentlich Mut geben. Die nationalistischen Thesen kennen wir ja von den entsprechenden Vertretern vom rechten Rand.
Er hat die Hoffnung ausgesprochen, dass sich auf der anderen Seite die Regionen neu organisieren zu einem übergeordneten Gebilde. Darüber sollte man einmal nachdenken – Stichwort AdR, Ausschuss der Regionen. Vielleicht vermittelt man ihm mehr Kompetenz in Brüssel. Das würde Sinn machen.
Ein zweiter ganz wesentlicher Punkt, der jetzt nicht positiv, sondern in der Argumentation negativ zu Buche schlagen wird, ist die Einschätzung von Manuel Castells in seinem Werk „Das Informationszeitalter“, 1998 geschrieben, der gesagt hat, dass er die Gefahr sieht, dass in der Zukunft im 21. Jahrhundert die Menschen wesentlich mehr Entscheidungen auf der Basis dessen treffen, was sie glauben oder glauben zu wissen, anstatt auf der Basis dessen, was man nachschlagen und nachlesen kann. Das halte ich für eine gefährliche Entwicklung. Da müssen wir im Bereich Bildung gegenarbeiten.
Ein vierter Punkt: Ich habe letzte Woche – ich mache das schon mal – die NRW-SPD „Dienstagspost“ gelesen. Das ist so ein Newsletter.
(Zurufe)
– Ja, da sprang mir ein Satz von Hannelore Kraft ins Auge, Minister Lersch-Mense hat ihn gerade auch noch einmal gesagt, ein ganz einfacher Satz: „Europa muss sozialer werden.“
Dem kann man nur zustimmen. Damit ist nicht alles gesagt. Man kann sich natürlich jetzt in sozialphilosophischen Seminaren damit ein Jahr lang beschäftigen und über den Satz meditieren. Es müssen diesem Satz ganz dringend Handlungen folgen.
Wir brauchen – ich sage es noch einmal – ein System Update für Europa. Und an die Adresse all derjenigen, die Europa für parteipolitisches Kalkül benutzen: Mit unserem Europa zockt man nicht. – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Duin.