Neulich las ich den Blogbeitrag von Michael Seemann aka mspr0 mit dem Titel „Ich lehne Marx‘ Arbeitswerttheorie ab und hier ist warum“. Ich fand ihn recht schlüssig, und – auch emotional berührend und tröstlich. Also erst mal danke, mspr0!
Warum? Weil‘s mir oft genauso geht. Freunde von mir, die sich nach dem althergebrachten, eindimensionalen und ziemlich kaputten Polit-Kompass eher links einordnen würden, tja, sie mögen diese Theorie, manche schwören sogar drauf.
Und schlimmer noch, der beste Platz ist sowieso zwischen den Stühlen. Freunden gegenüber, die sich eher nicht als „links“ bezeichnen, aus den unterschiedlichsten Gründen, yep, davon – ja Schimpf und Schimmel über mich 😉 – habe ich auch ein paar, und diese Theorie vollständig ablehnen, gerate ich fast jedes Mal in einen Verteidigungsmodus, um ihnen gegenüber zumindest die historische Wichtigkeit dieser Theorie hervorzuheben, denn sie wollen nicht mal diese Relevanz wenigstens anerkennen. Dabei hat es was mit der Renaissance und der bürgerlichen Renaissance-Revolution zu tun. Hier ist möglicherweise eine gewollte, leicht genervte Form der Geschichtsvergessenheit im Spiel.
Dazu kann ich nur sagen, dass das verstehende Erinnern, die Anamnesis, mehr ist als bloßes Speichern, es ist ein kognitiver Prozess, der lebenden Systemen, also uns Menschen vorbehalten ist und bleibt. Und es hilft nichts, auf das Internet zu verweisen, da stünde doch sowieso schon alles. Das entbindet einen nicht von der Verantwortung, sich den kognitiven Prozessen des Verstehens auszusetzen. Die Wikipedia nämlich – für sich betrachtet – „weiß“ nichts, sie ist nur eine Speicherfunktion – aber auch nicht weniger.
Seemann sagt nun, dass ihm schon in den Grundsätzen der Arbeitswerttheorie etwas aufstößt. Dem kann ich mich anschließen. Denn, nach Marx ist die Arbeit die Quelle aller Werte. Das hat er mit den Bürgern der Renaissance-Revolution gemeinsam, die Arbeit und Fleiß – als Werte – dem nicht arbeitenden Adel und der klerikalen vulgo kirchlich-platonischen Idee der reinen Form entgegensetzten. Der Wert als Kategorie, im Gegensatz zum Glauben an die göttlichen Formen. Und, der Begriff der Arbeit, insbesondere der körperlichen Arbeit, mutierte von einer Form der Strafe – im Schweiße deines Angesichts sollst du … – zu einer Tugend.
Als kleine Ergänzung zu Seemanns Beitrag möchte ich zwei weitere Aspekte in die Diskussion bringen – just my 2 cents.
Erstens, nehmen wir beispielsweise mal einen Klavierbauer. Er baut und verkauft Klaviere, damit leistet er gesellschaftlich relevante Arbeit, er produziert Tauschwerte. Kauft nun ein Pianist ein solches Klavier und gibt damit Konzerte, für die er Eintritt nimmt, produziert auch er die Dienstleistung „Klavierkonzert“ als Tauschwert. Das Klavier ist für ihn ein Produktionsmittel.
Wenn aber, sagen wir, eine Ingenieurin oder ein Handwerker ein Klavier kauft, um sich und vielleicht andere abends im häuslichen Wohnzimmer durch eigenes Klavierspiel zu erfreuen und zu entspannen, dann hat dies nach Marx lediglich einen individuellen Gebrauchswert. Das Klavier ist nicht mehr Produktionsmittel sondern „Luxusgut“. Hier bricht die ökonomische Wertschöpfungskette ab, – die, wie Viele schon wissen, ja eigentlich keine Kette sondern ein Kreislauf sein sollte. Aber tut sie das wirklich? Denn sicher trägt das individuelle Klavierspiel zum Erhalt oder gar zur Steigerung der beruflichen Produktivkraft und Kreativität der Ingenieurin und des Handwerkers bei.
Das lässt sich jedoch nicht mehr vordergründig „messen“, denn es gibt keinen Preis, keinen Tauschwert.
Und auf einmal bewegen wir uns argumentativ auf ganz gefährlichem Boden. Denn es gibt, wie wir inzwischen wissen, die Bestrebungen, auch das zu messen, jenseits soziologischer Stichproben- und Feldforschungen per Fragebogen. Diese Bestrebungen stecken beispielsweise in der – ohne Zweifel ökonomisch motivierten – Frage von Zuckerbergs Facebook: „Was tust du gerade?“ Und es murmelt weiter in den social networks, „auch du bist interessant, zeige doch der Welt, wie toll du bist. Kriege Likes und verteile Likes!“ So funktioniert unerfragte Messung heute.
Informationsgesellschaft und Digitalisierung bringen einen ganz neuen Ansatz hinein, den des Versuchs der totalen Vermessung der Welt per Big Data. Das Dilemma besteht hier darin, dass auf der einen Seite Freiheit und damit auch Zweckfreiheit im Tun als Menschenrecht betrachtet wird und andererseits diese Freiheit wieder als Zweck recycelt werden soll, als Prozess der Selbstoptimierung, zu dem – ganz natürlich – auch bspw. die musikalische Entspannung zählt, nämlich dann, wenn sie quantitativ erfassbar gemacht wird, die Apple Watch lässt grüßen ….
Also Holz-, äh, Digitalauge sei wachsam.
Der zweite Aspekt ist grundsätzlicher und führt zu Vilém Flusser (1920 – 1991) – womit ich ein weiteres Mal in einen Verteidigungsmodus gerate. „Du und dein Flusser!“ – „Wann zitierst du den denn das nächste Mal im Landtag?“ – „Dein Lieblingsphilosoph!“
Nee, stimmt nicht. Ich habe keinen Lieblingsphilosophen und einen Guru schon gar nicht. Damit wird man diesen ohne Zweifel klugen Leuten nicht gerecht. Verherrlichung hat noch nie irgendwas Sinnvolles hervorgebracht.
Das Sinnvolle bei Flusser hingegen besteht in der außergewöhnlichen Kombination aus seinem phänomenologischen Ansatz, mit dem er sich klar in die Tradition Edmund Husserls stellt, seinen kulturhistorischen und sprachbezogenen Blickwinkeln sowie seinem Vermögen, ausgeprägt assoziativ und springend zu denken, gepaart mit Charisma im Live-Vortrag. Im Arbeitskreis Medienphilosophie an der FH Düsseldorf sagte mal jemand respektlos, man könne den Flusser „nur als Komiker“ lesen. Ich kann das bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen, jedoch nicht gutheißen. Wildes Denken wie bei Flusser hat in der Wissenschaft genauso seinen Platz, sollte seinen Platz haben, wie akribisches Ableiten.
Nicht umsonst hat Friedrich Kittler 1991 Flusser an die Ruhruniversität Bochum geholt. Die Bochumer Vorlesungen, unter dem Titel „Kommunikologie weiter denken“ als Buch erschienen, sind ein Kracher, ebenso wie sein Vortrag 1991 auf der CulTec in Essen, „Informationsgesellschaft, Phantom oder Realität?“. Womit seine anderen Publikationen natürlich nicht ins Abseits geschoben werden sollen.
Flussers Argumentation läuft gerafft dargestellt so ab: Arbeit, herstellende Arbeit, die Produktion von Gegenständen, Artefakten, besteht darin, dass Menschen Materie in eine bestimmte Form bringen. Sie „informieren“ also die Materie. Und das Resultat ist Künstliches, Her-Gestelltes. Um es anschaulicher zu machen, können für dieses in-Form-bringen die Tätigkeiten des Gießens, Pressens oder Prägens als Beispiele herangezogen werden.
Dabei lassen sich zwei Phasen der Arbeit unterscheiden. In der ersten Phase wird die Form ausgearbeitet, entworfen, und in der zweiten wird die Form auf den oder die Rohstoffe angewandt.
Man stelle sich eine Presse vor, die metallene Schreibfedern für Füller produziert. Der Wert einer Schreibfeder ergibt sich nun aus der Tatsache, dass man damit schreiben kann. Und das verdankt sie ihrer Form, die Form ist aber Sache des Designers!
Der Wert steckt in der Form, in der In-form-ation.
Die Quelle der Werte ist also nicht die Arbeit aus Phase 2 des Aufprägens der Information auf die Materie. Die Quelle der Werte ist der Designer. Und dieser Designer, der Entwerfer, so Flusser, hat bei Marx nie ganz reingepasst.[1]
Außerdem lässt sich feststellen, dass diese Phase 2 des Prägens, Gießens, Pressens, des Informierens der Materie sich ganz wunderbar zur Automatisierung eignet. Maschinen können das besser als wir. Und die Arbeit, als menschliche, entfremdete Arbeit, ist futsch.
In „Kommunikologie weiter denken“ drückt Flusser es am Beispiel eines Werkzeugmachers noch drastischer aus [2]:
„Ein Mensch macht einen Blueprint, eine Blaupause, eines Schlüssels. Dann nimmt er eine Maschine, die diese Zeichnung in ein Stahlwerkzeug überträgt. Eine andere Maschine schiebt das Stahlwerkzeug in die dritte Maschine. Dann kommt eine Maschine und schiebt die Stahlplatte hinein, und es geht „tak-tak-tak“, und auf der anderen Seite fallen die Schlüssel heraus. Der Mensch, der das gezeichnet hat, ist gar nicht mehr dabei. Das ist das Ende des Marxismus. Der Mann ist gar nicht mehr beteiligt daran. Er hat die Sache irgendwo formal entworfen. Weder das Material noch die Arbeit ist etwas wert, sondern nur der Entwurf. Darum habe ich so lange auf dem Platonismus bestanden. Das ist doch eine außerordentlich platonische Idee. Dieser Designer ist doch eigentlich jener Philosoph, der die Form betrachtet, die „Schlüsselheit“.
Aus seiner theoretischen Sicht entstehen automatisch das Stahlwerkzeug und die Stahlindustrie und die Industriegesellschaft. Unsere Vorurteile, was die menschliche Arbeit betrifft, zerbrechen unter dieser Analyse.
Der Wert liegt in der Information. Das Wichtige am Begriff der Information ist, sie ist nichts Materielles. Information ist übertragbar von Materie zu Materie. [….] Wenn man die informatische Gesellschaft verstehen will, muss man das vollkommen intus haben. Man muss den Unterschied zwischen soft und hard im Bauch haben, um das zu verstehen. Der Wert des Kuchens liegt im Rezept.“
Daraus lässt sich auch ein schlüssiger Vorschlag für ein mögliches Definitionselement für den Begriff „Informationsgesellschaft“ ableiten:
„In der Informationsgesellschaft wird immer mehr Gewicht auf das Erzeugen und Bearbeiten von reinen Informationen gelegt und immer weniger Gewicht auf das Erzeugen informierter Gegenstände.“
Das mag nun das Ende des Marxismus als schlüssige Arbeitswerttheorie sein, wie Flusser behauptet, es ist jedoch keinesfalls das Ende im Kampf um menschenwürdige Lebensbedingungen.
Darüber hinaus kann man auch – im eingehenden Informationszeitalter – die very big question stellen nach dem Sinn und Zweck alles Maschinellen.
Der Mathematiker und Philosoph Rudolf Kaehr sagte dazu mal [3]:
„Also, man kann das so weit sich ausdenken, dass wir möglichst alles, was wir heute überhaupt haben, an die Maschine abgeben können, um an etwas ‚ranzukommen, was uns bis dahin immer verdeckt war, nämlich sozusagen die reine Faktizität unserer Existenz.“
In diesem Sinne, zum weiter Draufrumdenken, just my 2 cents.
Nick H. aka Joachim Paul
Quellen:
[1] Flusser, Vilém; Die Informationsgesellschaft, Phantom oder Realität?; Vortrag auf der CulTec in Essen vom 23.11.1991, Suppose-Verlag, Köln 1999
[2] Flusser, Vilém; Kommunikologie weiter denken – Die Bochumer Vorlesungen; Frankfurt a.M. 2009, S. 142ff
[3] Kaehr, Rudolf, & Schmitt, Thomas; FREISTIL, oder die Seinsmaschine, Mitteilungen aus der Wirklichkeit, Interview, WDR, Köln, 1993, online: http://www.vordenker.de/ggphilosophy/freistil.htm
Lieber Herr Paul, ich habe von Gerd Hauser und Nora Gummert-Hauser von Ihnen und Ihrem Blog und so weiter gehört und beide haben mir nahe gelegt, Sie zu meiner Veranstaltung einzuladen:
Die DESIGNDIScUSSION , die ich seit 2005 veranstalte, zusammen mit dem Kulturbüro der Stadt Krefeld;
ein lockeres und größenwahnsinniges Talkformat auf einer Studiobühne
mit oft überfüllten rund 100 Plätzen. Das hier ist nun die schriftliche Anfrage!
Die Themen und Gäste der inzwischen 53 Veranstaltungen sind vielseitig (siehe auch unter Facebook:designkrefeld – Design Discussion
https://www.facebook.com/DesignDiscussion/?fref=ts)
Die DD ist eine Schnittstelle und Reibungsfläche zwischen Design, Kunst, Politik, Wirtschaft und Poesie,
zwischen Krefeld und der Region, zwischen Bildung und Kultur, zwischen Hochschule, Stadt und Land.
Ich bin Professor für Designtheorie an der HSNR in Krefeld und freue mich, von Ihnen zu hören. Herzlich, Erik Schmid