Meine Rede zu TOP 1 am 02. Dezember 2016, Schlechte Wirtschaftspolitik in Nordrhein-Westfalen droht, langfristig Zukunftschancen und Wohlstandsperspektiven zu verspielen – Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der FDP – Drucksache 16/13613 – in Verbindung damit – Neues Gutachten blickt mit Sorge auf die Wirtschaftslage in Nordrhein-Westfalen – Landesregierung muss nun handeln anstatt die Situation schönzureden! – Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der CDU – Drucksache 16/13614
Aus dem Plenarprotokoll: Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Sundermann. – Für die Piraten spricht jetzt Herr Kollege Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Guten Morgen. – Frau Präsidentin, vielen Dank! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Zuschauer! Seit Jahren erlebt Deutschland einen relativ stabilen Konjunkturaufschwung. Doch dieser Aufschwung erreicht nicht mehr das ganze Land, weder alle Menschen noch alle Regionen. Das ist eine Grundproblematik der heutigen Zeit. Diese spiegelt sich in der Sorge wider, Nordrhein-Westfalen oder zumindest Teile unseres Landes würden abgehängt. Und dieser Sorge muss man sich stellen, nicht zuletzt wegen des wachsenden Rechtspopulismus, der dieses Gefühl aufgreift.
Da hilft es nicht, wenn der Wirtschaftsminister beklagt, die Opposition würde das Land schlechtreden. Gehen Sie doch einfach mal in die Regionen unseres Landes mit über 12 % Arbeitslosigkeit. Das ist kein Schlechtreden, das ist eine Zustandsbeschreibung. Manche Regionen haben fast Vollbeschäftigung, bei anderen bricht das wirtschaftliche Fundament immer weiter weg. Und die Landesregierung unternimmt einfach nichts dagegen.
Als ich das letzte Mal ins Grundgesetz geschaut habe, stand die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ noch drin. Konsequenzen für Ihre Politik scheint das aber keine zu haben. Was macht denn die Landesregierung gegen die steigende Ungleichheit im Land? Nutzt sie ihre Möglichkeiten? – Bei weitem nicht!
Hier mal ein Beispiel: Das Tariftreue- und Vergabegesetz NRW hat unter anderem die Aufgabe, faire Löhne zu ermöglichen und Sozialdumping zu bekämpfen. Ein fairer Lohn, der eine Rente ermöglicht – das wurde ausgerechnet –, eine Rente, die über der Grundsicherung liegt, beträgt in etwa 12 € pro Stunde. Also wäre es angemessen, bei Aufträgen der öffentlichen Hand einen vergabespezifischen Mindestlohn von 12 € einzuführen. Was aber macht Herr Minister Duin bei der Novellierung des Gesetzes? – Er schafft das Instrument des vergabespezifischen Mindestlohns klammheimlich ab und ersetzt es durch den viel tiefer liegenden bundesweiten Mindestlohn. Hier wird Haushaltskonsolidierung auf Kosten der Schwächsten in unserem Land betrieben!
Das ist schon schlimm genug, hat aber noch weitere Folgen. Wenn private Anbieter Löhne unterhalb der niedrigsten Tarifgruppe des öffentlichen Dienstes zahlen dürfen, dann werden immer mehr staatliche Leistungen privatisiert, mit entsprechenden Folgen für die Qualität, und zwar nicht – wohlgemerkt! –, weil etwa Private eine Leistung effizienter anbieten können, sondern weil sie Niedrigstlöhne zahlen dürfen. Ist das die hier vorherrschende Vorstellung eines modernen Staatswesens? – Unsere ist es jedenfalls nicht.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, wir Piraten sprechen gerne mal zur Digitalisierung, auch zur digitalen Wirtschaft, und haben entsprechende Initiativen zuhauf in den Landtag eingebracht. Ich möchte nicht alles wiederholen, aber auf eine Zahl gehe ich mal ein: 2031, und zwar das Jahr 2031. Das liegt für uns noch in weiter Zukunft, immerhin 15 Jahre. Bis zum 1. Januar 2031 sollen Landesbehörden auf elektronische Verwaltungsabläufe, also E-Government, umgestellt haben. So will es die Landesregierung. Wow, da wird man echt sprachlos! Die Langsamkeit, mit der Sie die Digitalisierung angehen, ist einer der größten Bremsklötze für die Entwicklung unseres Landes.
(Beifall von den PIRATEN, der CDU und der FDP)
Diese Gemütlichkeit passt vielleicht in eine bayerische Gaststätte, nicht aber zum bedeutendsten Politikfeld dieses Jahrhunderts, und das in NRW.
(Zuruf von Armin Laschet [CDU])
– Die Gemütlichkeit hat ja etwas für sich, aber eben nicht da.
(Armin Laschet [CDU]: Die bayerische ist schneller!)
Dadurch erklärt sich auch, warum die Landesregierung bei wichtigen Projekten einfach nicht vorwärtskommt.
Wie sieht es denn mit der Start-up-Kultur in unserem Land aus? – Wir brauchen natürlich die kreativen Köpfe, die digitalen Tüftler. Denn ihre Ideen werden das Land wirklich voranbringen. Aber die Landesregierung bekommt von den Start-ups selbst die Schulnote 3,9, Tendenz stagnierend. Andere Bundesländer hingegen werden deutlich besser bewertet. Das ist also gerade ein „ausreichend“ für einen Politikbereich, den Minister Duin eigentlich voranbringen wollte. Das ist die Realität und nicht die rosarote Brille, die sich die Kollegen von Rot und Grün hier immer wieder aufsetzen. Insgesamt stagniert die Gründungsquote in NRW. Und gerade bei den Start-ups – ich kann es nur gebetsmühlenartig wiederholen –: Start-ups sind zarte Pflänzchen, die eine eigene Ökosphäre brauchen. Offensichtlich sind andere Bundesländer da etwas besser als wir.
Also: Die Gründungsquote stagniert. Aber es gibt trotzdem einen Lichtblick: Immer mehr Migranten gründen Unternehmen und schaffen Arbeitsplätze. Das ist gut so und verdient viel mehr gesellschaftliche Anerkennung, als das heute der Fall ist. Zum Glück – dieser Satz ist heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich – haben wir Menschen mit Migrationshintergrund in Nordrhein-Westfalen.
(Beifall von den PIRATEN)
Zu guter Letzt ein paar Worte zu den Kollegen der Union: Sie schaffen es ja erstaunlich gut, den Eindruck zu erwecken, Ihre Partei hätte mit den Zuständen in diesem Land rein gar nichts zu tun. Welcher Partei gehört denn der Bundesminister an, der die völlig absurde Idee einer Ausländermaut umsetzen will
(Beifall von den PIRATEN und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
und damit das nächste Desaster nach Toll Collect provoziert? Und welche Partei hat denn jahrelang die Störerhaftung verteidigt und damit verhindert, dass es in Deutschland an jeder Ecke offene WLANs gibt? Das ist die Bremsklotzpolitik der Union und nichts anderes! – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN)
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Bolte.
Teil 2: Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Priggen. – Für die Piraten spricht der Kollege Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank. Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Vielen Dank für die sachlichen Beiträger, im Übrigen zuletzt Herrn Priggen. Allen anderen möchte ich raten, den Kopf mal unter den Wasserkran zu halten. Das verbessert vielleicht nicht Ihr Denken, aber es kühlt zumindest ab.
(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)
Im Hinblick auf die Frage, was dieses Land wirklich braucht – ich weiß, die FDP wird gleich wieder mit den Augen rollen –, möchte ich mal auf jemanden referenzieren, der sich letztlich in unseren Augen als einer der größten Ökonome des 20. Jahrhunderts entpuppt hat, nämlich John Maynard Keynes.
(Zurufe: Oh!)
Der Punkt ist: Keynsianische Wirtschaftspolitik ist nicht in jeder wirtschaftlichen Situation die richtige, dafür aber in vielen und in manchen anderen – so auch jetzt.
Ich habe ein Beispiel von Herrn Prof. Andreas Syska erfahren, bei dem man das mal umgebrochen und besonders griffig gemacht hat. Einige von Ihnen, vor allem die Kollegen aus dem Wirtschaftsausschuss, werden ihn nächste Woche Mittwoch kennenlernen. Wir haben ein Sachverständigengespräch zum Thema „Industrie 4.0“.
(Zuruf von der FDP: Wann ist das?)
– Am Mittwoch. – Prof. Syska ist Maschinenbauer und Produktionsökonom im Fachbereich BWL und hat mit seinen Studenten etwas ausgerechnet. – Jetzt machen wir mal was ganz Neues: interaktives Parlament. Was schätzen Sie, was ein Bahnkilometer ICE auf der Strecke von Köln nach Frankfurt in voller Fahrt – und zwar für den ganzen Zug, nicht pro Person – kostet? Das hat er mit seinen Studenten mal umgebrochen und kam bei 300 km/h auf einen Preis von 11 € pro Bahnkilometer.
Wenn man diese 11 € mal ein bisschen aufdröselt, stellt sich heraus, dass die Bahn allein 4,50 € für die Nutzung der Infrastruktur an den Partner DB Netze zahlt. Die Lohnkosten für den Bahnkilometer betragen 2,50 €, vom Lokführer bis zum Servicepersonal im Speisewagen. Daran sieht man sehr deutlich, was schiefläuft. 4,50 € für eine fiktive Netzgebühr – wenn das jetzt die Menschen betreffen würde, dann könnte man davon ausgehen, dass es bei der Bahn weniger Signalstörungen gibt. Die gibt es aber nicht. Nur 2,50 € entfallen auf die Lohnkosten. Da steht der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt.
Mit Keynes möchte ich mich ganz deutlich – auch im Namen meiner Partei – für eine eher nachfrageorientierte Politik aussprechen. Wir betreiben eine ausschließlich angebotsorientierte Politik, und das aufgrund einer schlecht gemachten Schuldenbremse. Ich weiß, dass mir viele Sozialdemokraten im Herzen zustimmen werden. Sie trauen sich nur nicht, das laut zu sagen. – Danke.
(Beifall von den PIRATEN)
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Herr Minister Duin, Sie haben das Wort.