Meine Rede zu TOP 1 am 6. April 2017 – Vorausschauende Wirtschaftspolitik fortsetzen. Starker Standort NRW! – Unterrichtung durch die Landesregierung
Aus dem Plenarprotokoll: Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Lieber Herr Präsident! Danke für die netten einleitenden Worte. Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich hoffe, ich werde gegen Ende meiner Rede noch ein paar versöhnliche Worte finden. Ich möchte mich auch ganz persönlich bei Reiner Priggen bedanken. Damals als frischgebackener Fraktionsvorsitzender im Ältestenrat hat er es mir ein Stück weit leicht gemacht.
Die Landesregierung hat heute Auskunft darüber gegeben, wie sich Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren wirtschaftlich entwickelt hat. Der Wirtschaftsminister hat Zahlen genannt, auf Indikatoren hingewiesen, die Initiativen der Landesregierung in der Vergangenheit aufgezählt und darauf abgestellt, was man in Zukunft tun sollte.
Richtig ist, dass sich Nordrhein-Westfalen in einem Wandlungsprozess befindet – „wieder einmal“ kann man sagen, oder besser: immer noch. Denn NRW ist fast schon ein Synonym für Wandel. Es gab die Kohle- und Stahlkrise in den 60ern und 70ern, und auch die Textilindustrie hat sich aus dem Bergischen Land und anderen Regionen zurückgezogen. Auch der Fahrzeugbau, die Elektrotechnik und die Chemieindustrie haben heftige Einbrüche erlebt.
Das ist alles nicht neu. Die betroffenen Regionen leiden aber noch immer unter den verloren gegangenen Arbeitsplätzen. Und nun kommt auch noch die Digitale Revolution, die alte Qualifikationen entwertet, neue Kompetenzen einfordert und manchmal disruptiv die Strukturen im Land auf den Kopf stellt.
Richtig ist außerdem, dass die Industrieproduktion entgegen dem Bundestrend in NRW seit dem Jahr 2011 gesunken ist. Auch der Auftragseingang der Industrie ist rückläufig. Das zeigen die offiziellen Zahlen des Jahreswirtschaftsberichts 2017. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes in Nordrhein-Westfalen liegt inzwischen unter dem Bundesdurchschnitt, und damit hat unser Land zu kämpfen.
Das ist die Realität, der wir uns stellen müssen. Da hilft auch keine Schönrednerei. Das sind schmerzhafte Einsichten, aber umso wichtiger ist es, dafür Verantwortung zu übernehmen. Aber das wollen Sie anscheinend nicht. Ich sage stattdessen: Wir müssen endlich die Ärmel hochkrempeln; denn gerade in Zeiten der Digitalisierung brauchen wir dringend eine Runderneuerung der Wirtschaft. Dabei helfen ganz sicher keine megaherzigen Regierungserklärungen.
Kein anderer Wirtschaftsbereich steht besser für den Wandel als die Start-ups. Was ist da die Bilanz von Rot-Grün nach fünf Jahren? – Ich zitiere den Jahreswirtschaftsbericht 2017:
„Mehr als 400 junge Unternehmen im Bereich der Internetwirtschaft sind ein Beleg für das positive Gründerklima.“
An diesem Beispiel zeigt sich wieder einmal, wie unterschiedlich die Zahlen bewertet werden. Sie sagen: 400 Start-ups sind gut. – Wir sagen: Wenn fast 18 Millionen Bürger gerade einmal 400 Start-ups gründen – also rechnerisch nur ein Start-up auf 40.000 Bürger kommt –, dann läuft etwas so nicht ganz richtig in unserem Land. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass die tollen Menschen in Nordrhein-Westfalen noch viel mehr gute Ideen haben und das brachliegende Potential noch größer ist – aber auch, dass die Hürden größer sind als gedacht. Hier muss die zukünftige Landesregierung noch stärkere Akzente setzen als bisher.
Wenn wir schon über Wirtschaft reden, müssen wir auch über die Kreativen reden. Die Kultur- und Kreativwirtschaft erwirtschaftet eine Bruttowertschöpfung von 18,5 Milliarden € – so viel, wie der Kraftfahrzeugbau und die chemische Industrie zusammen in Nordrhein-Westfalen. Dabei sind in der Kultur- und Kreativbranche mehr Erwerbstätige beschäftigt als im Kraftfahrzeugbau, in der chemischen Industrie und der Energiewirtschaft zusammengerechnet. Da ist noch sehr viel mehr möglich.
Der wichtigste Teilmarkt der Kultur- und Kreativwirtschaft ist die Softwareindustrie inklusive der Games-Industrie. Obwohl Nordrhein-Westfalen mit der Gamescom jedes Jahr Magnet für das internationale Fachpublikum ist, liegt das Umsatzvolumen der Branche weit unter dem Bundestrend. Das kann nicht sein, das muss sich ändern! Wir Piraten haben deshalb in der Vergangenheit Haushaltsänderungsanträge gestellt, um hier das Potenzial besser auszuschöpfen.
Meine Damen und Herren, wie gehen wir die wirtschaftspolitischen Probleme in unserem Land an? – Brauchen wir etwa möglicherweise – ich habe da so etwas läuten hören – mehr nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik? Muss der Umweltschutz zurückgeschraubt, müssen Standards gesenkt, Unternehmen entlastet werden, damit es Nordrhein-Westfalen wieder gutgeht, wie es die CDU und die FDP immer wieder suggerieren? – Die Antwort ist ein klares „Nein“. Die Lösung im Klein-Klein zwischen Landeswassergesetz und Tariftreuevergabegesetz zu suchen, geht völlig an der Realität vorbei.
Da gibt es weltweit die Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts. Die müssen von der Politik gesehen und konstruktiv umgesetzt werden – auch in Nordrhein-Westfalen.
Die politische Bildsprache auf Wahlplakaten ist ja manchmal unfreiwillig verräterisch. Ich bin vor Kurzem an einem FDP-Plakat vorbeigefahren, auf dem der Kollege Lindner frisch beflaumt und gefotoshopt so angestrengt-engagiert schräg nach links unten blickt. Ein Küchentisch-Psychologe hat einmal versucht, mir zu erklären, dass zwanghafte Ordnungsfanatiker beim Nachdenken so dreinblicken würden. Bei „Raumschiff Enterprise“ war es immer Scotty, der so geguckt hat, wenn der Warp-Antrieb kaputt war. Aber da macht Herr Lindner ein Gesicht, als hätte man ihm gerade die wirtschaftspolitische Glaskugel geklaut.
(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])
– Es geht wirtschaftspolitisch aber nicht um Glaskugeln und Marktesoterik, lieber Kollege Brockes, sondern darum, den aktuellen Rahmenbedingungen unserer Welt auch in Nord-rhein-Westfalen konstruktiv zu begegnen. Die aktuellen Rahmenbedingungen sind aktuell gut: Die Zinsen sind niedrig, der Ölpreis auch – noch. Woran es mangelt, sind Investitionen – nicht zuletzt öffentliche. Zu diesem Ergebnis kommt auch das Bundeswirtschaftsministerium.
Es war ein Fehler der letzten zwei Jahrzehnte, von der Substanz zu leben und nicht mehr ausreichend in die Infrastruktur zu investieren. Die Brücken bröckeln, die Schulen sind marode, Datenpakete werden durch Kupferleitungen aus den Achtzigern gepresst. Das müssen wir ändern. All diese Versäumnisse der letzten Jahre gilt es aufzuholen. Gleichzeitig muss das Land fit gemacht werden für die Digitalisierung. Das gibt es aber nicht zum Nulltarif. So ehrlich müssen wir den Menschen gegenüber schon sein.
Es gibt viele Beispiele für volkswirtschaftlich lohnende Investitionen, zum Beispiel in die Bildung, nicht zuletzt um Schulen – auch berufsbildende Schulen sowie Hochschulen – für die Digitalisierung fitzumachen. Aber auch eine wirkliche Investitionsoffensive in Glasfasernetze bringt das Land voran. Da die geförderten Netze in kommunaler Hand verbleiben, werden sie verpachtet und refinanzieren sich selbst.
So geht doch eine vorausschauende Wirtschaftspolitik. Denn wie sich früher Wohlstand und Arbeitsteilung entlang der Flüsse und Handelsstraßen ausgebreitet haben, sind es heute die Datenströme, die zählen. Bislang aber durchziehen nur kleine, extrem zähfließende Datenadern das Land: Bits und Bytes auf dem Feldweg. Das muss sich ändern.
Wir Piraten haben dazu ausgiebige Vorschläge vorgelegt. Die digitale Spaltung in Stadt und Land muss überwunden werden, und es müssen ultraschnelle Glasfaserleitungen verlegt werden. Insbesondere weil NRW im Strukturwandel steht, müssen wir hier der Impulsgeber sein. Während Wirtschaftsminister Duin noch oft von marktgetriebenem Ausbau redet, ist Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur, schon weiter und drängt zur Eile. – Zitat aus der „FAZ“ vom 14. März 2017:
„Wir können den Breitbandausbau nicht vertagen, bis Nachfrage und Zahlungsbereitschaft für die Investitionen ausreichen. Dann würden wir das Kostbarste aufs Spiel setzen, was in der digitalen Welt gibt, nämlich Zeit.“
Sie sehen: Da ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Machen Sie den Breitbandausbau zur Aufgabe einer öffentlichen Daseinsvorsorge.
Im Übrigen wurden die Kosten für ein flächendeckendes Glasfasernetz in NRW in einer Studie der NRW.Bank auf rund 8,6 Milliarden € beziffert. Das hört sich, wenn man in kurzen Zeiträumen denkt, so an, als sei das recht viel. In einem Abschreibungszeitraum von 20 Jahren sind das 2 € pro Bürger und Monat. Das ist also machbar.
Aber überall, wo wir mehr Geld fordern, muss es auch sauber zugehen. Auch der Wirtschaftsminister muss das im eigenen Haus tun und gut wirtschaften. Wir Piraten haben eine parlamentarische Initiative angestoßen, damit mit all den politischen Leuchtturmprojekten, mit unter Verschluss gehaltenen Gutachten, mit den Auftragsevaluierungen, die komischerweise immer positiv ausfallen, und mit den Rügen des Landesrechnungshofes endlich Schluss ist.
Wir wollen eine transparente Wirkungsanalyse, damit die Menschen in unserem Land sehen können, ob ihre Steuergelder sinnvoll eingesetzt wurden. Das haben Sie verhindert. Warum Ihnen die Transparenz da unangenehm ist, werden Sie wohl selbst am besten wissen. Wir verstehen das nicht.
Wir müssen also investieren – im Gegensatz zur Politik dieser Landesregierung, die nur 2,2 % der Gesamtausgaben in investive Projekte leitet und damit den vorletzten Platz im Bundesländervergleich belegt. Politik soll gestalten und Probleme lösen. Das ist unser Grundverständnis.
Wer aber den Gestaltungsspielraum der Politik im Namen einer Austeritätspolitik gefährlich einschränkt und die Schuldenbremse beschließt – das will die politische Mehrheit hier im Parlament ja heute Nachmittag machen –, der stärkt die Politikverdrossenheit und damit den Rechtspopulismus in unserem Land. Das ist unverantwortlich.
Wir sollten uns einmal ganz ehrlich anschauen, was für Töne da inzwischen auch von intelligenteren Mitbürgern angeschlagen werden. Ich zitiere einmal aus Heribert Prantls Aufsatz „Gebrauchsanweisung für Populisten“, und zwar aus einem Absatz, der mit „Die schwarze Null und die braune Kloake“ betitelt ist:
„In der Empörung über Trumps großmäuliges Versprechen, er werde der größte Job-Producer sein, den Gott je erschaffen habe, kommen viele gar nicht dazu, sich darüber zu empören, dass die Spardiktate der Europäischen Kommission, der EZB und des Internationalen Währungsfonds (IWF) der größte europäische Jobvernichter waren. Sie sind nicht von Gott, sondern vom deutschen Finanzminister Schäuble als treibende Kraft erschaffen worden, und sie werden noch immer aufrechterhalten, mittlerweile selbst gegen den Widerstand des IWF. Und die Sozialdemokratie hat sich nicht mit Protest hervorgetan, sondern mit braver Assistenz bei der Malträtierung Südeuropas, speziell Griechenlands. Deutschland stört sich weiterhin nicht an der internationalen Kritik an seiner Exportfixierung, die die europäischen Nachbarn aus dem Gleichgewicht bringt. Deutschland lässt sich nicht beirren darin, die schwarze Null als wichtigstes finanzpolitisches Ziel hochzuhalten.“
Also sagen Sie den Menschen hier einmal im Klartext, was es heißt, wenn das Land keine Schulden machen darf.
Da Bundesländer kaum Möglichkeiten haben, Steuern zu erhöhen, werden die öffentlichen Investitionen von dem heute schon niedrigen Niveau noch weiter absinken. Damit wird die Landespolitik ihrem Auftrag gegenüber den Bürgern, nämlich Vorsorge zu betreiben, zu investieren und Probleme zu lösen, nicht mehr nachkommen können. Das halten Sie vielleicht für einen Fortschritt. Ich aber sage: Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch ist das ein Rückschritt, der uns sehr, sehr teuer zu stehen kommen wird; denn das führt 2020 direkt in die Unregierbarkeit.
Bereits heute haben wir in Nordrhein-Westfalen mit einer extremen Missbalance zu kämpfen. Übrigens weist im Jahreswirtschaftsbericht 2017 auf dieses Problem auch eine Person hin, die nicht im Verdacht steht, mein wirtschaftspolitischer Freund zu sein, nämlich der Präsident der Industrie- und Handelskammern NRW, Ralf Kersting. Ich zitiere:
„In kaum einem anderen Bundesland liegen prosperierende und schrumpfende Regionen so nahe beieinander. So liegt die Landeshauptstadt Düsseldorf als Ort mit dem höchsten BIP pro Einwohner in Nordrhein-Westfalen – mit 215 % des Bundesdurchschnitts – keine 50 km entfernt von der Stadt Bottrop, die mit 63 % den niedrigsten Wert in Nordrhein-Westfalen aufweist.“
Ich muss Herrn Kersting kritisieren. Das Zitat hinkt etwas. Düsseldorf hat einen Flughafen: Ziehen wir also von den 215 % 75 % ab; trotzdem ist das immer noch wesentlich mehr als in Bottrop.
Wollen wir und können wir uns diese gesellschaftliche Disruption – diese Verwerfung – in der Zukunft weiterhin leisten? Ich sage Nein. Lassen Sie uns gemeinsam in die Zukunft – hier: in die digitale technologische Revolution – investieren.
Lassen Sie mich zum Abschluss ein paar persönliche Worte finden. Als ich 2015 nicht mehr für den Vorsitz meiner Fraktion angetreten bin und der Kollege Schwerd zu den ewig gestrigen Klassenkämpfern nach links gewechselt ist, wie die Jungfrau zum Kinde als Sprecher in den wirtschaftspolitischen Ausschuss gekommen. Ich möchte mich bei Ihnen allen, stellvertretend besonders bei Herrn Fortmeier, der den Vorsitz innehat, für die sehr freundliche und kollegiale Aufnahme in diesen Ausschuss bedanken.
Ich glaube, wir haben einiges voneinander gelernt. Ich hatte viel Spaß mit Ihnen; ich hoffe, Sie hatten manchmal keinen mit mir.
(Michael Hübner [SPD]: Keinen?)
Es gab auch einige unvergessene Momente. Wir haben über sehr viele spannende Themen, wie Industrie 4.0, diskutiert – auch sehr kontrovers. Wir haben auch über die Wirtschaftspolitik diskutiert, die eher angebotsorientiert sein soll.
Ein Moment wird mir in Erinnerung bleiben. Das war, als die von uns bestellte Sachverständige Frau Prof. Mechthild Schrooten aus Bremen über nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik und die Forderung danach gesprochen hat: Das Gesicht des Kollegen Brockes wurde während der Anhörung länger und länger. Das ist für mich ein unvergessener Moment. Trotzdem, lieber Dietmar, sind wir kollegial miteinander umgegangen, und wir hatten auch Spaß miteinander. Ich sage Ihnen allen noch einmal vielen Dank.
(Beifall von Dietmar Brockes [FDP])
Ich werde weiterhin wirtschaftspolitische Rede halten; ich hoffe, es wird hier sein, und wenn es nicht hier ist, wird sich vielleicht Herr Duin freuen; ich weiß es nicht. Aber ich werde sie weiterhin halten, egal wo. – Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall von den PIRATEN und von Dietmar Brockes [FDP])
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Dr. Paul, vielen Dank für Ihre Rede und vielen Dank für Ihre Arbeit. Aber wer weiß, was die Wahl mit sich bringt; Sie treten ja noch einmal an. Von daher können Sie hier oder an anderer Stelle weiter wirtschaftspolitische Reden halten, was für Sie offensichtlich zu einem Lieblingsthema und zu einer besonderen Berufung geworden ist.
(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Ja, ich habe es lieben gelernt!)
Vielen Dank also, auch für diese Rede. – Nun spricht für die Landesregierung Herr Minister Duin.