ist online. Hier. Das Lebenswerk eines Ausnahme-Denkers, eines dialektischen Virtuosen des 20. und 21. Jahrhunderts.
Hiermit sei gleich eine Warnung verbunden. Sowohl Digitalisten und Turing-Universum-Gläubige als auch klassische Philosophen oder Mitmenschen, die die klassische Philosophie für die Krone allen Denkens halten, könnten beim Studieren des Lebenswerks von Rudolf Kaehr – ein gewisses Verständnis vorausgesetzt – in Hyperventilation geraten. Kaehrs Werk sprengt die Grenzen eingetretener Denkpfade – wer sich nicht darauf einlassen will, sollte es lassen können.
Wenn Sie sich nicht sicher sind – konsultieren Sie ihren Hausarzt. Für manche kann die prophylaktische Einnahme von Beruhigungsmitteln oder – je nach Prädisposition – anderen neuronalen Enhancern durchaus sinnvoll sein.
In jedem Falle sinnstiftend ist zuvor die Lektüre der Annotationen zum Archiv von Eberhard von Goldammer, die darüber aufklären, was die LeserInnen erwartet. Rudolf Kaehr verstarb am 4. Juli 2016 in Glasgow in seinem Arbeitszimmer. Einen Versuch eines Nachrufs mit einigen weiteren Details zu seinem Leben finden Sie hier.
Mit Heinz von Foerster weist Rudolf Kaehr darauf hin, dass neue Bewegungen des Denkens wie etwa die sog. 2nd order cybernetics, der Übergang von der Selbstorganisationstheorie zur Autopoiese sowie der vom radikalen Konstruktivismus beanspruchte Paradigmawechsel eines operativen Organons bedarf. Andernfalls drohe die Auflösung in der „Inflation des Geredes“ (v. Foerster).
Es darf behauptet werden, dass die Konstruktion dieses operativen Organons einen, wenn nicht den wesentlichen Teil des wissenschaftlichen Schaffens von Rudolf Kaehr ausmachte. Und das war durchaus von Erfolg gekrönt, zum einen führte er die Memristik in die Wissenschaft ein. Ingenieure von Hewlett Packard interessieren sich nun für die Arbeiten Kaehrs zu Memristoren. Zum anderen konstruierte er zelluläre Automaten auf Basis der Morphogrammatik und emulierte diese in der Programmiersprache Mathematica von Stephen Wolfram.
Darüber hinaus entwickelte er auch die Diamond Theory, eine formal-applikative Umsetzung der Günther-Kaehrschen Proemialrelation, die als eine polykontexturale Erweiterung des Tetralemma-Verfahrens verstanden werden kann. Das Tetralemma, auch Urteilsvierkant genannt, die – wahrscheinlich – auf Nagarjuna zurückgehende altindische Denkfigur des Catuṣkoṭi, ist klassisch logisch nicht auflösbar. Kaehr entwickelte eine formale Fundierung in der Polykontexturalen Logik.
Über die grafische Darstellung des Tetralemma als Rhombus gelangte er zum Begriff des Diamond und schreibt dem Namen der Theorie damit gleich seinen Humor ein, denn seine längst verschollene erste Präsentation zum Thema zeigte und zitierte Norma Jeane Baker aka Marilyn Monroe und ihren Song „Diamonds are Girls best Friends“.
Basierend auf der Diamond Theory konstruierte Kaehr universell anwendbare Frage-, Argumentations- und Analysetechniken, die er unter dem Begriff Diamond Strategies zusammenfasste. Er nutzte diese in Folge zur Erörterung von Fragen, die zum Teil weit ins Politische hineingreifen, so z.B. zur Frage nach dem Sozialen in den sog. Social Networks in seinem Beitrag Diamond-Web 2.0. In seinem Aufsatz „The Logic of Bailout Strategies“ setzt er sich mit Staatsverschuldung und Bankenrettung auseinander und entwickelt des Weiteren „Eine kleine Meontik des Schwarzgeldes„.
Nicht nur deshalb bezeichnet Eberhard von Goldammer in seinen Annotationen Rudolf Kaehr als intellektuellen Freistil-Kletterer. Die Nachwelt wird anerkennen müssen, dass diese Fähigkeit selten geworden ist und darüber hinaus auch unter den heutigen Randbedingungen der um sich greifenden Ökonomisierung des Hochschulwesens nicht befördert wird.
Hinweise zum Archiv
Seit seinem Umzug nach Glasgow publizierte Rudolf Kaehr zunehmend in englischer Sprache und seit 2002 konsequent und ausschließlich im Netz auf seinen eigenen WebSites www.thinkartlab.com und www.memristics.com sowie auf diversen wissenschaftlichen Publikationsplattformen wie bepress, scribd und yumpu. Alle diese Arbeiten haben wir neben den älteren schon länger auf www.vordenker.de verfügbaren zusammengetragen und als pdf-Dateien zugänglich gemacht. Zudem versah E. v. Goldammer alle Dateien mit einer Kopfseite, die neben dem Titel, dem Abstract, einer thematischen Kategorisierung im Archiv und einer Rubrik „How to cite“ auch die absolute URL ins Archiv enthält. Aus Gründen. Denn einige US-amerikanische wissenschaftliche KI-Suchmaschinen machen die Dokumente nicht lediglich auffindbar, sie harvesten sie auch gleich auf eigenen Servern, oft ohne Nennung der Ursprungs-URL.
Unser ganz herzlicher Dank gehört seinem Erben, seinem Sohn Ossip Kaehr, der uns die Genehmigung für dieses Archiv gab.
Erkenntnisse und Spass beim Studieren wünschen Eberhard von Goldammer und Joachim Paul (Hg.)