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Gestern stolperte ich über einen Beitrag auf DIE ZEIT online, der mich gleichermaßen zornig und nachdenklich machte. Da erhält die junge Saxophonistin Anna Lena Schnabel den Preis „ECHO Jazz“ in der Kategorie „Newcomer“. Und der veranstaltende Sender NDR teilt ihr mit, sie solle auf der Preisverleihung mit TV-Übertragung keine Eigenkomposition spielen, sondern eine Fremdkomposition, die sich – als einzige Coverversion – ebenfalls auf ihrem neuen preiswürdigen Album befindet. In der Begründung des Senders für diese Anweisung heißt es sinngemäß, die Eigenkompositionen der Saxophonistin seien nicht so „gefällig“, sie müsse daher kompromissbereit sein, dies sei ein Zugeständnis an das breitere TV-Publikum. Dies geschah im Juni 2017 in Hamburg.
Der Anlass für den Beitrag auf DIE ZEIT online ist eine jetzt von ZDF/3sat veröffentlichte dreiviertelstündige, großartig gemachte Dokumentation, die den gesamten Hergang der ECHO-Preisverleihung aus unterschiedlichen Blickwinkeln schildert. Neben der Musikerin selbst kommen sehr viele Beteiligte zu Wort, so dass sich ein recht rundes Bild ergibt.
Es spricht für die Musikerin Anna Lena Schnabel, ihr Standing, ihre Ehrlichkeit, ihre Persönlichkeit, dass sie tatsächlich überlegt hat, unter diesen Umständen – nämlich nicht ihre eigene Musik präsentieren zu dürfen – den Preis abzulehnen, dann aber doch diesen Kompromiss eingegangen ist. Den inneren Konflikt schält der Beitrag gut heraus.
Dieses Beispiel aus dem für viele vielleicht randständigen Thema „Preisverleihung ECHO Jazz“ ging mir richtig nahe. Und das nicht nur, weil Jazzmusiker grundsätzlich einen Sympathiebonus bei mir haben. Bin ich ein Jazz-Fan? Ja vielleicht, ich mag dort so Einiges, aber ein Purist bin ich nicht. Es gibt da noch z.B. Klassik, Metal und Anderes. Dennoch weiß ich z.B. um den stilbildenden Einfluß von John Coltrane, Miles Davis oder Keith Jarrett, und „Winterschladen“ ist für mich kein Pudding, sondern ein großartiger Trompeter (Reiner Winterschladen).
Das scheint mir ein Symptom für unsere Zeit zu sein, die sich entwickelnde postindustrielle Gesellschaft, mit ihrer Aufmerksamkeitsökonomie und dem kapitalistisch-informationstechnologischen Komplex – in der die Anbetung von Einschaltquoten und Clickrates das erste Gebot ist.
Auf der einen Seite heißt es von vielen Publizisten und Politikern – auch gern als Antwort auf Gleichschaltung und die „Volksmythen“ und „-vorstellungen“ der AfD genommen – wir seien eine Gesellschaft der Vielfalt und Toleranz, Vielfalt sei unsere Stärke. Von Plakatwänden und aus Imagewerbungen für Produkte und Dienstleistungen schallt es fast gleichgeschaltet in einem fort, bis es einem zu den Ohren rauskommt, und meist an junge Leute adressiert, „Sei Du selbst!“ – „Sei individuell!“ – „Mach‘ Dein Ding!“ – und „Gründe – vrdmmt nch ml – ein StartUp!“ – „Du kannst ein Gewinner sein!“
Die Aufmerksamkeitsökonomie produziert wenn nicht unmittelbar Gleichschaltung so doch kulturelle Verarmung. Und das gilt nicht nur für den Jazz oder Musik im Allgemeinen. Das Phänomen haben kennen wir auch aus der Literatur. Und es kann auch in der Wissenschaftsszene gefunden werden, z.B. an Lehrstühlen für Volkswirtschaft oder Philosophie, um nur zwei Bereiche zu nennen.
„Mainstream“ und „massenkompatibel“ sind hier die von der Aufmerksamkeitsökonomie eingeforderten Soll-Attribute.
Und es hat etwas eklig Skandalöses, wenn gerade eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt mit ihren Kultur- und Bildungsaufträgen eine Preisträgerin ausdrücklich! nötigt, sich anzupassen.
Man muss doch Kompromisse machen! So ist das Leben! Aus dem preisgekrönten „Mach‘ Dein Ding!“ wird so ein „Pass‘ Dich an!“ – Man kann es drehen und wenden, wie man will, das ist verlogen und produziert zusätzlich bei den Betroffenen eine Schere im Kopf.
„Sei – im Jazz mehr oder weniger – massenkompatibel!“ Ich bin selbst auch nicht massenkompatibel, ich will es gar nicht sein und solidarisiere mich mit der Jazzmusikerin. (Sorry Helene Fischer, ich kenne Dich nicht persönlich, aber bei Deiner Musik muss ich kotzen.)
Und ja Sascha Lobo, Du fragtest unlängst in Deiner Kolumne auf SPIEGEL Online, ob und woran „die Medien“ wirklich schuld sind. Meine Antwort, ja, sie sind wirklich „schuld“, manchmal. Und dass ich das mit meinen GEZ-Gebühren auch noch bezahle, macht es nicht besser.
Das Beispiel Anna Lena Schnabel kann direkt in Beziehung gesetzt werden auf einen grundsätzlichen Aspekt der Kulturkrise im postindustriellen Kapitalismus, auf den schon der Soziologe Daniel Bell hingewiesen hat.
„Für die westliche, die kapitalistische Welt mag eine solche Entwicklung, um mit Habermas zu sprechen, zu einer „Motivationskrise“ führen. Meiner Meinung nach jedoch kommt hier noch ein umfassenderer Aspekt ins Spiel, eine „Kulturkrise“, die sich allein aus der Tatsache ergibt, daß durch die axialen Prinzipien der Wirtschaft Effizienz und funktionale Rationalität* betont und die Menschen auf Rollen und ihre Eignung dafür festgenagelt werden sollen, während die Kultur Selbstverwirklichung und Selbstgenuß fordert und sich dadurch in direkten Widerspruch zur techno-ökonomischen Ordnung begibt.“
*Effizienz und funktionale Rationalität, hier interpretierbar als die Anforderungen der Aufmerksamkeitsökonomie, des Senders NDR an die Musikerin – im Gegensatz zum Versprechen der Selbstverwirklichung.
Dennoch, habt Spaß, und genießt mal wieder Musik, es muss ja nicht Mainstream sein.
Nick H. aka Joachim Paul
Beitrag in DIE ZEIT online, hier.
Die Doku verbleibt etwa ein Jahr in der Mediathek von 3sat … (toll!)
Ach ja, unbedingt nach „Anna Lena Schnabel“ suchen, auch auf youtube wird man fündig.
Quelle:
Bell, Daniel; Die nachindustrielle Gesellschaft, orig.: The Coming of Post-Industrial Society – A Venture in Social Forecasting, New York 1973; Dt. Frankfurt/ New York, 1975, S. 16f