Liebe Vordenkerinnen, liebe Vordenker,
die letzte Ausgabe des vordenker newsletters ist fast ein Jahr her. In ihr präsentierten wir – als ziemlich großen Brocken – das Rudolf Kaehr Archiv nebst einer Einleitung von Eberhard von Goldammer.
Nun gibt es eine ganze Reihe kleinerer Neuigkeiten. Zunächst drei Hinweise auf Lesenswertes, Belletristisches des Autors A.J. Weigoni nebst Besprechung von Constanze Schmidt und Wissenschaftlich-Prosaisches des Physikers Willy Bierter und des Ingenieurs Ulrich Kramer.
Aber der Reihe nach: Fünf im Original englische Arbeiten von Gotthard Günther liegen nun bilingual – englisch/deutsch – vor und mögen – unter anderem – weitere wichtige Einsichten zur Kybernetik und ihrer Geschichte liefern – fernab der umsichgreifenden Begriffsmissbräuche und Sprechblasenproduktionen dazu im Netz.
Warum auf Deutsch, reichen nicht die englischen Originale? Das ist sicher eine berechtigte Frage. Allerdings sind englische Texte mit einigem philosophischen Gehalt nicht jederfraumann gleichermaßen zugänglich. Deshalb haben wir uns zu diesen Übersetzungen entschlossen, die übrigens rationalisiert werden konnten durch den sehr guten Kölner Online-Übersetzer DeepL. Die Performance ist nebenbei bemerkt deutlich besser als die von Google Translate.
Gleichwohl wurden die KI-Übersetzungen in einem sorgfältigen zweischrittigen Verfahren Satz für Satz korrigiert und verbessert. Der Zeitgewinn war jedoch beträchtlich.
Eine kleine Anekdote am Rande, die englischen Texte Günthers enthalten wie zu erwarten recht häufig den Begriff „subject“. Gemeint ist hier natürlich das Subjekt als Gegensatz zum Objekt, als Teil des Begriffspärchens aus der klassischen Seinslehre. DeepL machte aus „subject“ recht häufig „Thematik“ oder „Thema“, woraus – wen wundert‘s? – ein weiteres Mal hervorgeht, dass selbst gute KI-Übersetzer monokontextural arbeiten. In einem anderen Kontext jedoch ist „Thema“ so falsch nicht, den selbstverständlich ist bei Gotthard Günther das Subjekt das Thema ;-), das menschliche zumal.
Die Arbeiten sind bilingual in zwei Spalten präsentiert. Ein Hin- und Herspringen zwischen den Sprachversionen mag so zu der ein oder anderen neuen Erkenntnis führen.
Chronologisch nach den Zeitpunkten ihres Entstehens macht Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations, Kybernetische Ontologie und transjunkte Operationen, den Anfang. Der Aufsatz wurde 1962 veröffentlicht und repräsentiert eine der ersten Arbeiten Günthers am BCL. Er ist insbesondere deshalb interessant, weil das Thema der Kontextur – wie in allen seinen Arbeiten seit den späten 50ern – darin schon implizit angesprochen ist. Zitat aus: Die gebrochene Rationalität, 1958: „Eine nicht‑aristotelische, trans‑klassische Logik ist also ein Stellenwertsystem der klassischen Logik, das die letztere sowohl in ihrer irreflexiven (von uns erlebbaren) Normalform als auch in allen überhaupt möglichen reflexiven Varianten zeigt.“ Gotthard Günther verwendete die Begrifflichkeit der Kontextur – anstelle von Wertsystem oder Stellen- bzw. Ortswertsytem – erst seit etwa 1970.
Natürliche Zahlen in transklassischen Systemen, Natural Numbers in Transclassic Systems, wurde 1971 in zwei aufeinander folgenden Ausgaben des Journal for Cybernetics publiziert. Günther widmete diesen Aufsatz dem Gedenken an Warren S. McCulloch, der im September 1969 verstarb. Der Text stellt insofern eine Besonderheit zu einer „Philosophie der Kybernetik“ dar, weil er explizit darauf insistiert, dass „Theorien der transklassischen Logik und mehrwertige Ontologien“ zu dem Zweck eingeführt werden, „um nicht die ‚essentielle Einheit‘, sondern die wesentlichen Unterschiede im Konzept einer Maschine und dessen, was Wiener das lebende Gewebe nannte, aufzuzeigen.“
A New Approach to the Logical Theory of Living Systems, ein neuer Ansatz zur logischen Theorie lebender Systeme, stammt aus dem Jahr 1972 und ist ein bislang unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrags in Chicago. Es stammt aus dem Privatarchiv von Rudolf Kaehr und ist höchstwahrscheinlich – bislang wurde das nicht überprüft – identisch mit den ersten 15 Seiten in Mappe 264 im Nachlass Gotthard Günthers (Nr. 196) in der Handschriftenabteilung des Staatsarchivs Preussischer Kulturbesitz. Günther referenziert darin auf die Tarner-Lectures des Physikers Erwin Schrödinger am Trinity-College in Cambridge, die später unter dem Titel „Mind and Matter“, bzw. „Geist und Materie“ veröffentlicht wurden.
In dem bislang unveröffentlichten Aufsatz Negation and Contexture, Negation und Kontextur, aus dem Jahr 1972 begründet Günther, warum die Theorie der Monokontexturalität aufzugeben und durch eine Logik polykontexturaler Systeme zu ersetzen ist.
Den Abschluss bildet der Aufsatz Life as Polycontexturality, Leben als Polykontexturalität, aus dem Jahr 1973. Wir enthalten uns eines Kommentars und fordern stattdessen zum Lesen auf, jedoch nicht ohne den Hinweis, dass dieser Text Günthers insbesondere in der Soziologie recht häufig rezipiert wurde.
Zu Ulrich Kramer gab es schon eine Ankündigung. Ulrich Kramer leitete lange Jahre das Autolab an der Hochschule Bielefeld. Veröffentlicht ist hier eine ganze Aufsatzsammlung, „Miä Lääwaafn – Ungehaltene Reden aus nichtigem Anlass“. Miä Lääwaafn ist ein Ausdruck aus dem „Fränggischn“ und bedeutet in etwa soviel wie „Mein Leergerede“. Wie leer dieses Gerede wirklich ist, davon können sich die geschätzten Leser*innen gern selbst überzeugen. Für den schnellen Einstieg gibt es hier separat einen Auszug aus der Aufsatzsammlung mit dem Titel „Zum Ursprung der Kybernetik“ Warum? Weil es passt. Denn der Beitrag stellt die Kybernetik in philosophische und wissenschaftshistorische Bezüge, die so manchen überraschen mögen. Mehr soll hier nicht verraten werden.
Der Düsseldorfer Autor A.J. Weigoni veröffentlichte unlängst einen weiteren Roman, „Lokalhelden“, der als ethnographische Exkursion in den rheinischen Alltag verstanden werden kann. Also Lokales, wohltuend im Zeitalter der Globalisierung, obwohl, global waren die Rheinländer ja schon immer, irgendwie …, globale Lokalhelden eben. Die Besprechung von Constanze Schmidt findet sich hier.
Zu guter Letzt freuen wir uns über Willy Bierter’s „Wege eines Wanderers im Morgengrauen – Auf den Spuren Gotthard Günthers in transklassischen Denk-Landschaften“, ein literarisch-handwerklich gelungener – über weite Strecken dialogischer – Grenzgang an den Rändern der klassischen Seinslehre, nebst Exkursionen und Sprüngen darüber hinaus. …. Es besteht die Hoffnung, dass dieses Buch den Zugang zum Werk des „preußischen Kybernetikphilosophen“ Gotthard Günther für einen größeren Leserkreis öffnet.
Viel Spaß beim Lesen (gerade das sollte man heutzutage öfter mal sagen), Ihr & Euer
Joachim Paul (Hg. www.vordenker.de)