Eberhard von Goldammer (1941 – 2024) – persönlicher Nachruf

(geb. 06.03.1941 in Halle (Saale), – verstorben 27.05.2024 in Herne)

Transdisziplinarität – Komplexität – Selbstreferenz

von Joachim Paul

Wie anfangen?

Eberhard von Goldammer, Vortrag bei der Gesellschaft für Kybernetik am 29.10.2010 // Foto aus Video: Oliver Bandel

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Vollständige Bibliographie

Den Beitrag widme ich meinem Doktorvater und langjährigen Freund, Prof. em. Dr. Eberhard von Goldammer und seiner Familie, seinen Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen.

Es ist mir ein persönliches Bedürfnis, diesen Nachruf zu schreiben, denn ich habe dem Verstorbenen sowohl fachlich-wissenschaftlich als auch als Mensch viel zu verdanken. Aber wo anfangen? So nach und nach realisiert sich aus den Erinnerungen heraus ein Bewusstsein für die Bedeutung des Verstorbenen für die Menschen in seiner Umgebung – und für mich.

Bei Eberhard von Goldammer blicken wir zurück auf ein reiches, erfülltes Leben, in dem zwei Zuschreibungen besonders hervortraten, erstens der Familienmensch und zweitens der Wissenschaftler. Familiäres gehört in die Privatheit der Familie, darüber hinaus verdient sein wissenschaftliches und menschliches Wirken auch eine öffentliche Würdigung.

Als Eberhard von Goldammer 10 Jahre alt war, verstarb sein Vater, ein Verlust mit zwangsläufig prägender Wirkung. Er wuchs im Allgäu als Ältestes von drei Geschwistern auf und ging dort zur Schule. An seinem Gymnasium gehörte auch der Ski-Sport zum Unterricht. Nach dem Abitur studierte er Chemie und Physik, Letzteres u.a. bei Gottfried Falk, an der Technischen Universität Karlsruhe. Er erwarb das Diplom im Fach Chemie und promovierte in physikalischer Chemie. Im Anschluss an die Promotion zog es ihn und seine Frau – das Paar hat sich in Karlsruhe kennengelernt – für einen längeren Aufenthalt nach Kanada, wo er am Chemistry Department der University of Ottawa mit Brian Evans Conway zusammenarbeitete, einem weltweit anerkannten Elektrochemiker.

Wieder zurück in Deutschland schenkte das Ehepaar kurz nacheinander zwei Söhnen das Leben. Eberhard von Goldammer habilitierte an der Universität Regensburg in Biophysik. Sein besonderes Interesse galt damals den biophysikalischen Anwendungsmöglichkeiten der Kernspinresonanz- (NMR) und der Elektronenspinresonanz- (ESR) Spektroskopie. Erstere spielt heute als Magnetresonanztomographie (MRT), als bildgebendes Verfahren eine nicht mehr wegzudenkende Rolle in der medizinischen Diagnostik. Und mit der zweiten lassen sich weitere Erkenntnisse zu Moleküldynamiken gewinnen. Eberhard von Goldammer konnte dazu in der Grundlagenforschung Wesentliches beitragen.

Ruhruniversität Bochum

1976 trat er eine auf acht Jahre befristete, außerplanmäßige (apl.) Professur am Institut für Biophysik der Ruhruniversität Bochum (RUB) an. Dort begegnete ich ihm als Student der Physik erstmals 1981 im Fortgeschrittenen-Praktikum, wo er einen Versuch zur Kernspinresonanz (NMR) betreute. Zu Beginn des Wintersemesters 1981/82 wurde ich dann in seinem Büro am anderen Ende des Naturwissenschaftstraktes der RUB – bei den Biologen im Keller! – vorstellig und bat, bei ihm in Biophysik meine Diplomarbeit leisten zu dürfen.

Auf seine Frage: „Warum ausgerechnet Biophysik?“, gab ich eine zuvor überlegte Antwort, die mir heute als ausgesucht dumm erscheint: „Das ist als angewandte Physik von Allem etwas, Quantenmechanik, Elektrodynamik, usw., da kann man ein wenig den Überblick behalten.“

Er lachte kurz auf und meinte: „Überblick? Vergessen Sie’s. Den verlieren Sie sowieso!“
Ein wenig verunsichert wollte ich das schon als Absage auffassen, da schloss er direkt eine Frage an: „Können Sie mit einem Lötkolben umgehen?“ Als ich bejahte, sagte er: „Prima, kommen Sie morgen um Zehn vorbei!“

Diesem „kürzesten Vorstellungsgespräch aller Zeiten“ folgte ein Schüler-Lehrer-Verhältnis, das sich in den 43 Jahren bis zu seinem Tod über eine enge Zusammenarbeit ganz allmählich in eine Freundschaft verwandelte.

Am darauf folgenden Tag steckten wir dann die Köpfe gemeinsam in ein Bruker-NMR-Spektrometer, um einen defekten Hochfrequenztransistor auszuwechseln.

Dabei fielen mir in seinem NMR-Labor zwei Notenständer auf. Auf meine Frage, ob er darauf die Plots seiner Messungen studiere, lachte er und sagte: „So ein Spektrometer-Durchlauf dauert. Und wenn ich hier nachts messe, dann spiele ich Geige.“ Ich selbst habe ihn nie spielen hören, aber er muss „ziemlich gut“ gewesen sein, sagte mir einer seiner Söhne. Jedenfalls lagen im Notenstapel im Labor unter vielem Anderen auch Paganinis Capricen.

Wir waren 1981 eine Diplomandin und fünf Diplomanden in von Goldammers Arbeitsgruppe, ergänzt durch einen weiteren Diplomanden von Prof. Dr. Josef Pelzl aus der Bochumer Festkörperphysik, der regelmäßig an unseren Arbeitstreffen teilnahm. Und gelegentlich schaute Dr. Hablick, akademischer Rat an Prof. Dr. Gieses Institut für extraterrestrische Physik, auf ein Gespräch vorbei.

Die Arbeitsgruppe traf sich regelmäßig einmal pro Woche für etwa anderthalb Stunden. Angewandte Physik birgt prinzipiell technische und fachliche Hürden und Probleme, die wir Diplomanden miteinander diskutierten. Locker und spielerisch lernten wir dort die Kunst der wissenschaftlichen Argumentation, wie man Vorträge hält und wissenschaftliche Inhalte präsentiert, und das in einer untereinander eher von Freundschaft denn Konkurrenz geprägten Atmosphäre.

Eberhard von Goldammer gab uns ein meist auf die Situation gut abgestimmtes motivierendes Feedback, oft knapp, ruhig und sachlich, manches Mal begeisternd, manchmal sogar verblüffend. Er flocht nicht nur dort gelegentlich Weisheiten und Tipps seines früheren, von ihm verehrten Geigenlehrers ein:

„Wenn man auf’s Podium geht, muss das perfekt sitzen, selbst wenn nur „Alle meine Entchen“ gespielt wird!“

Des Weiteren ging ihm eine auch in den Naturwissenschaften nicht so seltene professorale Arroganz völlig ab. Seine inhaltliche und methodische Autorität vermittelte sich über detailliertes Eingehen auf Fragen und Probleme. Hinzu kam, dass er die Beschäftigung mit Computern – auch abseits unserer Themen – nicht nur duldete, sondern begrüßte. Anfang der 80er wäre in einigen Bereichen noch ein Diplom in Physik ohne jegliche Computerkenntnisse möglich gewesen.

Hervorzuheben ist auch, dass Disziplingrenzen für ihn im Grunde keine Rolle spielten. Dies zeigte sich insbesondere in seiner Bereitschaft zur Übernahme von Lehrverantwortung. In den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Mathematik ist es allgemein üblich, dass für die thematisch benachbarten Fakultäten und Fachbereiche Services in Form von Spezialvorlesungen angeboten werden, so z.B. „Mathematik für Physiker“, „Einführung in die Physik für Biologen“, usw. Letztere war bei Physikprofessoren nicht sehr beliebt, „Physik als Hilfswissenschaft? Für fachfremde Studierende, die womöglich nur am Pflichtschein interessiert sind? Oh, bitte nicht!“

Nicht so Eberhard von Goldammer. Als der damalige Dekan der Fakultät für Physik, Detlef Kamke, ihn bat, diese Vorlesung zu halten, sagte er nach kurzer Überlegung zu und übernahm den an spektakulären Live-Experimenten so reichen Einführungskurs, den sogenannten „Zirkus“. Und sein Engagement hatte Strahlkraft. Selbst die physikalisch-technischen Assistenten, die die Experimente in der Vorlesung betreuten, erlebten einen mitreißenden Dozenten, sie haben sich für ihn buchstäblich krumm gemacht, wie mir einer der Techniker – „so macht mein Job richtig Spaß!“ – glaubhaft versicherte, als ich einmal einen Botengang für die Vorlesung erledigte.

Es ist erst wenige Jahre her, da erzählte er mir, und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören, dass er bei einem Spaziergang eine ehemalige Biologie-Studentin getroffen habe, die sich bei ihm überschwänglich bedankt habe. Dank seiner Vorlesung habe sie „die Physik kapiert“ und ihr Biologie-Studium erfolgreich abgeschlossen. Das liegt ohne Zweifel daran, dass für ihn nicht Paukerei und tumbes Abfragen von Wissen, sondern echtes Verständnis im Vordergrund stand.

Was meine Person betrifft kann ich das nur bestätigen, er hat phasenweise mehr an mich geglaubt, als ich selbst dazu in der Lage war. Ganz offensichtlich besaß er die Gabe, Potenziale in Personen zu sehen, die der Selbstwahrnehmung der Person – zumindest zeitweise – nicht zugänglich waren. Und es mag sein, dass genau das die Kernkompetenz eines guten Lehrers ausmacht.

In seiner Publikationsliste findet sich eine Arbeit aus dem Jahr 1980, in der ein gewisser Christos Bassaris als Co-Autor genannt ist. Bassaris war Chemie-Laborant am Institut für Biophysik. Er hat Herrn Bassaris, einen Nicht-Akademiker, mit auf die Publikation genommen, weil die Arbeit durch sein laborchemisches Können erheblich erleichtert wurde! Ein für Dozenten und Professoren völlig untypisches Verhalten, zumal Ende der 70er-Jahre.

Über den Tellerrand

Die für Eberhard von Goldammer nicht vorhandenen Disziplingrenzen hatten noch eine andere Seite. Es gab eine wohl nicht stillbare Neugier und eine Unzufriedenheit darüber, wie Wissenschaft derzeit in Deutschland betrieben wurde. Er las viel. Das führte auch dazu, dass er seine Diplomanden kontinuierlich mit detaillierten Informationen zu den aktuellen Neuzugängen seiner Leseliste beglückte. Es sei zugegeben, dass uns das – in erster Linie beschäftigt mit den Anforderungen unserer jeweiligen Diplomprojekte – so manches Mal überforderte.

Zu den Autoren gehörten u.v.a. der Ökonom Jeremy Rifkin und der Chemiker und Wissenschaftskritiker Erwin Chargaff, bekannt für seinen Beitrag zur Entschlüsselung der DNA-Struktur. Es folgte Nicholas Georgescu-Roegen, Verfasser des Nachworts zu Rifkins Buch „Entropie“ und Begründer der ökologischen Ökonomie. Der Klimawandel und die Rohstoffkrise waren schon damals Diskussionsthemen in unserer Gruppe.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sein Geigenlehrer und der theoretische Physiker Gottfried Falk, den er im Studium in Karlsruhe gehört hatte, gewesen sein müssen, deren Keime des ganzheitlichen Weltinteresses und deren transdisziplinäre Arten zu Denken bei Eberhard von Goldammer auf fruchtbaren Boden fielen. Er machte damals bisweilen eine heiter-abfällige Bemerkung über Physiker-Kollegen, die beim Aufstellen der thermodynamischen Zustandsgleichung eines Systems meist die chemischen Potentiale der Systemkomponenten vergaßen. (Tatsächlich ging es hierbei auch um eine von Gottfried Falk eingeführte Verallgemeinerung des Begriffs des thermodynamischen Potenzials, der sog. Massieu-Gibbs-Funktionen.)

Als er Jahre später zusammen mit Rudolf Kaehr den Aufsatz „Transdisziplinarität in der Technologieforschung und Ausbildung“ veröffentlichte, stellte er ein Zitat des amerikanischen „Systemdenkers“ Russell Ackoff voran:

„Wir müssen aufhören, so zu tun, als sei die Natur in Disziplinen gegliedert, so wie es die Universitäten sind.“

Das lässt sich unmittelbar vereinfachen zu: „Unser Forschungsgegenstand, das ist das ganze Universum!“

Es gab aber auch eine verblüffend praktische Komponente. Auf die Frage, warum er sich von der Chemie hin zur Physik orientiert habe, erklärte er mehrfach: „Weil ich mir mathematische und physikalische Gleichungen besser merken kann als chemische Formeln!“

Und weiter ging es – nicht ganz chronologisch – mit den Büchern und Aufsätzen des russisch-belgischen Physikochemikers und Nobelpreisträgers Ilya Prigogine zu dissipativen Strukturen, zu Selbstorganisation und Irreversibilität. Dahinter stand eine im Prinzip einfache Frage, die er sehr viel später in einem Vortrag einmal offen aussprach: „Wie funktioniert eine biologische Zelle?“, oder allgemeiner, „Was ist Leben?“

Es folgten Erwin Schrödingers gleichnamiger Aufsatz, Robert Rosens „Essays on Life Itself“, sowie Walter Elsassers „A Form of Logic Suited for Biology“. Als besonders dicke Meilensteine auf der Leseliste erinnere ich Gregory Batesons Werke „Ökologie des Geistes“ und „Geist und Natur – Eine notwendige Einheit“, aus denen er wochenlang Gedanken vortrug:

„Wissenschaft beweist nie irgend etwas, Wissenschaft sondiert, sie beweist nicht.“[1]

Damit stand er mit einem Bein bereits auf dem Boden der Kybernetik, oder genauer, einer kybernetischen Erkenntnistheorie.

Aber als der „Game Changer“, wie wir heute sagen, sollte sich jemand Anderes erweisen.

Gotthard Günther

Auf dem Rückweg von gemeinsamen Mittagessen unserer Arbeitsgruppe stöberten wir manches Mal im Antiquariatsstand eines Bochumer Buchhändlers in der Mensa der Ruhruniversität. 1982 bei einer solchen Gelegenheit hielt unsere Diplomandin plötzlich ein Buch in der Hand – wir hatten wohl vorher über Logik und Axiome diskutiert –, die 2. Auflage von „Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik“ (Hamburg 1978) von Gotthard Günther. Eberhard warf einen Blick hinein und brauchte keine drei Minuten. „Nur 10 Mark? Das nehme ich mit!“ „Was deinem Professor recht ist, kann dir nur billig sein“, dachte ich und erwarb ebenfalls ein Exemplar.

Es muss seine über die Zeit und die verschiedenen Lektüren gewachsene Erkenntnis gewesen sein, dass unser aus den Naturwissenschaften sowie Mathematik und Logik bereitstehender formaler Apparat bei weitem nicht hinreichend ist, um die sich selbst organisierenden komplexen Prozesse des Lebens mit ihren Selbstrückbezüglichkeiten adäquat formal beschreiben zu können, die ihn sofort auf den Titel dieses Werkes haben anspringen lassen.

Wie heftig dieser „Trigger“ für ihn gewesen sein muss, erfuhren wir Diplomanden in den nächsten Wochen. Wir konnten – teilweise beunruhigt – förmlich zusehen, wie sein fachliches Interesse an den gemeinsamen Projekten nachließ, allerdings nicht seine Sorge, dass alle Diplomanden ihre Wege bis zum Diplom auch sauber zu Ende gehen. Noch Jahre später sagte er:

„Wer sich auf das Lesen von Gotthard Günther ernsthaft einlässt, der bekommt erstmal eine Schreibblockade.“

Von Giovannino Guareschi, bekannt für seine Erzählungen um Don Camillo und Peppone, ist folgender Ausspruch überliefert: „Ein Diplomat ist ein Mensch, der offen ausspricht, was er nicht denkt.“ Wenn das richtig ist, dann war Eberhard von Goldammer das genaue Gegenteil. Er sprach so gut wie immer offen aus, was er gerade dachte, sofern es etwas mit rationalem Inhalt war.

Ich erinnere den Beginn eines seiner Vorträge, hier bei einer Jahrestagung der Sektion Biophysik der Deutschen Physikalischen Gesellschaft im Kloster Maria Laach: „Meine Damen und Herren, so kann man das nicht messen.“ Das so etwas nicht immer Freude hervorruft, sondern auch Gefahr läuft, als Affront verstanden zu werden, leuchtet unmittelbar ein. Aber wer ihn näher kannte, der wusste, es ging ihm immer nur um die Sache, den Inhalt, das Argument. Und da konnten nur so die Fetzen fliegen, er wurde nie – das muss groß geschrieben werden, NIE – persönlich. Wirklich verärgert reagierte er nur dann, wenn die Gegenseite den Boden der Sachlichkeit verlies.

So stellte er, als das Thema „Nicht-Aristotelische Logik“ noch neu für ihn und uns war, im Anschluß an einen gemeinsam mit seinen Diplomanden besuchten öffentlichen Vortrag über Logik an der philosophischen Fakultät der Ruhruniversität Bochum eine Frage zu seiner aktuellen Günther-Lektüre und gab – eher als Warum, denn als Vorwurf – seiner Verwunderung Ausdruck, dass es an der philosophischen Fakultät keinerlei Vorlesungen oder Seminare zu diesem Philosophen gab. Im Verlauf des folgenden, kurzen Dialogs griff der sich in der Kritik sehende Referent zu einem Argumentum ad hominem und bezeichnete Eberhard von Goldammer despektierlich als Bücherwissenschaftler. Nachdem der erste Ärger verraucht war, lachten wir in der Arbeitsgruppe darüber. Es hat geradezu komödiantische Qualität, wenn ein Geisteswissenschaftler jemand als Bücherwissenschaftler bezeichnet, der den größen Teil seines akademischen Lebens seine Finger buchstäblich in biologische oder biologisch relevante Materie gesteckt hatte.

Dann begriffen wir, dass der Referent ein Vertreter der sogenannten analytischen Philosophie gewesen sein muss. Bis weit in die 90er hinein war dort alles verpönt, was nur irgendwie nach Hegel und Dialektik roch, und dazu gehören Gotthard Günther und sein Werk in ganz besonderem Maße. (Diese ablehnende Haltung der analytischen Philosophie gegenüber Hegel ist über die Jahre aufgeweicht und gipfelte jüngst 2019 im Erscheinen des Werkes „A Spirit of Trust: A Reading of Hegel’s Phenomenology“ des Richard Rorty-Schülers und einflussreichen Vertreters der analytischen Philosophie, Robert Brandom, der schon in den Nullerjahren zu einer erneuten Hegel-Lektüre aufgerufen hatte.[2])

Die Erstausgabe von Günthers Idee und Grundriss erfolgte bereits 1958, die von uns zudem antiquarisch erworbene 2. Auflage ist auf 1978 datiert. Waren wir also „spät dran“ mit unserer Lektüre? Nein. Dem entgegen steht die von Brandom geforderte Hegel-Lektüre in den Nullerjahren und eine Bemerkung, die Gert König, seinerzeit Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an der RUB, auf die entsprechende Frage eines Studenten hin machte:

„Gotthard Günther? Das ist noch zu früh.“

Mit Fug und Recht lässt sich also sagen, dass Eberhard von Goldammer mit seiner Günther-Lektüre „seiner Zeit voraus“ war. Insofern war die Beschäftigung damit für ihn auch eine unfreiwillige Übung im „sich zwischen die Stühle Setzen“. Aber allmählich wuchs eine Art wütender Gelassenheit. Als ich mich Jahre später einmal bei ihm beklagte, dass Naturwissenschaftler mir in Diskussionen häufiger entgegneten, ich würde wie ein typischer Geisteswissenschaftler argumentieren, eben diese mir jedoch den typischen Naturwissenschaftler sogar vorwarfen, meinte er nur trocken: „Nehmen Sie’s doch als Kompliment!“

Er hatte sich inzwischen die Haltung einiger Vertreter der Kybernetik (zweiter Ordnung) zu eigen gemacht, die den dem klassischen Wissenschaftsgefüge impliziten Methodendualismus zwischen Geistes- und Naturwissenschaften strikt ablehnen und stattdessen dafür plädieren, dort, wo es sinnvoll ist, das erkennende und handelnde Subjekt ausdrücklich in den Bereich der Wissenschaft mit einzubeziehen.

Das Forschungsfeld hatte W. Ross Ashby bereits 1957 folgendermaßen umfassend benannt:

„Kybernetik untersucht alle Phänomene in Unabhängigkeit ihres Materials, so sie regelgeleitet und reproduzierbar sind.“[3]

Und Heinz von Foerster nimmt eine wesentliche Präzisierung vor, er teilt durch seine Definition die Kybernetik in zwei Ordnungen:

„Die Kybernetik erster Ordnung beschäftigt sich mit beobachtbaren Systemen, die Kybernetik zweiter Ordnung mit beobachtenden Systemen.“[4]

Es ist eben diese sog. „2nd order cybernetics“, die die eigentliche transdisziplinäre Erweiterung darstellt und zum „Ausgangsort jener zweiten kybernetischen Welle“ wurde, „die großen Einfluss auf zentrale amerikanische und europäische Diskurse des späten 20. Jahrhunderts nehmen sollte“[5]. „Beobachtende Systeme“, das bedeutet Subjekte, die erkennen, Lebewesen, die Kognitionen haben. Darüber forschen zu können, das stellt ein besonderes Faszinosum dar.

Universität Witten/ Herdecke

Diese Haltung zur Wissenschaft, die man auch als holistisch, bzw. ganzheitlich bezeichnen kann, wollte nicht so recht in das Prokrustesbett staatlicher Hochschulen passen. Insofern war Eberhard von Goldammer kein Einzelfall. Neue Ideen haben an staatlichen Einrichtungen nicht selten einen schweren Stand. (Das bestätigte mir unlängst der Philosoph und Psychoanalytiker Rudolf Heinz, Begründer der Pathognostik, der etwa zur selben Zeit eine Professur ohne Lehrstuhl an der Philosophischen Fakultät der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf innehatte.)

Eberhard von Goldammer kam in Kontakt mit Dr. Gerhard Kienle, dem Chefarzt und Gründer des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke, der zusammen mit Anderen an der Gründung einer privaten Universität arbeitete, an der auch Mediziner ausgebildet werden sollten, und das in direkter Nähe zur Praxis in der Herdecker Klinik. Motivation hierfür war neben einer basalen Kritik der Medizinerausbildung an staatlichen Hochschulen auch eine grundlegende Kritik an der Praxis des deutschen Gesundheitswesens.

Gerhard Kienle und der Marburger Physiologe Herbert Hensel, der 1965/66 Rektor der Phillips-Universität Marburg war, waren beide Anthroposophen und können als die eigentlichen Gründer der Universität Witten/ Herdecke (UWH) angesehen werden. Ihre Kritiken zielten allerdings nicht nur auf die Praxis der Medizinerausbildung an staatlichen Hochschulen sondern auch nach innen. Insbesondere Hensel forderte von anthroposophischen Wissenschaftlern strenge Wissenschaftlichkeit ein und kritisierte deren „weitverbreitete Methode, gewisse Aussagen der Anthroposophie a priori als absolute Wahrheit zu setzen und diese dann durch Zusammensuchen bekannter Tatsachen aus der wissenschaftlichen Literatur zu stützen“.[2]

Bereits ab 1980 – noch vor meinem Start in seiner Bochumer Arbeitsgruppe – engagierte sich Eberhard von Goldammer am Projekt Universität Witten/ Herdecke, zu dessen Unterstützern u.v.a. auch der Bochumer Physiker Haro von Buttlar gehörte. Neben dem Schreiben von erfolgreichen Anträgen für Fördermittel (Stiftung Volkswagenwerk) und der Beschaffung eines MRT-Gerätes war dies auch der Aufbau und die Organisation eines Physikpraktikums für die Studenten der Medizin. Als die UWH 1983 ihren Betrieb aufnahm, waren es einige seiner Diplomanden von der RUB, die die Betreuung des Physik-Praktikums für die ersten beiden Jahrgänge übernahmen.

Es ist nur konsequent, die Frage zu stellen, wie das zusammengehen sollte. Auf der einen Seite Anthroposophen, auf der anderen ein von Kybernetik, Philosophie und mehrwertiger Logik infizierter Biophysiker. Eberhard von Goldammer hat immer betont, dass es in seiner Wahrnehmung Gerhard Kienle, Herbert Hensel und der spätere faktische Gründungsrektor der UWH, der ebenfalls in Marburg lehrende Physiologe Gunther Hildebrandt – „open minded people“ fern von Ideologien oder Dogmatiken – seien, mit denen er „gut konnte“. Das ist aber nicht unbedingt eine Frage der persönlichen „Chemie“. Hier kann ein Aphorismus des amerikanischen Rockmusikers und Komponisten Frank Zappa herangezogen werden:

„Ein Geist ist wie ein Fallschirm. Er funktioniert nicht, wenn er nicht offen ist.“

Allein deswegen, weil sie offen – open minded – waren, „konnten“ sie miteinander, auch im Team. Gegenseitige Sympathie stellt sich dann ganz von selbst ein.

Unglücklicherweise verstarben Gerhard Kienle und Herbert Hensel 1983 kurz vor der offiziellen Eröffnung der Universität Witten/ Herdecke. Die Leitung der Universität übernahm der Neurologe Konrad Schily.

Und die Vorstellungen und Hoffnungen, die Eberhard von Goldammer für die Universität, für sein Institut für Biophysik und Medizintechnik an der UWH sowie für das Institut für theoretische Biowissenschaften, dessen Leitung 1985 Rudolf Kaehr übernahm, und letztlich für sich selbst und seinen weiteren wissenschaftlichen Weg gehabt haben mag, wurden bitter enttäuscht.

Hier soll dies nicht weiter ausgeführt werden. Stattdessen können wir ihn selbst sprechen lassen. Er verfasste dazu einen Text „Historischer Rückblick und Anmerkungen zu einem Projekt, das an einer Privat-Universität unerwünscht war …„. Die Datei enthält darüber hinaus auch ein Interview „Wissenschaftszensur oder Universität nach Gutsherrenart – Eine Elite in Deutschen Landen -„, dass er im Sommer 2007 Peter Rath gab. Beides gibt neben zahlreichen Projektergebnissen auch Zeugnis von eher Unerfreulichem, von dem Intrigenspiele und unberechtigte Vorwürfe noch das Geringste sind.

Gründungsinitiative Nordische Universität Flensburg/ Neumünster

Seinen inter- und transdisziplinären Anspruch an Wissenschaft gab Eberhard von Goldammer nicht auf. Schon während der sich zunehmend ins Ungünstige entwickelnden universitätspolitischen Wetterlage an der UWH startete er neue Initiativen oder nahm daran Anteil. Seine zeitliche Auslastung – und damit auch die Belastung für seine Familie – waren immens.

Das, was ihm als Institut vorgeschwebt haben mag, war mit Sicherheit beeinflusst und inspiriert von zwei großen Vorbildern, beides US-amerikanische Einrichtungen. Zum einen war dies das BCL, das „Biological Computer Laboratory“ (1958 – 1974) an der University of Illinois in Urbana, Illinois, das aus den Macy-Konferenzen hervorgegangen war und von dem aus Wien stammenden Physiker Heinz von Foerster geleitet wurde. Führende Kybernetiker haben sich dort die Klinke in die Hand gegeben, es war ein Kommen und Gehen mit regem Austausch. Gotthard Günther hat am BCL wesentliche Teile seines über „Idee und Grundriss …“ weit hinausgehenden Werks verfasst. Die zweite Einrichtung existiert heute noch, es ist das SFI, das Santa Fe Institute in Santa Fe, New Mexico, gegründet 1984, das sich der Erforschung von komplexen Systemen verschrieben hat.

Vielversprechende Anklänge an diese Kultur des offenen Austauschs gab es schon an der UWH. Er hatte den Philosophen und Logiker Rudolf Kaehr, der bei Gotthard Günther promoviert hatte, an die UWH geholt. Joseph Ditterich, ebenfalls ehemaliges Mitglied von Günthers Berliner Arbeitsgruppe, kam vorbei und verfasste mit Kaehr zusammen mehrere Beiträge. Humberto Maturana war zweimal zu Gast und hielt Vorträge, ebenso der Physiker und Neurobiologe Christoph von der Malsburg.

Die DoIT, die Deutsche Occam-Interessengemeinschaft der Transputeranwender gastierte mit einer großen Tagung in der Wittener Stadthalle. Damals war der Transputer (Transfer-Computer) der britischen Firma Inmos Ltd. eine geradezu revolutionäre Entwicklung auf dem Gebiet der Computer-Hardware, die den Aufbau paralleler Prozessornetzwerke erlaubt. Auf Initiative von Martin Busch beschäftigten wir uns an der UWH mit Parallelnetzwerken aus Transputern und deren Anwendungsmöglichkeiten, insbesondere mit Simulationen von neuronalen Netzen in der Programmiersprache Occam.

Nach Abschluss meines Physikdiploms an der RUB war ich wie zuvor Martin Busch Eberhard von Goldammer als Assistent in sein Institut für Biophysik und Medizintechnik an der UWH gefolgt. Dabei mutet es reichlich paradox an, dass ich meine Bezüge über den „Projektschwerpunkt Neurokybernetik des Wirtschaftsministeriums des Landes Schleswig-Holstein“ erhielt, der zu der Zeit zum Kern einer Gründungsinitiative für eine privatwirtschaftliche Universität, die Nordische Universität Flensburg/ Neumünster gehörte. Das Bundesland ist im Bereich Medizintechnik traditionell gut aufgestellt. Es gab daher – neben den Wirtschaftswissenschaften – ein starkes Interesse an einer Universitätsgründung mit entsprechendem Schwerpunkt, das bis in Regierungskreise reichte. Das Projekt wurde hierbei über eine medizintechnische Beratungsfirma koordiniert, die ein ehemaliger Doktorand von Goldammers gegründet hatte.

Im Rahmen dieser Aktivitäten sollte zunächst der aktuelle internationale Sachstand von Forschung und Technik im Bereich aktiver, sensorgesteuerter Prothesen erhoben werden. Eberhard von Goldammer und ich besuchten daher 1988 eine Tagung und zwei Kongresse zu Robotik und Prothetik in Kanada. Für ihn war dies eine willkommene Auszeit vom politischen Hickhack an der UWH, eine Mischung aus neuen Anregungen und einer Reise in seine Vergangenheit, denn wir besuchten in Ottawa Prof. Conway.

Auf der Jahrestagung der ASC, der American Society for Cybernetics an der University of Victoria (BC), trafen wir Humberto Maturana wieder und lernten u.v.a. Gordon Pask kennen, der noch selbst an den Macy-Konferenzen teilgenommen hatte und der uns beide durch seinen selbst für einen Briten außergewöhnlich hintergründigen Humor begeisterte:

„I prefer choice number five!“ – „But it isn’t there! You have only four choices.“ – „Yes, because it isn’t there!“

Wissenschaft ist Kommunikation. Wir hielten gemeinsam einen Workshop zu Gotthard Günthers Polykontexturalitätstheorie ab. Im Anschluss kam ein Psychologe aufgeregt auf uns zu und wedelte mit einem Buch: „Das hier müssen Sie unbedingt lesen!“ Es handelte sich um die englische Ausgabe der Evolutionstheorie des Bewussteins des amerikanischen Psychologen Julian Jaynes: „Der Ursprung des Bewusstseins …“. Und in der Tat erweisen sich zum einen Jaynes’ Vorstellungen zur Sprachentwicklung anschlussfähig zu Grundelementen der Polykontexturalitätstheorie Günthers, zum anderen gibt es interessante Berührungspunkte zwischen den Vorstellungen beider zur kulturellen Evolution.

Die Bemühungen um eine Konsolidierung der Nordischen Universität zogen sich über mehrere Jahre hin und waren 1989 entgültig zum Scheitern verurteilt, da sich keine vollständig private Finanzierung finden ließ. Björn Engholm (SPD) hatte schon als Oppositionsführer davor gewarnt, dass die Universität staatliche Förderung benötigen werde, diese jedoch kategorisch ausgeschlossen. Und auch der Versuch, Teile der Initiative zu retten, musste aufgegeben werden, als Engholm 1993 über die Barschel-Affäre stolperte.

ICS, Institut für Kybernetik und Systemtheorie e.V. // FH Dortmund

Eberhard von Goldammer wurde schließlich Professor an der FH Dortmund und unterrichtete dort Biophysik und Informatik bis zu seiner Emeritierung, blieb aber formal Mitglied der Medizinischen Universität zu Lübeck, ein Nebeneffekt der nicht glücklich verlaufenen Nordischen Initiative, die es ihm weiterhin erlaubte, Promotionen abzunehmen.

Um Projekten einen größeren offiziellen Rahmen zu geben, gründete Eberhard von Goldammer mit einigen Freunden und Kollegen das ICS, das Institut für Kybernetik und Systemtheorie als gemeinnützigen Verein. Das ICS war ein virtuelles Institut, deren Mitglieder via Internet miteinander vernetzt waren und das als An-Institut der Technischen Universität Dresden firmierte. Mit von der Partie war Siegfried Fuchs, Ingenieur und Professor für Informatik an der Technischen Universität Dresden, der zu Computervision und künstlicher Intelligenz forschte.

Im ICS schlug sich gewissermaßen die deutsche Wiedervereinigung mit einem besonders interessanten Aspekt nieder. Im Ostblock hatte man die Kybernetik nach anfänglichen Widerständen – man sah sie zunächst als ein ideologisches Machwerk des Klassenfeindes – als den Marxismus bestätigend begrüßt und begonnen, intensive Forschung auf dem Gebiet zu betreiben. „Open minded people“ aus beiden Teilen hatten sich also viel zu erzählen.

Cover des Tagungsbandes zum Dresdener Symposium

Eine inhaltliche Aufarbeitung und Zusammenführung der unterschiedlichen Forschungsansätze in Ost und West fand allerdings de facto nicht statt. So wurde das Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse der Akademie der Wissenschaften der DDR mit der Begründung „brauchen wir nicht“ aufgelöst. Einzelne Abteilungen wurden entweder geschlossen oder in andere Institutionen integriert. Wir hatten gemeinsam ein Institut gegründet! Als Gründungsmitglied konnte u.v.a. Prof. em. Alfred Locker gewonnen werden, der einen Lehrstuhl für theoretische Biophysik an der TU Wien innehatte. Die erneute Aufbruchstimmung war auf dem Dresdner Symposium „Kybernetik und Systemtheorie – Wissenschaftsgebiete der Zukunft?“ im November 1991 deutlich spürbar.

Mit dem ICS als Institution und der damaligen Berliner Firma Brainware GmbH konnte Eberhard von Goldammer mehrere Verträge für von der Europäischen Union geförderte Projekte gegenzeichnen. Es handelte sich dabei um StatLog (ESPRIT II project 5170: Comparative testing and evaluation of statistical and logical learning algorithms on large-scale applications to classification, prediction and control) und PAPAGENA (ESPRIT III project 6857: Programming Environment for Applications of Parallel Genetic Algorithms), in deren Rahmen ich – nunmehr voll finanziert – meine Dissertation verfassen konnte. Ohne ihn wäre das nicht möglich gewesen.

Denken und Schreiben …

Nach meiner Promotion ging ich eigene, zunächst freiberufliche Wege, bevor ich dann 1998 eine Position als wissenschaftlicher Referent am Medienzentrum Rheinland annahm, heute LVR-Zentrum für Medien und Bildung, eine Dienststelle des Landschaftsverbandes Rheinland.

Wir hielten Kontakt und besuchten gelegentlich Tagungen miteinander. Und aus dem „Sie“ wurde ein „Du“. Auf einem vom Wissenschaftszentrum NRW in Düsseldorf veranstalteten Kongress zur Hirnforschung trafen wir Humberto Maturana wieder und lernten Heinz von Foerster persönlich kennen. Und bei einem Kybernetik-Treffen in Amsterdam kam es zu einem intensiven Vierer-Gespräch mit Gordon Pask und seinem ehemaligen Doktoranden Ranulph Glanville, das erst nachts um Drei in einer Amsterdamer Bar endete.

Eberhard von Goldammer konnte sich – nunmehr unbelastet von irgendwelchem universitätspolitischen Hickhack und anderen ideologischen Stressfaktoren – neben seiner Lehrtätigkeit an der FH Dortmund frei und natürlich transdisziplinär der Wissenschaft und dem wissenschaftlichen Schreiben widmen.

Gemeinsam, zu zweit und mit anderen veröffentlichten wir eine ganze Reihe von Aufsätzen, die die Probleme der formalen Beschreibung von Lebensprozessen und lebenden Systemen stellen und sichtbar machen. Hervorgehoben werden kann ein Aufsatz zu „Autonomie in Biologie und Technik„, der in einem Jahrbuch zu Komplexität in Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften publiziert wurde. Wir nahmen dabei Bezug auf grundlegende Arbeiten von Humberto Maturana, Francisco Varela, Gregory Bateson und Heinz von Foerster.

Die derzeit noch recht unerprobten kulturtechnischen Möglichkeiten des Internet nutzend gründete ich mit dem Düsseldorfer Philosophen Larry Steindler das eJournal www.vordenker.de, ein „Webforum für Innovatives in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur“, das im September 1996 an den Start ging. Selbstverständlich lud ich auch Eberhard dazu ein, diese Plattform fürs Publizieren und sich mit Anderen Austauschen zu nutzen und er machte regen Gebrauch davon, wurde zu einem festen Autor.

Sein Schreiben wendet sich nun immer mehr der erneuten Reflexion – heute stehen dafür die Begriffe „re-reading“ oder „close reading“ – der Werke von Gotthard Günther zu. 2002 hatten wir das große Vergnügen, zusammen das „Das Bewusstsein der Maschinen“ anlässlich des 50. Jahrestags der Erstauflage 1952 in einer erweiterten dritten Auflage mit einer umfangreichen Einführung erneut im AGIS-Verlag herausgeben zu können. Zudem erhielten wir die Genehmigung, einen Schlüsselaufsatz Günthers, „Erkennen und Wollen“ dem Anhang hinzuzufügen. Bei einem gemeinsamen Besuch in Berlin in der Staatsbibliothek sichteten wir einige bislang unpublizierte Texte aus dem Nachlass des Philosophen.

Seine nach dieser Herausgeberschaft verfassten Aufsätze, die oft bescheiden mit „Anmerkungen zu“ oder „Annotationen zu“ beginnende Titel tragen, sprechen eine eigene Sprache. Vor dem Hintergrund des im wissenschaftlichen Mainstream sich ganz allmählich aufweichenden aber immer noch vorherrschenden Methodendualismus und der tiefen Überzeugung, dass „Ganzheit nur durch eine Vielheit von einander vermittelnden Positionen […] beschrieben werden kann“, diese Formulierung stammt aus dem bereits genannten und zusammen mit Rudolf Kaehr verfassten Aufsatz „Transdisziplinarität in der Technologieforschung und Ausbildung“, ringt er um erweiterte Zugänge zum Güntherschen Werk. Das macht er nicht für sich, denn seine Zugänge hat er längst, sondern für Studierende und bildungsaffine BürgerInnen aller Fakultäten, um ihnen die Polykontexturalitätstheorie näherzubringen.

Die besondere Herausforderung besteht hierbei darin, einerseits Geisteswissenschaftlern die formalen Aspekte des Güntherschen Werks verständlich darzustellen und andererseits den oft positivistisch vorgeprägten Naturwissenschaftlern dialektisches Denken schmackhaft zu machen. Gelegentlich bricht sich auch seine „wütende Gelassenheit“ Bahn. „Lest verflixt nochmal diesen Günther. Ihr wisst ja nicht, was Euch entgeht!“

Mit Rudolf Kaehr können wir dazu fragen, warum soll ein rationaler Gedanke nicht von der „vorsprachlichen Wucht eines Gefühls“ begleitet sein, warum ein Gefühl nicht von einem „ebenso mächtigen Gedanken“ begleitet werden können? „Warum soll das Denken dem Fühlen nicht standhalten können – und umgekehrt?“[6] In gewissem Sinne wäre damit ja einer Ganzheit Genüge getan. Die Lehrtätigkeit und die Kommunikation mit Studierenden dürfte ein Übriges zu der zunehmenden Griffigkeit seiner Texte beigetragen haben.

Auf der Hintergrundfolie des Güntherschen Werkes erschloss Eberhard von Goldammer sich eine ganze Reihe von Autoren neu und schrieb darüber für das eJournal und einige Druckveröffentlichungen. Hier ist vor allem der Kommunikationswissenschaftler und Medienphilosoph Vilém Flusser zu nennen, auf den er u.a. in seinem Aufsatz „Zeit – Mehrzeitigkeit – Polyrhythmie oder das polylogische Orchestrion“ Bezug nimmt. In diesem Titel verrät sich zudem der Musiker.

Und ich darf an dieser Stelle meinem Bedauern Ausdruck geben, dass er nicht mehr dazu kam, das Werk des britischen Physiologen und Begründers der Systembiologie, Denis Noble (The Music of Life – Biology Beyond Genes, Dance to the Tune of Life) zur Kenntnis zu nehmen, der ebenfalls Musiker ist und der mit brillanter Rhetorik und ausgesucht argumentativer Schärfe den genetischen Determinismus und Reduktionismus kritisiert. Das hätte ihm tiefe Freude bereitet.

Gemeinsam besuchten wir Veranstaltungen im Rahmen des Bochumer Kolloquiums Medienwissenschaft an der RUB, aus der Taufe gehoben von Erich Hörl. Dort konnten wir dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy beim Denken förmlich zusehen. Nicht weniger beeindruckend war ein technikphilosophischer Vortrag des Komparatisten und Literaturtheoretikers Werner Hamacher.

Oft diskutierte er mit mir Formulierungen am Telefon. Seine Auseinandersetzung mit Flusser setzt sich fort in seinem Beitrag „Vom Subjekt zum Projekt oder VOM PROJEKT ZUR SUBJEKTIVITÄT!„.

2006 lädt er mich ein, mit ihm einen Aufsatz „The Logical Categories of Learning and Communication — reconsidered from a polycontextural point of view“ für eine Jubiläumsausgabe der Zeitschrift KYBERNETES zu verfassen zu Ehren von Gregory Bateson. Seit 2023 liegt dieser über die Jahre vielzitierte Text auch in einer deutschen Version vor.

So um 2010 „entdeckt“ er den schwedischen Theologen und Religionswissenschaftler John Cullberg und dessen Kritik an der zu armen abendländischen Ontologie, in der das „Du“ fehlt und setzt den Autor gleich in Beziehung zu Günthers Begriff der über mehrere Ich-Zentren verteilten Subjektivität.

Das Werk des britisch-amerikanischen Philosophen Stephen Toulmin „Kosmopolis – Die unerkannten Aufgaben der Moderne“ nimmt er zum Anlass zu einem Exkurs über Leibniz’ Projekt einer Universalschriftsprache und interpretiert ein solches oder solche Vorhaben als notwendig zu berücksichtigende Bedingung auf dem Weg zu einer planetaren Zivilisation.

Seine Texte werden zunehmend politischer. Zudem ist er fasziniert vom Aufstieg Chinas. Er beschäftigte sich – schon seit den 90ern – intensiv mit dem Werk des britischen Biochemikers und Sinologen Joseph Needham. Als ich 2012 für fünf Jahre als Abgeordneter (Piratenpartei) in den Landtag von NRW einzog, nahm er daran aktiv Anteil und besuchte mich mehrfach dort. Zu einem kleinen öffentlichen Kongress „Zukunft der Ökonomie – Ökonomie der Zukunft“ (Mai 2015) lud ich ihn als Vortragsredner ein. Er sagte sofort zu. Sein Beitrag trug als Titel eine Frage, „Welches Wissen? Welche Gesellschaft?„. Ausgehend von Überlegungen des Sozialphilosophen André Gorz sprach Eberhard von Goldammer über gesellschaftlichen Wandel durch Technologie und Wissenschaft, gefolgt von einem regen konstruktiven Dialog mit Personen aus dem Publikum.

Das letzte größere gemeinsame Projekt war das Aufbereiten des digitalen Archivs der Arbeiten von Rudolf Kaehr, der 2016 verstarb. 2019 veröffentlichte Eberhard von Goldammer noch zwei äußerst verdichtete Darstellungen der Polykontexturalitästheorie in einer kurzen und einer längeren Version.

Was ist Komplexität, was ist ein komplexes System?
Ein bekanntes Online-Lexikon sagt dazu:

„Komplexität (lateinisch complexum, Partizip Perfekt Passiv von complecti „umschlingen“, „umfassen“ oder „zusammenfassen“) bezeichnet eine große Anzahl und Unterschiedlichkeit von Elementen, die untereinander in vielfältigen Wechselbeziehungen, Strukturen und Prozessen in einem Gesamtzusammenhang stehen.“

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff Komplexität eher lax verwendet. Da meint „komplex“ in der Regel „sehr oder besonders kompliziert“. Das ist wenig hilfreich und hat keine Trennschärfe.

Die kürzeste Definition, die ich kenne, ist bislang nicht schriftlich veröffentlicht. Sie stammt aus einem Telefonat mit Eberhard von Goldammer am 14.04.2011 (sagt mein Zettelkasten):

„Ein komplexes System ist ein System, dessen formale Beschreibungskriterien sich nicht auf eine Kontextur reduzieren lassen.“

Und „Kontextur“ kann man nachschlagen.

Forschen, das heißt, regelmäßig Ausflüge an die Grenzen des eigenen Verstehens zu machen, alles andere ist Verwalten.

Eberhard von Goldammer hat mich eingeladen, dies mit ihm gemeinsam zu tun. Das hat auch mein Leben und Denken reicher gemacht.

Seine schriftlichen Arbeiten – sofern möglich – weiterhin für eine interessierte Öffentlichkeit zur Verfügung zu halten, ist das Mindeste, was ich tun kann.
[Link zur Bibliographie]

Eberhard von Goldammer verstarb am 27. Mai 2024 in Herne.
Er hinterlässt seine Frau, zwei Söhne und zwei Enkel.

Joachim Paul, Neuss,
Ende Juli 2024

Quellen

[1] Gregory Bateson, „Geist und Natur – Eine notwendige Einheit„, Frankfurt a.M. 1982, S. 37
[2] Herbert Hensel, „Zum Verhältnis von Anthroposophie und Hochschule.“ In: Uwe Stave i.A. der Freien Europäischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): „Wissenschaft und Anthroposophie. Impulse für neue Wege der Forschung.“ Urachhaus Verlag, Stuttgart 1989, S. 70–77 (Manuskript vom 1.12.1982).
[3] W.Ross Ashby, Einführung in die Kybernetik, S. 7
An Introduction to Cybernetics, London 1957, p. 1
http://pespmc1.vub.ac.be/books/IntroCyb.pdf
[4] Heinz von Foerster et al (1974): Cybernetics of Cybernetics, The Control of Control and the Communication of Communication, Univ. of Illinois, Urbana, Ill., S. 1
[5] Jan Müggenburg, Lebhafte Artefakte – Heinz von Foerster und die Maschinen des Biological Computer Laboratory, Konstanz 2018, S.37
[6] Rudolf Kaehr, Welt-Entwurf durch Sprache – Diamondstrategies;
Glasgow 1997, S. 28; online: https://www.vordenker.de/rk/rk_Diamond-Strategies_Weltentwurf-durch-Sprache_1997.pdf

2 Gedanken zu „Eberhard von Goldammer (1941 – 2024) – persönlicher Nachruf

  • 5. August 2024 um 19:40 Uhr
    Permalink

    sehr bewegend

  • 31. Juli 2024 um 19:57 Uhr
    Permalink

    Der Nachruf begeistert – Aufregende Zeit, Spannendes Leben : Rationalität, Risiko, neue Räume in Denken und Praxis – Dank für die Darstellung eines Wegs mit Atem – Gruss nach Neuss

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