Liebe Vordenkerinnen, liebe Vordenker,
jetzt im November gibt es einen brandaktuellen Beitrag von Melanie Xu, eine mit dem Attribut „Herausragend“ bezeichnete Masterarbeit „Raubbau an der Kultur? – Zur Ethik generativer KI im aktuellen Diskurs„.
Darüber hinaus wird ein längst erschienener Aufsatz des Philosophen und Psychoanalytikers Rudolf Heinz, „Was ist Patho-Gnostik?„, nun online zur Verfügung gestellt.
Und erneut hervorgehoben werden sollen eine sprachphilosophische und eine praktisch konstruktive Arbeit des Begründers der Koreanistik in Deutschland, Andre Eckardt, seine „Philosophie der Schrift“ und seine Sinnschrift SAFO.
Obendrein gibt es noch einen – zugegeben längst überfälligen! – Literaturtipp, „Das Bewusstsein der Maschinen – die Mechanik des Bewusstseins“ — „Mit Gotthard Günther über die Zukunft menschlicher und künstlicher Intelligenz nachdenken“ von Werner Vogd und Jonathan Harth.
Abschließend wird – in eigener Sache – auf einen neuen Video-Podcast „Bildung – Digitalisierung – Zukunft“ verwiesen.
Melanie Xu legte im Magister-Studiengang „Management von Kultur- und Non-Profit-Organisationen“ der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau bei Prof. Dr. Klaus Wiegerling ihre Masterarbeit „Raubbau an der Kultur? – Zur Ethik generativer KI im aktuellen Diskurs“ vor. Ihre Arbeit wird als herausragend auf dem Server der Universität zum Download angeboten und mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin auch hier via vordenker.de.
Xu untersucht in ihrer Arbeit internationale sowie deutsche kollektive Stellungnahmen, Vereinbarungen, Gesetzgebungsprozesse und Studien und darüber hinaus einschlägige Statements einzelner Autoren aus dem Jahr 2023 aus dem Diskurs um generative KI-Systeme und belegt – so der Kommentar auf dem Server der Universität -, dass innerhalb der Debatten für ethische Fragestellungen vorwiegend die Outputs der KI-Generatoren betrachtet werden. Insofern ist ihre Arbeit auch ein dringendes Plädoyer dafür, die „Voraussetzungen generativer KI-Systeme“ ebenfalls ethisch zu reflektieren und stellt daher eine unbedingt hervorzuhebende Bereicherung des aktuellen Diskurses um generative KI dar.
Dadurch, dass in der Arbeit auch Quellen abseits der allgemeinen Trends und der Mainstream-Debatte um KI ausführlich berücksichtigt werden – pars pro toto hervorgehoben werden können hier die Publikationen des Autorenduos Jobst Landgrebe und Barry Smith -, bereichert sie über die ethischen Fragestellungen hinaus auch technikphilosophische Diskurse sowie die Kritik von Trans- und Posthumanismus.
Dabei benennt die Autorin mögliche Fallstricke und Stolpersteine für den offenen Diskurs, sie weist auf eine „Ethik unter Zeitdruck“ hin und warnt vor
„der Gefahr einer zweifach verengten Perspektive: Zum einen dadurch, dass Elemente der transhumanistischen Ideologie quasi ontologisiert Eingang finden, zum anderen, dass ökonomisch motivierte Argumente die Debatte einhegen und Kritik oder Aufklärung bezüglich der Voraussetzungen generativer KI nur insoweit zulassen, als sie das „Geschäft“ mit ihr nicht in Frage stellen. Über die „Zukunftsversprechen“, die einen wesentlichen Teil des KI-Marketings ausmachen, [seien] „diese beiden perspektivischen Verengungen, in welche die Debatte unter Zeitdruck hineingetrieben wird, auch thematisch miteinander verknüpft“,
so Melanie Xu auf Seite 19f ihrer Arbeit.
Dies kann nur mit den Attributen „schlüssig und lesenswert“ unterschrieben werden.
Rudolf Heinz, dessen am 23.11.2019 im Correctiv-Buchladen in Essen gehaltener Vortrag „Eindüsterungen zum Identitätsproblem, pathophilosophisch“ hier als Kurzzusammenfassung mit Videolink bereitgestellt wurde, liefert in einem 1984 erstmals als gedruckte Version publizierten Aufsatz „Was ist Patho-Gnostik?“ einen tieferen Einblick in Motivation und Entstehungsgeschichte seines psychoanalytischen Denk- und Lehransatzes.
Ein Problem im universitären Raum bestand zunächst in der Frage, wie sich Psychoanalyse an interessierte Studierende vermitteln lässt, ohne dabei auf einschlägige klinische Verfahren zurückzugreifen. Bei der „gruppenmäßig betriebenen Anwendung von Psychoanalyse auf Kunst und Kunstähliches wie z.B. Märchen oder Mythen“ wurde festgestellt, dass „die dabei immer virulente Idee einer Sachvermittlung von Psychischem und gesellschaftlicher Objektivität als Inbegriff der Kritik des psychoanalytischen Subjektivismus“ für die Teilnehmenden recht überraschend einer möglichen Realisierung zutrieb.
Die Folge war ein langwieriger Umorientierungsweg vermittels einer erneuten Lektüre der Freudschen Todestriebtheorie sowie die Beschäftigung mit „psychiatrienahen extremeren Psychoanalyseversionen“. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Melanie Klein und Heinz Kohuts Narzissmustheorie anzuführen. Eine Schlüsselrolle kommt der Rezeption der Psychoanalyse-Philosophie Jacques Lacans zu. Wie Heinz bemerkt, führte dies leider zur „Mißliebigkeit eines Selbstausschlusses aus der herkömmlichen Psychoanalyse“.
Zur Lektüre von Rudolf Heinz Texten sei hier noch angemerkt, dass Heinz gebürtiger Saarländer ist, der auf Deutsch schreibt, aber häufig in französischen Satzstrukturen denkt. Dieser Hinweis mag sich als Hilfe für alle LeserInnen erweisen.
Andre Eckardt ist als Autor von zwei Beiträgen seit 2011 hier vertreten, zum einen steht seine Philosophie der Schrift online zur Verfügung sowie die von Eckardt entwickelte Sinnschrift SAFO. Ein Fehler in Dateizuordnungen führte dazu, dass sein Nachlassverwalter PD Dr. Albrecht Huwe sich meldete und im Zuge der Korrektur seine Zustimmung zur Bereitstellung von Eckardts Werken noch einmal ausdrücklich erneuerte. Im gebührt ein ganz herzlicher Dank dafür!
Aus diesem Anlass weisen wir erneut auf das Werk des Begründers der Koreanistik in Deutschland hin. Wer sich wie Eberhard von Goldammer mit den Arbeiten des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz und insbesondere mit seinem Anspruch ein universelles Zeichensystem (characteristica universalis), eine Universalschrift konstruieren zu wollen beschäftigt, der Beitrag titelt mit „Leibniz … reloaded oder UniversalSCHRIFTsprache — Vision oder Illusion?„, der stößt fast zwangsläufig auch auf die Arbeiten von Andre Eckardt.
Was Eckardt auszeichnet, ist seine physische – er lebte lange Zeit vor Ort in Korea – und mentale Selbstpositionierung an den Berührungsstellen zwischen Ost und West, zwischen Ideogramm und Alphabet, von denen aus er seine Philosophie der Schrift entwickelt. Ideographische Schriften können – beim Lesen – in einem gewissen Sinn als Abstraktionen des Sehens verstanden werden, alphabetische als Abstraktionen des Hörens, bzw. Transformationen von Gehörtem in Sichtbares. Daraus folgt unmittelbar, dass z.B. Chinesen anders „ticken“ als z.B. Europäer. Aber beiden Arten der graphischen Darstellung durch Zeichensysteme muss einerseits ein Mehr, andererseits auch ein Weniger gegenüber der gesprochenen Sprache zugestanden werden, oder wie von Goldammer es verkürzt ausdrückte:
Schrift ist häufig mehr als nur verschriftlichte Sprache und umgekehrt ist Sprache unter Berücksichtigung von Betonungen, Mimik usw. ebenfalls mehr als ihre einfache Verschriftlichung.
Dieser Widerspruch – wie kann beides jeweils mehr als das andere sein? – erweist sich als monokontextural. Er löst sich unmittelbar auf, wenn mehrere Kontexturen zugrunde gelegt werden.
Eckardt jedenfalls, die koreanischen Schriftenschöpfer (Hangul) vor Augen und den Wunsch nach Völkerverständigung im Herzen, entwickelt eine eigene Symbolschrift, die er Sa = Sinn, Fo = Schrift, SAFO = Sinnschrift nannte in der Hoffnung, dass sie sich sowohl für Asiaten als auch Europäer als praktikabel erweise. Und seine Philosophie der Schrift kann auch, dialektisch wohlgemerkt, als Gegenthese zu Marshall McLuhans in den magischen Kanälen geäußerte Auffassung [*] von den gleichschaltenden Momenten alphabetischer und den trennenden ideographischer Schriftsysteme gelesen werden.
Werner Vogd und Jonathan Harth veröffentlichten bereits im Oktober 2023 im Velbrück Verlag ihr Werk „Das Bewusstsein der Maschinen – die Mechanik des Bewusstseins“ mit dem Untertitel „Mit Gotthard Günther über die Zukunft menschlicher und künstlicher Intelligenz nachdenken“.
Leider kann erst jetzt darauf Bezug genommen werden. Eine diesem 400-Seiten-Werk gerecht werdende Würdigung muss zwangsläufig die Ausmaße eines umfangreicheren Essays annehmen. Dazu gab es – leider – vielfältigen, teilweise recht unangenehmen Umständen geschuldet auch nach längerem Hin und Her kein passendes Zeitfenster.
Gleichwohl, das Werk stellt einen höchst wertvollen Beitrag dar nicht nur zu den Diskursen zu dem, was gemeinhin künstliche Intelligenz genannt wird, sondern auch zu Technikphilosophie ganz allgemein. Dort ist man sich nämlich immer noch nicht einig, ob der Kybernetik-Philosoph Günther da überhaupt einen Platz hat oder haben soll. Die Monographie „Technikanthropologie“ (Hg. Martina Heßler, Kevin Liggieri, Nomos, Baden-Baden 2020) beschäftigt sich in mehreren Beiträgen mit dem Philosophen, das „Handbuch Technikphilosophie“ (Hg. Mathias Gutmann, Klaus Wiegerling, Benjamin Rathgeber, J.B. Metzler, Stuttgart 2024) erwähnt ihn nicht ein einziges Mal im Gegensatz zu einigen Autoren, die selbst Günther ausgiebig zitiert haben. Für ein Werk mit dem Anspruch eines Nachschlagewerks wirkt das zumindest irritierend.
Das Werk von Vogd und Harth ist – sehr erfreulich – zudem eine Open-Access-Publikation in der Nomos eLibrary und kann dort als ebook heruntergeladen werden. Die Print-Ausgabe kostet 49,90 €.
Wer der im Untertitel ausgesprochenen Einladung folgt, den erwartet ein Werk, in dem die Autoren nicht der kommerziellen Versuchung erliegen, auf Fragen (einfache) Antworten zu geben, ihr Verdienst besteht vielmehr darin, wissenschaftlich und philosophisch Fragen zu präzisieren und deren Konnotationsräume anzureichern, gedankliche Seitenlinien scharf zu machen, etc. Ich persönlich habe an einigen Stellen Einwände und Anmerkungen. Das ist gut so und erhöht den persönlichen Wert des Werkes für mich.
Im Grunde liegt ein im besten Sinne transdisziplinärer Forschungsleitfaden vor, der gleichermaßen Widerspruch und Zustimmung provoziert und der einerseits weit in das Informationstechnologisch-Maschinelle hineinreicht, andererseits aber nicht im Positivistisch-Instrumentellen verweilt oder gar hängen bleibt – wie aktuell das Gros der Publikationen zu KI, sondern der immer wieder, in jedem Kapitel, implizit und gelegentlich auch explizit die Kantsche Kernfrage „Was ist der Mensch?“ offensiv stellt.
Auch um einen kurzen Eindruck von Sprachstil und – melodie zu vermitteln, soll hier das Werk in zwei etwas längeren Zitaten für sich sprechen:
Eine der wesentlichen Errungenschaften der Kybernetik besteht darin, anzuerkennen, dass unsere Welt unvorstellbar komplex ist und die Möglichkeiten, Daten zu Zusammenhängen zu verknüpfen, also Information zu erzeugen, um ein Vielfaches größer sind als die gesamte Anzahl der Elementarteilchen im Universum. Dies führt zu dem Befund, dass kognitive Systeme (wie zum Beispiel menschliche Lebewesen) keine andere Wahl haben, als sich ihre eigene Welt zu schaffen, um hierdurch Orientierung zu gewinnen. Subjektivität bedeutet in diesem Sinne immer auch, mit Nichtwissen in einer produktiven Weise umgehen zu können, also sich eine Existenz aufzubauen, indem grobkörnig – das heißt mit selektiver Blindheit – auf die Welt geschaut wird. [Vogd, Harth, S. 18]
Nicht nur dieser Absatz lässt sich unmittelbar zu Gotthard Günthers Essay „Erkennen und Wollen“ in Beziehung setzen. Subjektivität bedeutet immer auch, Teil eines größeren Ganzen zu sein, das nicht vollständig erfasst werden kann. Nichtwissen ist daher – hier erfrischend positiv gewendet – notwendige Bedingung für die Konstruktion von Welt.
Wer demgegenüber eine monokontexturale Erkenntnistheorie pflegt, wird andere Wesen weder als Subjekte noch als inhärenten Bestandteil des eigenen Beziehungsgewebes verstehen können. Er oder sie wird andere Wesen tendenziell als befremdlich, gefährlich oder zumindest störend empfinden und damit einer Entfremdung Vorschub leisten, die die eigenen Freiheitsgrade und letztlich auch die eigene Subjektivität unterminiert. Denn wer Tiere, Pflanzen, Kinder, Partnerinnen, Kollegen oder kybernetische Maschinen überwiegend instrumentell begreift, wird dazu neigen, auch sich selbst – also seinen eigenen Leib und seine eigene Psyche – als einen zu optimierenden Mechanismus aufzufassen. Unweigerlich wird damit all das, was aus dem Bereich der eigenen Subjektivität in den Bereich des Objektiven entäußert werden kann, der Manipulation ausgeliefert werden: der trainierbare und chirurgisch gestaltbare Körper, die Neurochemie, die Expression der Gene, die optimierbaren Aspekte der Psyche, die seelischen Aspekte, die dem Zugriff einer vermeintlich positiven Psychologie zugänglich sind, etc.
Wenn sich das eigene Selbstverhältnis immer weniger von etwas berühren lässt, was sich der Positivität der eigenen Weltobjektivierung entzieht, dann wird das seelische Leben über kurz oder lang flach werden. Es gibt keinen Raum des Negativen, des Unverfügbaren mehr, aus dem heraus das Selbst berührt und transzendiert werden könnte. Das Subjektive – und damit verbunden die Möglichkeit des Empfindens von Freiheit – wird an den äußersten Rand verdrängt. Die Sehnsucht nach Lebendigkeit – also nach dem Risiko des Lebens – mag zwar fortbestehen, wird jedoch unter den Skripten der Optimierung und Rationalisierung des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses kaum mehr einen eigenständigen Ausdruck finden. [Vogd, Harth, S. 358]
Hier wird die Konsequenz eine mehr oder weniger rein instrumentellen Sicht auf Welt schonungslos aufgezeigt, sie schlägt zurück auf Physis und Psyche des Subjekts. Bemerkenswert ist der Charakter einer Gegenrede zu technologieeuphorischen Positionen, so wie wir sie von Apologeten der Silicon Valley-Ideologie kennen, der jedoch ebenso kulturpessimistischen oder gar maschinenstürmerischen Tendenzen widersteht, eben durch Einbeziehung der kybernetischen Maschinen, also der Konstruktionen des Menschen in die Gegenwehr zum „überwiegend instrumentellen“ Begreifen. Eine Subjektivierung des Maschinellen ist das deshalb noch lange nicht. Es geht um die Ausgestaltung der Beziehungen zur Welt und ihren lebenden und nicht-lebenden Teilen.
Der Schlusssatz der Verlagsbeschreibung bringt den Anspruch des Werkes verdichtet zum Ausdruck:
So lässt sich schließlich zeigen, wie künstliche Intelligenzen Aufschluss darüber geben können, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Thomas Hickfang, u.v.a. Teamkoordinator für das Medienpädagogische Zentrum Leipzig, Thomas Rudel, Leiter des Kommunalen Medienzentrums des Kreises Tübingen und ich, Joachim Paul, haben uns entschlossen, regelmäßig, monatlich, bzw. wenn unsere Zeit es zulässt, mehr oder weniger Weltbewegendes unter dem Titel Bildung – Digitalisierung – Zukunft zu diskutieren. Sie sind alle herzlich eingeladen, in den Vodcast-Kanal auf youtube reinzuschauen. Aktuell sind bereits drei Folgen online unter https://www.youtube.com/@Bild_Digit_Zukunft
Mit [trotzdem] besten Grüßen, Ihr
Nick H. aka Joachim Paul (Hg.)
Links und Quellen
https://sowi.rptu.de/fgs/philosophie/personen/team/apl-prof-dr-wiegerling-klaus
https://kluedo.ub.rptu.de/frontdoor/index/index/docId/8403
https://www.vordenker.de/mxu/mxu_raubbau_kultur_ethik_generativer_ki.pdf
https://www.vordenker.de/rh/rh_pathognostik.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Andre_Eckardt
https://www.vordenker.de/vgo/anmerkungen_leibniz_a.pdf
https://www.vordenker.de/downloads/eckardt_philosophie-der-schrift.pdf
https://www.vordenker.de/downloads/eckardt_safo.pdf
[*] McLuhan, Herbert Marshall; Die magischen Kanäle – Understanding Media, Dresden 1994, S. 137f