Vom 15. bis zum 16. Mai 2010 fand in Bingen in einer alten Ausbesserungshalle für Eisenbahnwaggons direkt gegenüber dem Mäuseturm der erste Bundesparteitag der Piratenpartei 2010 statt. Neben der Zahl der Teilnehmer – am frühen Samstagnachmittag vermeldete der Versammlungsleiter 1001 akkreditierte Piraten – stellte die Veranstaltung so einige Rekorde auf. Statt den bei etablierten Parteien üblichen papiernen Arbeitsmappen, Kaffeetassen und Prosecco-Gläschen mussten etwa 800 Laptops über LAN und WLAN inklusive Internet-Zugang vernetzt, eine multifunktionale Präsentationstechnik bereitgestellt sowie die Organisation von softwaregestützten dezentralen „Wahllokalen“ für die Wahl des Bundesvorstandes mit insgesamt 90 Wahlhelfern erledigt werden, eine logistische Meisterleistung! Die Piratenpartei lebte einmal mehr vor, wie Basisdemokratie aussehen kann. Der Parteitag wurde von Mitgliedern bestritten, Delegierte gibt es bei den Piraten nicht.
Kommunikation innerhalb der Partei und darüber hinaus findet bei Piraten auch während eines Parteitages auf mehreren Ebenen statt. Diskussionen im Plenum und Gespräche in Kleingruppen wurden durch exzessive Nutzung von Twitter, eines separaten IRC-Channels und direkt parallel bearbeitbarer Textdateien im Piratepad (Etherpad) ergänzt.
Trotz dieser Vielfalt an Möglichkeiten machte sich schon am ersten Tag Enttäuschung breit, da recht schnell klar wurde, dass man das Mammutprogramm des Parteitages, Entlastung des Vorstands, Vorstandswahlen, 129 Programmänderungsanträge, 109 Satzungsänderungsanträge und diverses Sonstiges in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht würde erledigen können. Suboptimal waren sicher auch Struktur und Vorgehensweise der Kandidatenbefragungen. Hier hätte im Vorfeld vieles über das Netz geschehen können. Als Konsequenz wurde für 2010 ein zweiter Bundesparteitag beschlossen, der den nicht bearbeiteten programmatischen und Satzungsfragen vorbehalten sein wird.
Dennoch kann der Bundesparteitag als voller Erfolg und als Sieg für die Basisdemokratie gesehen werden. Der bisherige Vorstandsvorsitzende Jens Seipenbusch wurde mit 52,5% der Stimmen im Amt bestätigt, gemessen an den Standards der etablierten Parteien ein sicher schwaches Ergebnis. Aber: In welcher Partei stehen schon 6 Konkurrenten zur Wahl, die zudem vom Plenum auf Herz und Nieren befragt werden können? Insbesondere bei der Spontankandidatin – kann man sich das nicht vorher überlegen? – Lena Simon erinnerte die Befragung eher an den aus gruppendynamischen Events bekannten „heißen Stuhl“.
Vor diesem Hintergrund ist das schon im ersten Wahlgang erzielte Ergebnis von Seipenbusch ein großer Sieg.
Zudem ist bei dem alten und neuen Vorsitzenden gegenüber seinen Konkurrenten das integrative Moment am stärksten ausgeprägt, das ist genau das, was die Partei nach dem Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen braucht. Polarisierungen sind zur Zeit völlig fehl am Platz. Darüber hinaus steht Seipenbusch für eine moderate und durchdachte, nicht überstürzte Erweiterung des Grundsatzprogramms. Mit ihm hat die Nachdenklichkeit über schnellen politischen Aktionismus gesiegt, ein Ergebnis, dass der Partei sehr gut ansteht und der Glaubwürdigkeit beim Wähler zugute kommt.
Das Plenum ratifizierte den Beitritt der Piratenpartei Deutschlands zur Piratenpartei International PPI.
Darüber hinaus wurde die bundesweite parteiinterne Einführung der Software Liquid Feedback beschlossen, über die Meinungsbilder erschlossen und thematische Delegationen vorgenommen werden können. Es kann gar nicht deutlich genug gesagt werden, hier leistet die Partei regelrecht Forschungsarbeit zu Entscheidungsverfahren in großen Gruppen, mit der ausgelotet werden kann, was für die Demokratie morgen möglich ist.
Als besondere Attraktion aus Wortgewandtheit und Charisma 😉 erwies sich neben der Präsentation der Jungen Piraten JuPis, mit denen sich das Plenum über außerordentliche Zuwachsraten freute, Captain „Jack“ Sparrow, der Dalmatiner-Rüde des alten und neuen Bundesschatzmeisters der Partei, Bernd Schlömer.