In der letzten Zeit beobachten wir auf dem Buchmarkt ein interessantes Phänomen. Bestimmte „Fachautoren“ werfen populärwissenschaftliche Bücher zu Zeitproblemen und Zeitgeist auf den Markt, deren Markterfolg in krassem Gegensatz zu ihrem Gehalt steht.
Dabei soll das schriftstellerische Vermögen keinesfalls in Abrede gestellt werden. Es ist schon bewundernswert, wie wortgewaltig die Autoren ihre eigenen gedanklichen Nebelkerzen als Ausdruck maximaler Inkompetenz und mangelnder Denkkultur in Sätze fassen und unters Volk, i.e. die Leser werfen und damit die eigene Verwirrtheit in Bares ummünzen. Insofern reüssieren die Autoren ihrerseits als Ausdruck eines Zeitgeistes, den sie eigentlich beschreiben möchten.
Den Aufschlag machte 2007 der US-amerikanische Akademiker David Weinberger mit seinem Buch „Everything is Miscellaneous. The Power of the New Digital Disorder“, das 2008 unter dem Titel „Das Ende der Schublade : Die Macht der neuen digitalen Unordnung“ auf Deutsch erschien. Grund genug, es hier einer verspäteten Rezension zu unterwerfen.
Weinbergers Buch beginnt mit einer längeren Betrachtung darüber, dass gegenständliche Waren, z.B. in einem Kaufhaus, immer nur einen Ort einnehmen können und damit immer nur einem Ordnungsprinzip unterworfen sind. Käse findet sich eben im Käsekühlfach in der Lebensmittelabteilung und nicht neben den Krawatten bei der Herrenoberbekleidung. Die Realisierung eines anderen Ordnungsprinzips, etwa die Gruppierung nach Herstellern, hat eine Umordnung der Waren zur Folge. Soweit, so gut, das Ordnungsprinzip der Waren ist fürgewöhnlich Gegenstand eines bestimmten Kontextes und Kontexte können bei Bedarf geändert werden.
In der „digitalen Welt“ aber, so Weinberger, sei eine grundsätzliche Unordnung ein bestimmendes Element. Nichts hat mehr einen festen Platz und man kann den digitalen Objekten mehrere Orte zugleich zuweisen (S. 16f). Die Grundthese seines Buches besagt nun, dass die digitale Welt von der Physischen völlig verschieden sei, da im Digitalen keine Ordnung mehr bestehe. Weinberger führt am Beispiel von Fotoalben weiter aus, dass wir nun im Computer beliebig viele Alben, also Ordnungen nebeneinander bestehen lassen können und der Ort des einzelnen Bildes keine Rolle mehr spielt. Spätestens hier stehen dem gestandenen IT-ler die Haare zu Berge. Denn selbstverständlich muss jedes Album die Links, die Adressen zu seinen Bildern kennen und damit auch den physikalischen Ort, an dem die Bilder gespeichert sind. Darüber hinaus lassen sich auch zu physischen Objekten, z.B. zu Gemälden, die – als Unikate – nur einmal existieren und daher nur einen eindeutigen Ort haben, abzählbar viele Kataloge – also Ordnungen – erstellen, die die Bilder auffindbar machen. Zum kopfschüttelnden IT-ler gesellt sich hier nun auch der Bibliothekar. Für ihn gehört die Anfertigung von verschiedenen Katalogen zu unterschiedlichen Bedürfnissen, also Kontexten, zum Kerngeschäft seines Berufes.
Thomas Hilberer bemerkt hierzu in seiner Rezension des Weinberger-Buches:
„Dass das Digitale sich sehr viel einfacher kopieren läßt, so daß ein Foto in vielen Alben präsent sein kann, das Buch aber (meist) nur einmal vorhanden ist – dieser Unterschied ist kein grundsätzlicher, denn er ändert nichts an der Möglichkeit der mehrfachen Ordnung: jedes Buch hat virtuell mehrere Plätze. Später scheint Weinberger dann doch noch begriffen zu haben, was Kataloge leisten, und damit widerlegt er seine Grundthese selber (S. 68).“
Warum also das Ganze? Wer es ohne einzuschlafen geschafft hat, sich durch alle 286 Seiten zu beissen, ist keinen Deut schlauer als zuvor. Dennoch kann das Durchblättern des Buches für denjenigen ein Gewinn sein, dem die lesende und verstehende Aufmerksamkeit (noch) nicht abhanden gekommen ist. Ihm wird klar, dass die gedanklichen Nebelkerzen Weinbergers dadurch entstehen, dass er zwei ineinander verschlungenen Verwechslungen zum Opfer fällt und es bis zum Schluss nicht schafft, sich davon zu lösen. Stattdessen verrührt er sie zu einem argumentativen Irrgarten und verstrickt sich in die selbst gestellten Fallen.
Erstens ist der grundsätzliche Charakter der Kopie bei ihm nicht verstanden. Der Ort eines jeden digitalen Objekts im Datennetz, unabhängig davon, ob es nur einmal oder vielfach vorliegt, ist immer eindeutig definiert, eine zwangsläufige Voraussetzung dafür, das Objekt überhaupt referenzieren zu können. Die Zusammenführung verschiedener z.B. Fotos von unterschiedlichen Orten über Links in einer Fotokatalog-Webseite stellt informationstechnisch gesehen eben keine neue „Ortschaft“ der Bilder her. Der Autor verbleibt hier an der Benutzeroberfläche. Die Tiefenstruktur des Netzes, die erst die Möglichkeit einer solchen Webseite liefert, wird von ihm vernachlässigt. Darüber hinaus ist eine Vielfalt von Referenzierungen in unterschiedlichen Katalogen kein Merkmal des Datennetzes, die oben erwähnten Bibliothekare praktizieren dies seit Jahrhunderten.
Zweitens verwechselt Weinberger das Objekt selbst mit seiner Beschreibung in Form von Metadaten und auf einer höheren Ebene die Dingwelt mit der Welt ihrer Repräsentation für die Nutzer. Konsequenterweise müsste er jedem raten, im Restaurant die Speisekarte zu essen, sie ist ja dasselbe wie das Menü. So macht er die Beziehung eines Objektes und seiner Beschreibung zu einer und nur einer Sache, die keine innere Struktur besitzt, der Prozess der Abbildung selbst wird in seinem Schreiben nicht sichtbar.
Ganz wirr wird es, wenn Weinberger im letzten Drittel seines Werkes (S. 219f) die alten Griechen Aristoteles und Platon bemüht und ihren Versuchen der Kategorisierung der Dingwelt in völliger Unkenntnis der historischen Tatsachen einen absolutistischen Charakter vorwirft und sogleich auf diesen einprügelt. Hätte ein Philosoph es überhaupt geschafft, bis hier vorzudringen, würde er nun das Buch teils gelangweilt, teils angewidert in den Papierkorb werfen.
Für Weinberger ist die Welt eine Benutzeroberfläche. Sein Denken – wenn man dieses Wort überhaupt verwenden kann – erweist sich damit als nicht zukunftsfähig. Und sein Schreiben als Selbstzweck, wenn, ja wenn der monetäre Aspekt nicht wäre.
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Bleibt die Frage zu stellen, wenn diese Autoren hier als die neuen postmodernen Verwirrten bezeichnet werden, wer sind dann die Alten? Damit muss ganz selbstverständlich die 68er-Bewegung und ihr politischer Arm, Bündnis 90/Die Grünen gemeint sein. Dort wurde das „Ich habe fertig!“ mit der Aufklärung vergessen, aber das ist eine andere Geschichte.
Demnächst: Die neuen postmodernen Verwirrten, Folge 2: Frank Schirrmacher
Stay tuned!
Nick H.
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