Gedanken zur Kritik des Schulsystems
Die Anpassung unseres Bildungssystems an die Anforderungen der Zukunft geistert zur Zeit mit schöner Regelmäßigkeit durch alle Feuilletons und politischen Kommentare. Die öffentlich zur Schau gestellte Einsicht in eine breite und umfassende Bildung als die wahre Ressource der Zukunft unserer Gesellschaften gehört mittlerweile zur Alltagskultur bildungsbeflissener Politiker aller Parteien. Man schmückt sich damit, in der Hoffnung auf Wählerstimmen. Dabei scheint nur wenigen klar zu sein, wie tief der Riss z.B. zwischen unserem Schulsystem und den in ihm arbeitenden Lehrkräften und ihren Kompetenzprofilen auf der einen und der Realität des weltweiten Datennetzes auf der anderen Seite mittlerweile gediehen ist.
Es geht hier nicht etwa um die technische Ausrüstung von Schulen und Universitäten, es geht vielmehr um die Frage nach einer zeitgemäßen Kulturtechnik des Lernens selbst.
Die an den Universitäten erworbene und in der beruflichen Weiterbildung gepflegte Hauptkompetenz der Pädagogen besteht seit jeher in der Vermittlung von kanonisiertem Wissen. Und genau hier liegt das Problem. Auf etwas anderes sind unsere Lehrkräfte nicht vorbereitet. Wie soll, wer selbst nur kanonisiertes Wissen geboten bekam und Methoden zur Vermittlung desselben erlernt hat, etwa den effizienten Umgang mit nicht-kanonisiertem Wissen vermitteln können?
Kanonisierung (von altgriechisch kanõn, “Richtschnur”) bedeutet allgemein die Übernahme autoritativer Schriften in den Lehrplan einer Wissenschaftsrichtung. Und der Themeninhalt dieses Plans ist es dann, der der heranwachsenden Generation vermittelt werden soll. Die Entscheidung darüber, was in den Kontexten der Unterrichtsfächer eine autoritative Schrift ist und was nicht, treffen in der Regel andere.
Auf der anderen Seite steht das Internet. Das Netz und die es mit Inhalten füllenden Netzbürger haben erstmal nichts mit Richtschnüren am Hut. Dort bewegt sich jeder – für den Kreativität und Denken publizistisch eine Rolle spielt – an den Grenzen des eigenen Denkens, an den Rändern des eigenen Wissens- und Methodenhorizontes. Das übt und qualifiziert zum Forscher und Ingenieur – zunächst nur für sich selbst und jenseits offizieller Zertifizierungen.
Einer, dem man eine mangelnde Einsicht in dieses Problemfeld nicht unterstellen kann, ist der Psychologe Claas Triebel. Er thematisierte jüngst in seinem Beitrag “Recht auf Internet und Reform des Bildungssystems” in Telepolis (08.08.2010) die möglichen Folgen einer Umsetzung der Empfehlung der EU-Kommission zum lebenslangen Lernen. Zum Thema der Kanonisierung des Wissens findet Triebel klare Worte:
“Das ist nicht Schuld der Lehrer und Dozenten. Es ist ein Fehler im System, das bislang darauf angelegt ist, als Medienkompetenz zu vermitteln, man solle Nachrichtensendungen auf öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern ansehen und Dokumentation auf arte, um sich als medienkompetent zu erweisen. Mozart ist gut und fördert die Hirnentwicklung, Heavy Metal ist böse und lässt Blumen verwelken. Alle Filme des unabhängigen französischen Kinos sind gut, alle Splatter-Filme und an sich auch amerikanische Filme sind böse. Zeitung ist gut, Internet Schund. Bezahlen ist gut, gratis ist schlecht. So einfach ist das.”
Man mag dies als pauschal geurteilt und klischeehaft dargestellt abtun, es trifft dennoch den realen Kern unseres Bildungssystems. Zu dem, was über die bloße Vermittlung von technisch-handwerklichen Fähigkeiten wie dem Umgang mit Textverarbeitung und Tabellenkalkulation hinausgeht, diagnostiziert Triebel Überforderungen:
“… das Interesse, sich kulturell, beruflich und sozial zu engagieren, die kritische Reflexion der Nutzung, die Beurteilung von guten und schlechten Inhalten – das alles sind erstrebenswerte Ziele, deren konkrete Umsetzung in der Schul- und Hochschulpraxis jedoch gegenwärtig illusorisch erscheinen. Notwendig wären Projektunterricht, Abkehr von zentralisierten Lehrplänen und generell die Ermächtigung der Belehrten gegenüber den Lehrenden, um die Förderung von Computerkompetenz im skizzierten Sinne zu gewährleisten. Nichts andere wäre also notwendig, als eine fast vollständige Abkehr vom derzeit geltenden Paradigma.”
Aber wie soll das aussehen? Den Lehrerinnen und Lehrern zum bloßen Abschied von Wissenskanonisierungen Bücher wie das des Nebelkerzenwerfers David Weinberger zum Ende der Schublade in die Hand zu drücken und zu sagen, nun macht mal, kann es nicht sein.
Von den Forschern an den Unis fordern die Politik allgemein und sogar diejenigen Bildungspolitiker mit Horizontverengungen wie Frau Schavan ein vermehrtes Engagement in der Lehre. Es wird die Einheit von Forschung und Lehre beschworen.
Genau dies sollte auch umgekehrt gelten. Lehrerinnen und Lehrer müssen wieder vermehrt zu Forschern werden, das Spazierengehen an den Rändern des nicht durch kanonische Verordnungen gesicherten eigenen Wissens erleben und üben. Das Netz mit seinen vielen Ortschaften ist hierfür der geeignete “Ort”. Dies hätte auch zur Folge, dass Lehrende sich aus eigener Erfahrung und viel besser als bisher in die Schülerselbsterfahrung des Defizitären, weniger Wissenden hineinversetzen können.
Man käme so vielleicht zu einer neuen Gemeinsamkeit – zu einem Wir – von Lernenden und Lehrenden.
Nick H.
Wenn sich Ihr Artikel auf dem momentanen Stand der Schulwirklichkeit bezieht, dann stimme ich den Beobachtungen und Äußerungen voll zu. Nur auf die gegenwärtige Lehrerausbildung und auch auf die seit dem PISA-Schock in vielen Bundesländern neuen Kerncurricula trifft das Ganze nicht zu. Mit currcicularen Vorgaben für Lehrer findet eine deutliche Abkehr von der Wissensanhäufung hin zum kompetenzorientierten Unterricht statt. Es gibt Grundkompetenzen wie Kritikfähigkeit, die in jedem Schulfach in genau der von ihnen geforderten Form oder ähnlich geschult wird. Historisches wird nicht mehr als gegebenes Faktenwissen auswendig gelernt, sondern es werden Strukturen historischer Prozesse aufgedeckt, analysiert, hinterfragt und in Bezug zur Lebenswelt des Schülers gesetzt. Mediekritik ist elementarer Bestandteil aller Fächer. So wird in Mathematik z.B. die pseudowissenschaftliche Präsenattion von Zahlenmaterial als Mittel der politischen Propaganda entlarvt. Für jedes Fach finden sich etliche Beispiele, wie die Schule der Zukunft auf das Leben und nicht auf die Schule vorbereitet kann. Dass diese Reformen nicht bei den Lehrern ankommen, die seit 10 und mehr Jahren bereits im Schuldienst sind, ist verständlich. Sofern keine Zwangsweiterbildungen stattfinden und dann auch hinsichtlich der Wirkung auf den Unterricht evaluiert werden, wird sich dieses neue Denken nur schleichend etablieren. Dadurch, dass neue Schulbücher sich an den neuen Maßstäben orientieren müssen, das engagierte Lehrer auf dem Laufenden bleiben, indem sie auch mal das neue Kerncurriculum ansehen und es nicht als neumodischen Krams abtun. Und zuletzt: Es wächst eine neue Lehrergeneration heran, die genau in der Hinsicht ausgebildet wird, dass sie in der Lage ist, die Schüler auf eine veränderte mediale, globalisierte Zukunft vorzubereiten.