Am vergangenen Samstag fuhr ich im Rahmen des NRW-Kommunalwahlkampfs nach Recklinghausen zu einem Piraten-Infostand. Hey, dachte ich, beim Richard Sennett, Zusammenarbeit, fehlt noch das letzte Fünftel, das hast Du noch nicht gelesen, das wäre doch was für die Zugfahrt. OK, Buch in den Rucksack und los.
So etwa zwischen Duisburg und Gelsenkirchen stoße ich auf folgenden Absatz:
So wichtig bloße Andeutungen und Schweigen auch sein mögen, kommt es bei der Kooperation letztlich doch eher auf aktive Beteiligung als auf passive Anwesenheit an. Dieser Auffassung folgte Tocqueville, als er die Bürger- und Vereinsversammlungen in den Städten Neuenglands idealisierte, auf denen jeder etwas zu sagen hatte. Diese rosige Aussicht wird allerdings oft zu einer Tortur, wenn zwanzig Leute endlos über eine Entscheidung diskutieren, für die ein Einzelner nur eine Minute benötigte. Zudem wissen geschickte Folterer genau, wann sie das Killerargument anzubringen oder den „eigentlichen Sinn der Versammlung“ zusammenzufassen haben, einen Konsens, dem die anderen dann nur aus Erschöpfung zustimmen. In solchen Fällen mag jemand mit Denis Diderot ausrufen: „Der Gefühlsmensch folgt den natürlichen Impulsen und vermag nur den Schrei seines Herzens genau wiederzugeben – in dem Augenblick, da er diesen Aufschrei mildert oder verstärkt, ist er es nicht mehr selbst.“
Die Herausforderung bei der Partizipation liegt darin, dass sie auch die darauf verwendete Zeit wert sein sollte. Bei Versammlungen oder Sitzungen hängt alles von deren Strukturierung ab. Wären sie wie die Werkstatt der Geigenbauer strukturiert, gelangte man dort durch körperliche Gesten zu einem Konsens. Wären sie wie ein Labor strukturiert, käme man durch ein offenes Vorgehen zu einem Ergebnis, wobei man zwischen der Skylla eines festen Arbeitsplans und der Charybdis eines ziellosen Umherschweifens hindurchsteuern müsste. Eine interessante Sitzung würde wie bei der Reparaturform des Umbaus die Leiden und Mühen anerkennen, welche die Menschen an den Verhandlungstisch geführt haben, und sie würde die Illusion vermeiden, die Dinge ein für alle Mal regeln zu können. In allen Versammlungen oder Sitzungen dieser Art würden die Teilnehmer auf dem üblichen Wege der Ausbildung von Fertigkeiten Rituale entwickeln, die es ihnen ermöglichen, besser und ausführlicher miteinander zu reden.
Das klingt gut. Aber ist es nicht eine Illusion? Wir möchten wissen, ob und wie es in der Praxis Realität werden kann. Dazu müssen wir uns mit einem scheinbar langweiligen Gegenstand befassen – Formelle und informelle Treffen ….
Also irgendswie kommt mir das bekannt vor. Und die Tatsache, dass Alexis de Tocqueville feststellen musste, dass die Neuengländer das Problem auch schon hatten, beruhigt mich jetzt nicht wirklich.
Notieren wir das mal unter Lernschmerzen.
Nick H.
Quelle: Sennett, Richard; Zusammenarbeit – Was unsere Gesellschaft zusammenhält; orig.: Together: The Rituals, Pleasures and Politics of Cooperation; dt., Berlin, München 2012, S. 312f
ack, Wissen und Fundsachen dazu gehören geteilt 😉 Mehr davon. Denn Teilen ist das neue Haben (sagt Bruno Gert Kramm).
sagt Balthasar Gracián.
Außerdem gibt es noch den Kreon…
Viel zu pessimisstisch! Aber in der Vorbereitung oder in den Versammlungen helfen „Aushelfende Geister“:
Es ist ein Glück der Mächtigen, daß sie Männer von ausgezeichneter Einsicht sich beigesellen können, diese entreißen sie jeder Gefahr der Unwissenheit und müssen schwierige Streitfragen für sie erörtern. Es liegt eine besondere Größe darin, die Weisen in seinem Dienst zu haben, und solche übertrifft bei weitem den barbarischen Geschmack des Tigranes, der etwas darin suchte, gefangene Könige zu Dienern zu haben. Eine ganz neue Herrlichkeit ist es, und zwar im Besten des Lebens, künstlich die zu Dienern zu machen, welche die Natur hoch über
uns gestellt hat. Das Wissen ist lang, das Leben kurz, und wer nichts weiß, der lebt auch nicht. Da ist es denn ungemein geschickt, ohne Müheaufwand zu studieren, und zwar viel durch viele, um durch sie alle gelehrt zu sein. Da redet man nachher in der Versammlung für viele, in dem aus eines Munde so viele reden, als man vorher zu Rate gezo-
gen hat: so erlangt man durch fremden Schweiß den Ruf eines Orakels. Jene aushelfenden Geister suchen zuvörderst die Lektion zusammen und tischen sie uns dann in Quintessenzen des Wissens auf. Wer nun aber es nicht dahin bringen kann, die Weisen in seinem Dienst zu haben, der ziehe Nutzen von ihnen im Umgang
Moin Jürgen,
also irgendwelche Schlüsse kann ich aus Deinem Post nicht ziehen. Außer vielleicht, dass sowas wie Programm keine Rolle spielt.
Gruß, Nick H.
Ich glaub ich trete lieber den anderen kleinen Parteien bei wenn ich das so lese
Dass wir ganz offensichtlich nicht die Einzigen sind, die bei dem Versuch einer Beteiligung Vieler Probleme entdecken und leben. Das zeichnet uns also nicht aus.
Ohne Zweifel tun wir aber manchmal so.
Dementsprechend müssen wir uns fragen, was uns denn auszeichnet, bzw. auszeichnen könnte. Und nein, im Gegensatz zu Dir bin ich nicht der Meinung, dass wir „nah dran“ waren. Wir waren noch nie „nah dran“.
…und was haben wir gelernt? Was sind deine Schlüsse daraus?