Abschlussbericht der Enquetekommission III „Bewertung der Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte in Nordrhein-Westfalen unter den Bedingungen der Schuldenbremse und des demografischen Wandels in der Dekade 2020 bis 2030“ gemäß § 61 Absatz 3 der Geschäftsordnung, Drucksache 16/9500 zu dem Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 16/2133 (Neudruck)
Eine Anmerkung vorab: Mit Enquetekommissionen ist das ja so eine Sache. Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft sollen sie sein und sich an der Zukunft und weniger am parteipolitischen Kleinklein orientieren. Deshalb darf ja auch jede Fraktion einen Sachverständigen benennen, der kein parlamentarisches Mandat hat, in der Enquete jedoch voll stimmberechtigt ist. Des Weiteren sollen diese Enquetes möglichst konsensorientiert arbeiten. In dieser Kommission war das jedoch trotz allen Bemühens nicht möglich. Jede(r), der sich dafür interessiert, kann sich den Abschlussbericht herunterladen: Drucksache 16/9500
Ab Seite 251 – pdf-Zähler, nicht Seitennummerierung – finden sich die beiden großen Sondervoten der Piratenfraktion und des von den Piraten benannten Sachverständigen, des Volkswirten Prof. Dr. Heinz-Josef Bontrup.
Mein Dank gilt zunächst unserer Referentin, der Volkswirtin Elisabet Paskuy und meinen Abgeordnetenkollegen Dietmar Schulz und Torsten Sommer, die letzte Inputs für die Abfassung unseres Sondervotums gegeben haben. Einen Kurzabriss enthält meine Rede zum Abschlussbericht.
Aus dem Plenarprotokoll ->
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Hafke. – Für die Piraten spricht jetzt Herr Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen lieben Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Raum und zu Hause! Ich bin heute in friedvoller Stimmung, und als Erstes möchte ich mich ganz ausdrücklich bei den Kommissionsmitarbeitern des Landtags bedanken, die der Enquetekommission effizient und geräuschlos zugearbeitet haben. – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN, der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)
Mein Dank gilt bei allem Dissens auch den Sachverständigen und den Kommissionskollegen der anderen Fraktionen. Ich habe in den zwei Jahren viel von euch gelernt – manchmal sogar, wie man es nicht macht. – Danke.
(Beifall von den PIRATEN)
Besonders hervorheben möchte ich aber Ihre Kommissionsleitung, sehr geehrte Frau Birkhahn, liebe Astrid.
(Zurufe von der CDU: Oh!)
Ich weiß, Sie hatten es nicht leicht mit uns Piraten. Ihre Moderationskompetenz wurde durch ein zugegeben immer wieder insistierendes Verhalten dann und wann auf eine sehr harte Probe gestellt – zum einen von mir, zum anderen von unserem sehr geschätzten Piraten-Sachverständigen, Herrn Prof. Dr. Heinz-Josef Bontrup. Was bleibt einem Wissenschaftler, einem gestandenen Volkswirt, angesichts eklatanter, selbstauferlegter Denkverbote aber auch anderes übrig, als renitent zu werden?
Sie haben es in Ihren einführenden Worten selber gesagt, Frau Birkhahn: Die Kommission hat eine Best-case-Annahme gemacht, nämlich die, die Schuldenbremse einzuhalten. Ich würde von einer Enquetekommission, in der sich Politik und Wissenschaft treffen, erwarten, dass man die Randbedingungen, die für die Behandlung eines Sachverhaltes wichtig sind, auch ein Stück weit variiert. Sonst wird der Zusammenhang – die Kurve dazwischen – irgendwie beliebig. Ich bin nur ein kleiner dummer Naturwissenschaftler, aber ich habe es so gelernt, dass man die Randbedingungen mit diskutiert.
(Marcel Hafke [FDP]: Sie hätten ja einen Vorschlag machen können!)
– Das haben wir ja gemacht. Er wurde abgelehnt: Die Schuldenbremse wird gehalten. Variieren ist notwendig, Herr Hafke.
(Beifall von den PIRATEN – Marcel Hafke [FDP]: Das steht in der Verfassung!)
– Ja, gut, das Grundgesetz ist aber kein Naturgesetz, und es gibt Zusammenhänge in dieser Welt, die sich uns nicht erschließen. Deshalb müssen manche Dinge vielleicht einmal in den Blick genommen werden – gerade von einer zukunftsorientierten Kommission.
Es wurde ja auch verwiesen, und in der Verfassungskommission wird das ja auch parallel diskutiert, aber dort diskutieren leider nur Juristen.
Mir kam es ein bisschen so vor – Sie werden sich vielleicht noch erinnern – wie im „Leben des Galilei“ von Bert Brecht, wo sich die Kleriker des Vatikans weigern, einen Blick durch das Fernglas zu werfen. Stattdessen kaprizierte man sich ein bisschen auf das, was nicht sein darf. Markttheologen verdammen Staatsschulden!
(Britta Altenkamp [SPD]: Selbstüberschätzung!)
Die zweite Randbedingung: der demografische Wandel. Herr Schmitz, Sie haben es gerade gesagt: „Der demografische Wandel kommt, aber er lässt sich nicht voraussagen“ – wortwörtlich.
(Hendrik Schmitz [CDU]: Ja!)
Lange bevor der IT.NRW-Bericht kam, hatten wir den renommierten Mathematiker und Sachverständigen Gerd Bosbach, Professor der Mathematik, eingeladen, der noch einmal ganz explizit methodisch auf Stolperfallen in statistischen Voraussagen hingewiesen hat. Das wurde in den Wind geschlagen. Dadurch – das finde ich für uns alle ein bisschen schade – ist Zeit für die Kommission verloren gegangen, die man ein bisschen anders hätte verwenden können.
Man hätte sich beispielsweise noch intensiver mit dem auseinandersetzen können, was hier immer „digitaler Wandel“ genannt wird. Ich finde das ein bisschen schräg und möchte uns allen ein neues Wording vorschlagen. Wenn wir geschichtlich von der industriellen Revolution sprechen und jetzt vom digitalen Wandel, dann ist das wie Wattebäuschchenwerfen. Dazu sind wir nicht verpflichtet.
(Christian Möbius [CDU]: Machen Sie mal einen Vorschlag!)
– “Digitale Revolution“ ist das richtige Wording, nicht „Wandel“.
(Matthi Bolte [GRÜNE]: Hat ja noch nie jemand benutzt!)
Wir wissen aus der Betrachtung: Die Einwohnerzahl von Nordrhein-Westfalen wird ab jetzt bis 2025 um ein knappes Prozent zunehmen. Das sind die Zahlen von IT.NRW, die Flüchtlinge noch nicht mitgerechnet.
Gerade was die digitale Revolution angeht, ist es nicht zu einer ganzheitlichen Betrachtung gekommen, die wir Piraten so gerne befürworten, sondern eher zu einer – so sage ich es mal – neoliberalen Renditeromantik. Das war nicht so schön.
(Ralf Witzel [FDP]: Oh!)
Aber glücklicherweise wird die fehlende Betrachtung zumindest teilweise durch das Sondervotum von Herrn Bontrup ersetzt.
(Zuruf von Ralf Witzel [FDP])
Sehr geehrter Herr Finanzminister Norbert Walter-Borjans, Sie sind naturgemäß der erste Adressat der vielen Adressaten des Kommissionsberichts. Die Enquetekommission hat festgestellt – im Übrigen über alle Querelen hinweg; das ist durch die anderen Reden ja auch zum Ausdruck gekommen –, dass das Land NRW massiv unterinvestiert ist. Die Investitionsquoten – sowohl die investive als auch die konsumtive – sind strukturell zu niedrig.
Ich bin kein großer Freund der Bertelsmann Stiftung, im Gegenteil, aber von da kam eine Studie, die besagte, dass in diesem Jahr in NRW 3.500 Lehrer fehlen. Wie dem auch sei, auch Sie, Herr Finanzminister, gehen davon aus – Sie haben gestern sehr vorsichtig gesagt, Sie werden 2019 nicht aus dem Blick nehmen; das kann man ja immer sagen –, dass die Steuereinnahmen weiter sprudeln werden und dass die Zinsen niedrig bleiben. Das ist auch eine Form von Best-case-Politik.
In dem Zusammenhang möchte ich mit Ihnen mal einen Blick über den nordrhein-westfälischen Tellerrand werfen: In den letzten Wochen hat die chinesische Volkswirtschaft zweimal kräftig gehustet. Was, wenn daraus eine Lungenentzündung wird? Mit Sicherheit – das können wir ohne große Vorhersagekenntnisse sagen – werden die phänomenalen Wachstumsraten der letzten Jahre in China nicht zu halten sein.
Wie sollen dann hier – Stichwort „Export“, Deutschland und NRW hängen ja am Export wie ein Schwerverletzter am Infusionstropf – die Wachstumsraten gehalten werden, auch vor dem Hintergrund, dass das weltweite Finanzkapital mit einem Volumen von 3,5 bis 4 größer als die Realwirtschaft seine Renditeansprüche geltend macht und nach Investitionsmöglichkeiten sucht?
Sie, Herr Finanzminister, müssen bis 2019 – verfassungsrechtlich abgesichert – ein ausgeglichenes Budget vorlegen. Hand aufs Herz: Wie wollen Sie das machen? Wir brauchen eine expansive Finanzpolitik. Ich greife nur eine Handlungsempfehlung, die sowohl im Piratensondervotum als auch in dem unseres Sachverständigen steht, heraus: Eine baldmöglichste Wiedereinführung der Vermögensteuer …
(Ralf Witzel [FDP]: Wer soll das denn bezahlen, was Sie alles fordern?)
– Herr Witzel, lassen Sie mal die Renditeromantik. Hören Sie mal zu, dann können Sie noch was lernen.
(Henning Höne [FDP]: Nicht von Ihnen!)
Ich bin im Endeffekt ganz froh über den Kommissionsbericht, denn durch die beiden Sondervoten wird er eigentlich doch noch rundgemacht. Ich wünsche allen Beteiligten viel Spaß beim Lesen und bedanke mich aufs Schärfste für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall von den PIRATEN)
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Dr. Walter-Borjans.