Meine erste Rede zu TOP 1 am Donnerstag, den 21. April 2016 zur Aktuellen Stunde – Schwache Wirtschaft in den NRW-Regionen, Einbruch der Industrieproduktion, Nullwachstum, Wirtschaftskrise – Sprach- und strategielose Landesregierung gefährdet Zukunft des Wirtschaftsstandorts Nordrhein-Westfalen
Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der FDP
Drucksache 16/11754
in Verbindung damit
Wirtschaftliche Entwicklung in Nordrhein-Westfalen. Rot-Grün muss Alarmsignale endlich zur Kenntnis nehmen und in der Wirtschaftspolitik grundlegend umsteuern
Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der CDU
Drucksache 16/11755
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Sundermann. – Für die Fraktion der Piraten spricht jetzt Herr Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Zuschauer! Ich muss schon sagen, Herr Laschet, Herr Lindner: Das war wirklich beein-druckend – ich glaube, bei Kraftfahrzeugen nennt man das Spurtreue –, wie Sie völlig strin-gent in Ihrer Argumentation der wirtschaftspolitischen „Gesäßgeografie“ des 19. Jahrhunderts folgen. Gratuliere. Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN – Zurufe von der CDU: Oh! Oh!)
Und das im Informationszeitalter! Das kann man machen. Wohin das allerdings führt, darüber möchte ich nicht spekulieren.
(Zuruf von der CDU: Das sind die Linken! – Unruhe)
– Ja, das mit den Linken sind diese klassischen Schemata. Sie beweisen das ja gerade wie-der: Lineardenken.
Landtag 21.04.2016
Nordrhein-Westfalen 12 Vorläufiges Plenarprotokoll 16/111
Von der Rednerin/vom Redner nicht autorisiert – Nur zur Vorabinformation bestimmt
N i c h t z i t i e r f ä h i g !
Alle alten Strukturen der Industriegesellschaft sind daran zu zerfallen. Und ihre Kadaver ver-pesten die Luft.“
(Zuruf von der CDU: Oh! Oh! – Weitere Zurufe von der FDP)
Diesen Satz sagte der Medienphilosoph Vilém Flusser 1991 auf der CULTEC-Tagung in Es-sen.
(Zurufe von der CDU und der FDP)
Vor diesem Hintergrund müssen wir den dieses Land beutelnden Strukturwandel nicht als Entschuldigung, sondern auch als Chance begreifen. Da ich hier als Opposition mein Geld verdiene, kann ich die Landesregierung natürlich nicht loben. Ich bin mir allerdings relativ sicher, sie hätte mehr getan, wenn mehr Kohle zur Verfügung gestanden hätte.
(Heiterkeit von der CDU)
Es stellt sich natürlich die Frage, woran das liegt.
(Zurufe von der CDU)
Auf jeden Fall sind wir in Nordrhein-Westfalen im Krisenmodus angekommen. Es steigt auch so ein bisschen die Panik. Alle wissen: Eine mausgraue Wirtschaftspolitik fällt nicht auf, so-lange die Konjunktur läuft. Aber spätestens jetzt wird allen klar: Der Landesregierung gebricht es an Ideen und Gestaltungswillen, wie eine effektive Wirtschaftspolitik aussehen könnte, die tatsächlich allen Menschen in unserem Land zugutekommt.
Was wir also brauchen, ist eine ehrliche Analyse. Der Krisenmodus ist allerdings kein guter Ratgeber für ehrliche Analysen. Zu diesem Fazit muss man auch kommen, wenn man sich die Erklärungsversuche der Landesregierung anschaut, warum Nordrhein-Westfalen wirt-schaftlich stagniert. Da werden alle möglichen Interpretationen angeboten, und die Landes-regierung hätte damit nichts zu tun. Doch, sie hat etwas damit zu tun. Denn auch mit dem Geld, das zur Verfügung steht, kann man die Weichen richtig stellen.
Letzte Woche waren die Stahlarbeiter in Duisburg auf der Straße, um für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze zu demonstrieren. Das ist absolut legitim und nachvollziehbar. Aber dass sie das tun, liegt auch daran, dass bis heute keine ausreichenden wirtschaftlichen Alternativen vorliegen. Daran ist die Landesregierung nicht ganz unschuldig.
Die Landesregierung muss diesbezüglich endlich raus aus der comfort zone. Sie muss dahin, wo es wehtut. Dazu gehören die schmerzhaften Einsichten: Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes in Nordrhein-Westfalen liegt unter dem Bundesdurchschnitt. Nordrhein-Westfalen ist also nicht mehr das Herzland der Industrie. Das muss man einmal auf sich wirken lassen. Ich glaube nicht, dass die meisten das hier nachvollzogen haben.
Bei der Energiewende gibt man sich immer noch mit den Illusionen ab, der Braunkohleabbau hätte noch eine gewisse Zukunft vor sich. Dabei wissen wir alle doch längst, dass der Ausstieg schneller kommt, ja schneller kommen muss, als manchem lieb ist. Statt den Bürgern die unschöne Wahrheit zu sagen, ihnen reinen Wein einzuschenken, wird einfach weitergemacht. Aber die Zeiten ändern sich.
Landtag 21.04.2016
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Es geht auch um Vertrauen. Welches Vertrauen sollen die Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltungsfähigkeit der Politik haben, wenn schon der alte Strukturwandel zu Massenar-beitslosigkeit geführt hat? Mit diesem Ergebnis wirbt man nicht für den neuen Strukturwandel und das damit Anpacken, wie Herr Laschet das so schön mit seinem „Mondfahrtprogramm“ gerade gesagt hat. Ich hatte einiges vergessen. Die Geschichtsvorlesung war schon beein-druckend.
(Heiterkeit von den PIRATEN)
Man braucht Vertrauen. Dieses Vertrauen muss erst wieder erarbeitet werden. Das hat die Landesregierung zurzeit nicht. Das muss man einfach konstatieren, wenn man mit den Men-schen draußen spricht.
Die Gründungsquote von Start-ups in Nordrhein-Westfalen ist unterdurchschnittlich. Das ist auch ein Stück weit in der Verantwortung der Landesregierung. Die Leute wollen wissen, wie es weitergeht. Was gilt es zu tun? Brauchen wir etwa mehr angebotsorientierte Wirtschafts-politik? Müssen der Umweltschutz zurückgeschraubt, Standards gesenkt und Unternehmen entlastet werden, damit es in Nordrhein-Westfalen wieder gut geht?
(Zuruf von der FDP: Genau!)
Ich möchte von Ihnen einmal eine Rechnung haben. Rechnen wir einmal das Tariftreueverga-begesetz in Wirtschaftswachstumspunkte um. Die Rechnung will ich von Ihnen sehen.
(Zurufe)
Das ist Klein-Klein aus dem 19. Jahrhundert, was ihr da macht. Das ist auch nicht zukunfts-fähig. Das geht völlig an der Realität vorbei.
(Beifall von den PIRATEN)
Wir haben zurzeit gute Rahmenbedingungen. Die Zinsen sind niedrig, der Ölpreis auch. Wo-ran es mangelt, sind Investitionen und nicht zuletzt öffentliche. Zu diesem Ergebnis kommen auch unter anderem die OECD und das Bundeswirtschaftsministerium. Es war ein Fehler der letzten zwei Jahrzehnte, von der Substanz zu leben und den Fokus allein auf die Staatsver-schuldung zu richten, statt die kaputtgehende Infrastruktur als Schulden für die nächsten Ge-nerationen nicht mit in die Rechnung einzubeziehen. An dieser Rechnung ist Schwarz-Gelb nicht unbeteiligt.
(Beifall von den PIRATEN – Zuruf von der FDP)
Es gibt viele Beispiele für volkswirtschaftliche lohnende Investitionen; Herr Sundermann hat es in seiner Rede kurz angerissen, die Bildung zum Beispiel. Nicht zuletzt Schulen, auch berufsbildende Schulen sowie Hochschulen sind fit für die Informationsrevolution zu machen.
Aber auch eine wirkliche Investitionsoffensive in Glasfasernetze bringt das Land voran. Da die geförderten Netze in kommunaler Hand verbleiben, können sie verpachtet werden und würden in der Zukunft Einnahmen abwerfen. So geht vorausschauende Wirtschaftspolitik.
(Beifall von den PIRATEN)
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Von der Rednerin/vom Redner nicht autorisiert – Nur zur Vorabinformation bestimmt
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Die Kommunen leiden jetzt, weil sie Anteile an STEAG und RWE und den überholten Kohle-geschäften übernommen haben, die inzwischen kaum mehr Dividenden abwerfen. Das ist natürlich ein Problem.
(Michele Marsching [PIRATEN]: Gar keine mehr!)
– Gar keine mehr? Oh! Damit verringert sich natürlich auch der kommunale Spielraum für Zukunftsinvestitionen. Statt aber vorauszuschauen und die Energiewende ernst zu nehmen, wird hier von, ich glaube, fast vier Fraktionen wieder in den alten Strukturen des 19. Jahrhun-derts gedacht. Und das wird katastrophale Folgen zeitigen.
(Zuruf von der CDU: Des 18. Jahrhunderts!)
De facto ist das Land immer noch auf der Suche nach Alternativen zu Kohle und Stahl. Was wir brauchen, sind ein paar kräftige und zugfähige Zukunftsvisionen. Warum eigentlich wird der Tesla nicht in Nordrhein-Westfalen gebaut?
(Zuruf von Dr. Stefan Berger [CDU])
Das Land und die Menschen haben ein irrsinniges Potenzial. Ich werde in meinem zweiten Beitrag nachher noch etwas dazu ausführen. Schließlich soll man am Ende immer konstruktiv sein. – Zunächst vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall von den PIRATEN)
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Herr Kollege Priggen.
Die zweite Rede
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Priggen. – Für die Piraten spricht Herr Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank. – Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Jetzt ist wieder der Marxist dran. Buh!
(Heiterkeit und Beifall von der SPD und den GRÜNEN)
Wer wissen will – einmal ganz kurz in eigener Sache –, wo ich ideologisch stehe, der muss bei Vilém Flusser oder Gotthard Günther nachlesen. Dann wird er feststellen: Da werden Marx wie auch liberale Gestalten ganz sauber abgehandelt. Die Realität und die Zukunft liegen jenseits von dem, was Marx erarbeitet hat und was die Liberalen aufgearbeitet haben. Schreibt euch das einmal hinter die Ohren!
Offensichtlich habt ihr nicht mitgekriegt – obwohl Herr Laschet ja vorhin sehr eindrucksvoll die US-Raumfahrt geschildert hat –, was in den USA auch wissenschaftspolitisch und ideologisch seit den 50er-Jahren im Hintergrund passiert ist.
(Zurufe von der FDP)
Das solltet ihr euch einmal hinter die Ohren schreiben.
Mein alter Freund Michael Geoghegan ist Knowledge-Hunter – so etwas gibt es in Amiland –, und zwar bei DuPont Chemical. Er hat neulich am Telefon herzlich gelacht, als ich ihm von Frau Freimuth erzählt habe, die der Meinung ist, dass die Großunternehmen zu den Feindbil-dern von Herrn Paul gehören. – So viel dazu.
Ich hatte vorhin angekündigt, ich wolle ein bisschen konstruktiv werden, und möchte auf …
(Christof Rasche [FDP]: Alle fünf Jahre einmal!)
– Ach, Herr Rasche. Herr Rasche, im Gegensatz zu Ihnen war ich schon im Stahlwerk. Um Muckis zu bekommen, muss ich nicht in die Bude.
Im letzten Sommer waren wir mit dem Hochschulausschuss zu einer auswärtigen Sitzung in Jülich. Frau Ministerin Schulze war auch da. Wir hatten die Gelegenheit, ein längeres Gespräch mit dem aktuellen Chef von Jülich, Herrn Prof. Marquardt, zu führen – ein überaus kluger Kopf. Gespräche mit ihm sind absolut bereichernd. Vor dem Hintergrund der Schließung des letzten Batteriezellenwerks in Deutschland von Daimler entwickelte sich dort eine Diskussion, bei der Herr Marquardt geschildert hat, wie er sich in Zukunft Forschungs- und Wirtschaftsförderung vorstellt. Jülich ist nämlich im Bereich der Energiespeichertechnik und im Bereich der Computerspeichertechnik – Stichwort „Memristor“ – weltweit ziemlich vorne dabei. Er sagt: Man muss, um Abwanderungen von solchen Hightechunternehmen zu verhindern – und das ist die Chance für unser Land –, Forschungsförderung von der Grundlagenforschung bis zur fertigen Produktionsstraße denken. Sonst geht das nicht.
Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel aus dem Bereich Software. Wer glaubt, dass Siri – diese KI, die die blöden Fragen beantwortet – eine Entwicklung von Apple ist, der irrt sich. Das ist mit US-amerikanischer staatlicher Förderung entwickelt worden, und Apple hat es dann umgesetzt.
Das sage ich nur einmal als Beispiel dafür, wie man das macht, damit nicht dasselbe passiert, was die liberale Freundin Maggie Thatcher in ihrer Regierungszeit gemacht hat, die den einzigen europäischen Prozessorhersteller, Inmos in Aberdeen, zugrunde gerichtet hat, weil sie ihm die weitere Förderung versagt hat. Er war damals beim Umsatz durch Prozessorverkauf weltweit an dritter Stelle und konnte nicht weitermachen. Wer sich jetzt einmal im Internet die Seite von Inmos anguckt, sieht: Die Leute haben für ihr Unternehmen gebrannt.
(Christian Lindner [FDP]: Frau Thatcher ist keine Liberale, sondern Konservative!)
– Ja. Die Art und Weise, wie sie Politik gemacht hat, ist letztlich kein großer Unterschied zu Ihren Vorschlägen, Herr Lindner.
(Christian Lindner [FDP]: Nein, überhaupt nicht! – Weitere Zurufe)
– Danke. Das machen wir dann gelegentlich mal beim Bier.
(Christian Lindner [FDP]: Oberlehrer!)
– Ja, ab und zu. – Ich möchte an der Stelle noch einmal auf Folgendes hinweisen: Woher soll die Kohle denn kommen, wenn man bis zur fertigen Produktionsstraße fördert? Ich sage jetzt noch einmal: Buh! Vermögensteuer! Die Kohle für Investitionen fehlt ja hier im Land.
(Ralf Witzel [FDP]: Nur kassieren können Sie!)
Die Kohle fehlt hier.
(Zurufe von der FDP)
Wer sich einmal – das ist ja die übliche, klassische neoliberale Lüge und auch die FDP-Lüge, eigentlich die Monsterlüge –
(Armin Laschet [CDU]: Monsterlüge?)
die Vermögensverteilung in Deutschland anguckt, muss ja konstatieren, dass das obere Dezil – also die 10 % Vermögendsten – über 60 % des Gesamtvermögens verfügt.
(Zuruf von Christof Rasche [FDP])
Dann kommt immer das Argument: Wenn man das besteuert, geht das aber an die Betriebsvermögen. – Herr Lindner, wissen Sie, wie viel von diesen 60 % Betriebsvermögen sind? 1 %! Ein einziges armseliges Prozent! Aber Sie kommen dann immer mit dem Argument: Der Oma wird ihr Häuschen weggenommen – oder sonst irgendwas.
(Zuruf von Christian Lindner [FDP])
Wir haben auch hier ein Internetministerium, ein digitales Ministerium, vorgeschlagen, um diese Dinge zu koordinieren, gerade was den Bereich der Innovationen angeht. Dem ist seitens der Landesregierung leider nicht Folge geleistet worden. Da würde ich mir noch ein bisschen mehr Anpacken wünschen. Aber ich weiß, dass wir dafür letztlich Investitionen brauchen. Dann ist die Frage zu stellen, woher die Kohle kommen soll, Herr Duin. Da müssen wir irgendwann auch einmal reinen Wein einschenken. So geht es nicht weiter. Sonst ist die Kohle bald komplett in Panama oder auf den Jungferninseln oder sonst wo. – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN)
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Der Minister hat sich noch einmal gemeldet. Bitte schön.