Meine Rede zu TOP 1 am 26. Januar 2017 zur Unterrichtung duch die Landesregierung „Starke Forschung, starkes Land – Forschungsland NRW“
Anmerkung: Daraus ist eine zweiteilige hochschul- und forschungspolitische Grundsatzrede geworden, die unsere Piratenpositionen noch einmal deutlich macht. Wesentliches dreht sich – auch systemisch – um die Aspekte Wissenschaftsfreiheit, Kreativität und Innovation.
Der Chef der Staatskanzlei hat mit Schreiben vom 17. Januar dieses Jahres mitgeteilt, dass die Landesregierung beabsichtigt, zu dem genannten Thema zu unterrichten. – Die Unterrichtung erfolgte durch Frau Ministerin Schulze.
Aus dem Plenarprotokoll:
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Dr. Seidl. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Kollege Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank. – Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Nach längerer Zeit haben wir nun eine erste Unterrichtung der Landesregierung zum Forschungsland NRW gehört.
Ja, zugegeben, es ist grundsätzlich schwierig für die Opposition, vor dem Hintergrund von jährlich und stetig steigenden Hochschuletats selbst in haushalterisch kniffligen Zeiten – oh, Schuldenbremse, du meine Zukunftsbremse – ihre Punkte zu setzen, und die Zeit von 2005 bis 2010 wird ja als Pinkwarterium in die hochschulpolitische Landesgeschichte eingehen.
(Zurufe von der FDP: Oh!)
Dennoch, nicht nur pro Kopf gerechnet bleibt der Hochschuletat immer noch weit hinter einer auskömmlichen Finanzierung zurück. Wir erkennen aber ausdrücklich das Bemühen der Landesregierung und von Frau Schulze und ihrem Ministerium um unser Forschungsland NRW und unsere Hochschulen an. Ganz besonders anerkennen wir, dass unsere Hochschulen und Forschungsinstitute und die dort arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Studierenden und die Angehörigen des sogenannten Mittelbaus – sofern vorhanden, muss man sagen – wirklich spitze sind und auch international gesehen Bahnbrechendes leisten, oft unter schwierigen Bedingungen und fernab wirtschaftlicher Sicherheiten.
Es muss noch einmal daran erinnert werden, dass Nordrhein-Westfalen mit seinen 70 Hochschulen und 50 Forschungsinstituten die dichteste Hochschullandschaft der Welt ist. Das beinhaltet nicht nur Chancen, es ist auch ein ganz klarer Auftrag an die Politik. Lassen Sie mich daher hier einmal grundsätzlich werden und die Frage stellen:
Wird die Politik dem gesellschaftlichen Anspruch an eine erfolgreiche Wissenschaft wirklich gerecht? Denn wir sind heute vor dem Hintergrund der globalen Probleme wie zum Beispiel dem Klimawandel, den weltweiten Flüchtlings- und Migrationsbewegungen, der drohenden Energie- und Ressourcenknappheit, des katastrophalen Versagens unserer Wirtschaftsmodelle und dem Umbruch ins Informationszeitalter vielleicht mehr als jemals zuvor in unserer Geschichte auf unsere Hochschulen als gesellschaftliche Denk- und Zukunftslabore angewiesen, und das auch vor dem Hintergrund, dass der gesellschaftliche Konsens über die Wichtigkeit der wissenschaftlichen Rationalität gerade in den westlichen Industrienationen zu bröckeln beginnt.
Art. 5 Abs. 3 unseres Grundgesetzes schreibt die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre als unveräußerliches Individualrecht fest. Diesem Individualrecht ist jedoch durch die hochschulpolitische Praxis in der Bundesrepublik in den letzten 25 Jahren und auch anderswo ein großer Schaden zugefügt worden.
Hier mal ein Beispiel aus der FuE-Produktentwicklung, weil es dort besonders deutlich wird:
Auf einer Parlamentarierreise nach China im Oktober 2015 besuchten wir auch die Niederlassung deutscher Unternehmen in China. Besonders beeindruckend fand ich einen Besuch beim Lippstädter Kraftfahrzeugbeleuchter HELLA in Nanjing, ohne Zweifel ein Unternehmen von Weltrang. HELLA betreibt in China neben der Produktion auch Forschung und Entwicklung mit interkulturellen deutsch-chinesischen Ingenieurteams. Man stellt sich bei HELLA bewusst international auf und ist der Auffassung, dass über kurz oder lang auch in China das entsprechende Know-how heimisch wird und nicht nur die nach Fernost ausgelagerte Produktion.
Unsere SPD-Kollegin Heike Gebhard – ich bin der Heike heute noch unendlich dankbar dafür – fragte einen HELLA-Manager, ob es denn Unterschiede zwischen den chinesischen und den deutschen Ingenieuren gebe. Er antwortete, dass die chinesischen Ingenieure den deutschen in Sachen Fachwissen und Know-how zwar in nichts nachstünden, dass aber die kreativ-technische Problemlösekompetenz bei den deutschen weitaus besser entwickelt sei. Er führte diesen Vorsprung nicht auf kulturelle oder Mentalitätsfragen zurück, sondern in erster Linie auf die starke Verschulung an den chinesischen Hochschulen.
Und was machen wir an unseren Hochschulen gerade? – Modularisieren, Verschulen, Vermessungs- und Evaluierungswahn, Kennzahlenakrobatik. Na super! Um das richtigzustellen: Mir geht es hier nicht etwa um die Aufgabe eines möglichen Produktivitätsvorsprungs gegenüber China, sondern um die prinzipielle Aufgabe einer Kreativitätskultur, die für uns Menschen insgesamt wichtig ist und, wie ich glaube, wichtiger werden wird.
Die Verschulung ist nur ein dunkler Schatten von Bologna. Den anderen heben nicht wenige Hochschullehrer hervor, die die mangelnde Persönlichkeitsbildung im Rahmen der beschleunigten Bachelor- und Masterstudiengänge kritisieren. Dieter Lenzen, der Rektor der Uni Hamburg, spricht sogar von der Bologna-Reform als einen „Unfall mit politischer Fahrerflucht“. Kreativität und Innovation sind Dinge, die sich nämlich weit jenseits jeglicher Messbarkeitsfragen ereignen.
Besonders deutlich wird das am Beispiel des japanischen Roboterforschers Isao Shimoyama. Er grübelte in den 90er-Jahren über Miniaturroboter nach zum Thema „Kanal- und Kabelreinigung“, damit man zum Beispiel nicht immer die Straße aufreißen muss. Er hatte das Problem, dass die dünnen Achsen der Drehgelenke dauernd durchschmorten. Das Problem schien unlösbar.
Eines Abends beobachtete er zu Hause seine Frau beim traditionellen japanischen Origami, diesem Falten von kleinen kunstvollen Objekten aus Papier. Das brachte ihn von Rädern und Achsen ab auf einen völlig neuen Denkweg: Knickgelenke.
Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll: Innovation kommt häufig aus dem Umfeld, aus der persönlichen Ökologie des Forschers und eben nicht immer aus Drittmittelunternehmen oder dem eigenen Labor. Es zeigt ganz besonders etwas, was in unserer westlichen Kultur verlorengegangen ist. Denn in diesem Beispiel von den Knickgelenken vereinigt sich das alte griechische Wort „Techne“, was auch Kunst, Kunstfertigkeit und Handwerk meint, mit unserem Wort „Technik“, abgeleitet aus „Techne“, bei dem die ursprüngliche Bedeutung ein wenig verlorengegangen ist.
Ein solches Entstehen von Kreativität können Politik und Wirtschaft nicht planen, sondern nur den bestmöglichen Rahmen schaffen. Ideen entziehen sich jeglicher Planung.
Ein weiteres Beispiel, das Ihnen vielleicht schon bekannt ist: Als Chester Charlson und Otto Kornei ihr Fotokopierverfahren entwickelten, begann das Klinkenputzen und die Suche nach Investoren. General Electrics sowie weitere 18 Unternehmen sagten ab. IBM ging besonders klug vor und beauftragte die renommierte Unternehmensberatung Arthur D. Little, eine Marktabschätzung für Fotokopierer vorzunehmen. Und ADL prognostizierte einen Bedarf von 5.000 Kopierern für die gesamte USA. – IBM nahm daher Abstand von dem Geschäft.
Man kann sich nur vorstellen, wie IBM-Manager 20 Jahre später in Armonk reihenweise in die Tischkanten gebissen haben, als Rank Xerox einen Börsenwert von über 2 Milliarden € US-Dollar aufwies.
Ein weiterer Punkt ist Kommunikation und Vernetzung. Auch da zeigt sich: Hochschulen sind keine Unternehmen und sind nicht als solche zu behandeln. Diejenigen, die in Forschung und Wissenschaft unterwegs sein wollen, sind sich sehr wohl im Klaren über die sensible dialektische Beziehung – das wird im Englischen besonders deutlich – zwischen Cooperation and Competition.
Ein Silberstreif am Horizont – das ging neulich durch die Presse –: Selbst die Firma Apple hat mittlerweile kapiert, dass es nichts bringt, die eigenen künstlichen Intelligenzforscher hinter verschlossenen Türen zu halten. Ideen und Innovationen brauchen einen öffentlichen Austausch und Kommunikation.
Hier in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen wird gerankt und „gekennzahlt“, vermessen und bewertet, dass die Schwarte kracht. Und das CHE, dieser hochschulstrategische Kuhfladen, der immer wieder versucht, sich als Elitedelikatesspizza zu verkaufen, steht dabei in der ersten Reihe.
(Zuruf von Dr. Stefan Berger [CDU])
Die Wissenschaft muss sich fragen: Welches Mandat haben die eigentlich? Und sie tut das auch wie zuletzt der Historikerverband und die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, die diese Rankingverfahren grundsätzlich ablehnen.
Im Sport ist das klar. Da gibt es zum Beispiel beim Hundertmetersprint in der Leichtathletik den Starter mit der Pistole und die Zeitnehmer am Zieleinlauf – heute Elektronik.
Hochschulen auf der Sprintstrecke? Nur ja nicht die Bahn verlassen – denken Sie an die Knickgelenke! –: Wo bleibt da die Wissenschaftsfreiheit? – Hier wird mehr über Anträge und Drittmittel diskutiert als über wissenschaftliche Inhalte.
Ich möchte einmal etwas länger den leider 2005 verstorbenen Bonner Hirnforscher von Weltruf, Detlef Linke, aufrufen und aus seinem überaus feinen Buch „Die Freiheit und das Gehirn“ zitieren:
„Ich will auch nicht darüber klagen, dass in der Öffentlichkeit von Wissenschaftsfunktionären die Wissbegierde als Antrieb der Forschungsentwicklung genannt wird, obwohl die Forschung immer mehr nicht an den Ergebnissen, sondern an den eingeworbenen Geldmitteln gemessen wird. Man fragt nicht nach den Ergebnissen der Forschung, sondern nach dem Startkapital (z. B. eineinhalb Millionen Euro für ein Großgerät). Doch darüber will ich mich gar nicht beklagen.
Wenn man den Umschlag von Wissenschaft in reine Quantifizierung und dies vor allem bei den verwendeten Geldmitteln beschreiben will, wäre es angemessen, die ironische Haltung von Douglas Adams einzunehmen, der die Frage, was der Sinn des Universums sei, mit der Zahl 42 beantwortete. Diese Quantifizierung wird mit der Messung von Impaktfaktoren, das heißt mit der Messung von Faktoren, die die Verbreitung von Publikationen bemessen, vorangetrieben: Am Schluss steht immer eine Zahl.
Meine Problematisierung richtet sich auf einen anderen Bereich. Es geht mir um den angestrengten Optimismus, den Wissenschaftspolitik zu bewahren sucht und dabei große Verkrampfungen erzeugt, die jenseits aller kreativen Haltungen sind. Neue Erkenntnisse entstehen oft aus Spielerei und fröhlichem Witz (man denke an Einstein) und auch aus der Fähigkeit, Wissenschaft selber zu ironisieren. Stattdessen glaubt man, für das viele investierte Geld ein ernsthaftes Gesicht bzw. gar eine saure Miene machen zu müssen.“
Weiter heißt es:
„Hierzulande wird, wenn Wissenschaft gefördert werden soll, erst einmal in Beton gegossen und über die Presse angekündigt. Der Wissenschaftsbetrieb erscheint dabei manchmal fast genauso verbissen wie das Lager der Wissenschaftskritiker. Will man Kreativität fördern, so sollten beide gemeinsame Lockerungsübungen machen.“
Ich füge dem Zitat hinzu: Diese Lockerungsübung sollte auch für die Wissenschaftspolitik gelten.
Problembewusst, aber locker, jenseits des Ranking- und Evaluierungswahns und für Kreativitäts- und Innovationskultur, das würde NRW sehr gut zu Gesicht stehen. Das sagen wir Piraten. Dann klappt es auch mit dem Nachbarn. Wir Piraten plädieren nämlich schon eine ganze Weile für eine neue Kommunikationskultur, beispielsweise dafür, unterschiede Szenen und Kontexte zusammenzubringen: Hacker- und Makerspaces mit Hochschulen und mittelständischen Unternehmen.
All das ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass heutzutage prinzipiell didaktisch aufbereitete Inhalte zu jeder Zeit an jedem Ort über das Netz verfügbar sind. Dann würde das Land als Ganzes zur Hochschule für Innovation werden, und Bürgerinnen und Bürger bekämen eine viel direktere Beziehung zu ihrer Wissenschaft und ihren Hochschulen. – Herzlichen Dank.
(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Paul. – Für die Landesregierung spricht Frau Ministerin Schulze.
Teil2:
Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Bell. – Für die Piratenfraktion hat sich noch einmal Herr Dr. Paul zu Wort gemeldet.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Ich hoffe, Sie glauben mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es mir nicht darum geht, das letzte Wort zu haben, sondern ich möchte einfach noch zwei Anmerkungen machen.
Zunächst an Herrn Dr. Berger: Teflon wurde 1938 von Roy Plunkett erfunden. Es gab zunächst keinerlei technische Anwendungen. Das Ganze entstand aus einer Spielerei dieses Chemikers und hatte mit Militärforschung nichts zu tun. Später ist es dann im Rahmen des Manhattan-Projektes genutzt worden. – So viel dazu.
Ich möchte noch auf folgenden Punkt eingehen: Im Sommer 2015 besuchte der Wissenschaftsausschuss Jülich. Eine gewisse Redundanz erhöht vielleicht auch die mentale Nachhaltigkeit. Herr Prof. Dr. Marquardt hat sich dort dezidiert zum Thema „Forschungs- und Entwicklungsförderung“ geäußert und dafür plädiert, die Förderung von der Grundlagenforschung bis hin zum fertigen Produkt über Universitäts-, Hochschul- und Wirtschaftsgrenzen hinweg quasi als Paket zu sehen, um tatsächlich auch in der Heimatregion, in der etwas Neues entwickelt oder entdeckt wird, zu einer wirtschaftlichen Nutzbarkeit zu kommen.
Das Risiko, solche Maßnahmen zu fördern, ist erst einmal nicht sehr groß. Denn wenn man in Einrichtungen forscht – wir sehen es am CERN; da geht es um Higgs-Bosonen oder was auch immer –, kommen als Seiteneffekt immer auch technisch nutzbare Dinge heraus, beispielsweise im Bereich der Supraleiter, die wirtschaftlich verwertbar sind. Daher ist es kein großes Risiko. Nur, diesem Risiko steht die vielleicht größte Innovationsbremse zu Beginn des 21. Jahrhunderts gegenüber. Das ist – ich sage es in aller Deutlichkeit – die Schuldenbremse. Schuldenbremse gleich Innovationsbremse!
(Beifall von den PIRATEN)
Ansonsten kann man nur sagen: Das, was Herr Prof. Marquardt vorschlägt – eine Kompaktheit von der Grundlagenforschung bis hin zum fertigen Produkt –, sollte man durchaus einmal strategisch durchdenken und vielleicht testweise auch umsetzen.
In dem Zusammenhang ist es vielleicht auch ganz wichtig, zu sagen: Jülich ist in zwei Bereichen, was den Erkenntnisgewinn angeht, weltweit ziemlich vorne. Das ist zum einen die Speichertechnik, bzw. es sind die Memristoren, die sogenannten Widerstände, die sich an den Strom erinnern, der zuletzt durch sie geflossen ist. Das ist zum anderen die Energiespeichertechnik. Wir sollten dieses Know-how nicht nur für Nordrhein-Westfalen nutzen. Ein gesamtgesellschaftlicher Nutzen für die Menschheit sollte nicht verschenkt, sondern gefördert werden.
Ich komme zum nächsten Punkt, der mir besonders wichtig ist: Vorhin bin ich ein bisschen auf die Ökonomisierungsdinge in der Forschungslandschaft bzw. der Wissenschaft eingegangen. Die hatten eine ganz katastrophale Folge, nämlich die Tatsache, dass die Vielfalt der speziell an den volkswirtschaftlichen Lehrstühlen diskutierten Modelle in den letzten Jahren erheblich zurückgegangen ist und dass mittlerweile die Überzeugung vorherrscht: Unternehmensschulden sind gut, und Staatsschulden sind schlecht.
Niemand versucht noch ernsthaft, in Kreisläufen zu denken, und das zu einer Zeit, in der sich das Denken in Kreisläufen – Stichwort „globale Probleme“ – als vielleicht wichtig und rettend herausstellen wird. Das nur noch einmal zur Erinnerung. – Herzlichen Dank. Schöne Mittagspause!
(Beifall von den PIRATEN – Michele Marsching [PIRATEN]: Das geht an die, die nicht da sind!)
Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Es liegen mir keine weiteren Wortmeldungen mehr vor.