Verfolgen wir einfach mal eine fast typische Diskussion zwischen einem Digitalisierungsbefürworter, einem Technologiefreund – sagen wir aus dem Silicon Valley, genannt B, und einem Digitalisierungskritiker, hier K für Kritik, die in Deutschland auch schon mal Kulturpessimisten genannt werden:
B: Die Digitalisierung wird uns insgesamt klüger und gedächtnisreicher machen, diese Erfindung dient sowohl unserem Verstand als auch unserem Gedächtnis.
K: Das muss man differenzierter sehen. Eine Person vermag vielleicht zu beurteilen, was zu den wirklich heute benötigten Fähigkeiten gehört, eine andere, was für Schaden einerseits und Vorteil andererseits es denjenigen bringt, die die Digitalisierung benutzen. Und Du hast gerade als Erfinder und aus bloßer Begeisterung das Gegenteil dessen gesagt, was die Digitalisierung bewirken wird. Denn sie wird bei den Lernenden das Vergessen bewirken, da sie nun ihr Gedächtnis vernachlässigen werden. Denn sie werden auf die Digitalisierung vertrauen, da ja dort schon alles gespeichert ist, anstatt sich selbst und unmittelbar die Wissensinhalte anzueignen. Deine Erfindung dient lediglich der bloßen Speicherung, nicht aber dem Gedächtnis. Und die Lernenden lernen nur einen schönen Schein, nicht aber die Sachen selbst und deren Verständnis. Und sie werden – nunmehr ohne LehrerInnen – glauben, dass sie Vieles wissen, sie sind jedoch in Wirklichkeit unwissend, da das innere Verständnis fehlt. Sie dünken sich kompetent, was aber herauskommt ist bloß Dünkel, die Einbildung, kompetent zu sein.
B: Aber die Digitalisierung wird Vieles klarer machen, sie wird uns dabei helfen, Dinge und Prozesse zu strukturieren, und wir müssen unsere Köpfe nicht mehr damit füllen und können uns im Gegenteil Wesentlicherem zuwenden.
K: Das Schlimme an der Digitalisierung, und darin unterscheidet sie sich nur wenig von anderen Technologien wie z.B. dem Druck – das Schlimme ist, ihre Inhalte suggerieren sowohl Lebhaftigkeit als auch Präsenz, die sich aber als Trug erweisen, denn wenn man digitalisierte Inhalte, egal ob Schrift, Bild, Film oder Ton etwas fragen will, so erzählen sie doch wieder nur dasselbe. Und ihre Inhalte sind jedermann zugänglich. Sie vermögen von sich aus nicht zu sagen, für wen sie bestimmt sind und für wen nicht.
Soweit der Ausschnitt aus einer für unsere Tage mehr oder weniger typischen Debatte auf einer x-beliebigen Podiumsdiskussion irgendwo in Deutschland mit Vertretern von Unternehmerverbänden, oder LehrerInnen, oder PolitikerInnen – oder, die sind echt neu, InfluencerInnen!!!
Der Punkt ist nur, ich habe mir erlaubt, die obigen Dialogfetzen leicht umzuschreiben, sie sind über 2000 Jahre alt und stammen aus dem Phaidros-Dialog von Platon, in dem Platon Sokrates natürlich nicht die Digitalisierung kritisieren ließ – woher auch -, sondern die Erfindung der Buchstaben und der Schrift!
Ein Text vermag nicht zu sagen, woher er stammt und für wen er bestimmt ist – die Schrift schädigt unser Gedächtnis, weil wir uns Dinge nun nicht mehr merken müssen, usw.
Und woher wissen wir das?
Uaaah. Weil Platon das aufgeschrieben hat!
Unten das Original aus der Übersetzung von Schleiermacher. Wer mir nicht glaubt, kann auch hier nachschlagen.
Meine Überzeugung? Wir brauchen eine neue Qualität in der Debatte um Digitalisierung und nicht dieses über 2000 Jahre alte Muster.
Schönen Sonntag noch, Nick H. aka Joachim Paul
Phaidros, Auszug:
Sokrates: Ich habe also gehört, zu Neukratis in Ägypten sei einer von den dortigen alten Göttern gewesen, dem auch der Vogel, welcher Ibis heißt, geheiliget war, er selbst aber der Gott habe Theuth geheißen. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, dann die Meßkunst und die Sternkunde, ferner das Brett- und Würfelspiel, und so auch die Buchstaben. Als König von ganz Ägypten habe damals Thamus geherrscht in der großen Stadt des oberen Landes, welche die Hellenen das ägyptische Thebe nennen, den Gott selbst aber Ammon. Zu dem sei Theuth gegangen, habe ihm seine Künste gewiesen, und begehrt sie möchten den andern Ägyptern mitgeteilt werden. Jener fragte, was doch eine jede für Nutzen gewähre, und je nachdem ihm, was Theuth darüber vorbrachte, richtig oder unrichtig dünkte, tadelte er oder lobte. Vieles nun soll Thamus dem Theuth über jede Kunst dafür und dawider gesagt haben, welches weitläufig wäre alles anzuführen. Als er aber an die Buchstaben gekommen, habe Theuth gesagt: Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel für den Verstand und das Gedächtnis ist sie erfunden. Jener aber habe erwidert: O kunstreichster Theuth, Einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu gebären; ein Anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen (275) werden. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, da sie doch unwissend größtenteils sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise.
Phaidros: O Sokrates, leicht erdichtest du uns ägyptische und was sonst für ausländische Reden du willst.
Sokrates: Sollen doch, o Freund, in des Zeus dodonäischem Tempel einer Eiche Reden die ersten prophetischen gewesen sein. Den damaligen nun, weil sie eben nicht so weise waren als ihr Jüngeren, genügte es in ihrer Einfalt auch der Eiche und dem Stein zuzuhören, wenn sie nur wahr redeten. Dir aber macht es vielleicht einen Unterschied, wer der Redende ist und von wannen. Denn nicht darauf allein siehst du, ob sich so oder anders die Sache verhält.
Phaidros: Mit Recht hast du mich gescholten. Auch dünkt mich mit den Buchstaben es sich so zu verhalten, wie der Thebäer sagt.
Sokrates: Wer also eine Kunst in Schriften hinterläßt, und auch wer sie aufnimmt, in der Meinung daß etwas deutliches und sicheres durch die Buchstaben kommen könne, der ist einfältig genug, und weiß in Wahrheit nichts von der Weissagung des Ammon, wenn er glaubt, geschriebene Reden wären noch sonst etwas als nur demjenigen zur Erinnerung, der schon das weiß, worüber sie geschrieben sind.
Phaidros: Sehr richtig.
Sokrates: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Eben so auch die Schriften. Du könntest glauben sie sprächen als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht. Und wird sie beleidiget oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hülfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen im Stande.
Phaidros: Auch hierin hast du ganz recht gesprochen.