Anlässlich seines 70. Geburtstags erschien im Suhrkamp-Verlag 2017 ein weiterer Band von Peter Sloterdijk mit dem Titel „Nach Gott“, eine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen.
Der erste, neu verfasste Beitrag titelt mit „Götterdämmerung“ und befasst sich mit den „Verständnissen“ unserer „Gegenwart als Zeit wachsender Komplexitäten und Kompliziertheiten“.[1] Es darf bemerkt werden, dass Sloterdijk zu einer Minderheit gehört, die zwischen Kompliziertheit und Komplexität eine scharfe Unterscheidung trifft. Denn sonst hätte ihm – wie vielen anderen – einer der beiden Begriffe gereicht.
Gleichwohl gilt der Philosoph als umstritten. Das gilt aber im Grunde für Jeden, dessen Denken in Texten mit einer gewissen Komplexität kondensiert. Kritiker haben hier immer die Möglichkeit, das zu einfacheren Interpretationen herunterzubrechen. Und oft tun sie das auch, aus politischen Motiven, aus Motiven der philosophischen Konkurrenz oder aus Weiterem, über das die Höflichkeit gebietet, sich hier Spekulationen zu enthalten.
Zwei Zeitgenossen, die ihn verteidigen, möchte ich vorab nennen. Siegfried Zielinski, sein Nachfolger im Amt der Leitung der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, bescheinigt ihm missverstanden worden zu sein.[2] Und der Philosoph Slavoj Žižek nennt ihn in einem Beitrag zu Sloterdijks 70stem in DIE ZEIT „Im Herzen ein Kommunist“.[3]
Was mich betrifft, so gebe ich freimütig zu, dass mir seine Einlassungen vor einigen Jahren zur „gebenden Hand“ zu Staat und Steuern, überhaupt nicht gefallen haben. Aber das muss auch nicht sein.
In Sloterdijks Texten ereignet sich eine Selbstfeier der Sprache sowie des eigenen Vermögens zur Sprache, die sowohl technisch als auch lyrisch-poetisch geprägten Geistern aufstoßen kann. Seine üppig überbordende Metaphorik, seine komplexen Vernetzungen und Bezüge hinein ins Textgefüge unserer Welt fordern nicht selten Belesenheit – im Verbund mit Zeit und Muße, jedoch zumindest die Bereitschaft und die Fähigkeit, nachschlagen oder nachlesen zu können. Zumindest letzteres sollte in Zeiten des Internet problemlos möglich sein.
Viele seiner Texte gaben mir etwas. Stellvertretend für so Einiges möchte ich hier „Nicht gerettet – Versuche nach Heidegger“ anführen, das schon im Titel Bezug auf Heideggers letztes Interview im Spiegel nimmt und seinen Satz: „Nur noch ein Gott kann uns retten“.
Für mich bestätigt Peter Sloterdijk recht eindrucksvoll die These des Psychologen Julian Jaynes:
„In Wahrheit und Wirklichkeit ist die Sprache ein Wahrnehmungsorgan und nicht einfach nur ein Kommunikationsmittel.“[4]
Sprache als Wahrnehmung. Sloterdijks Stil und seine sprachlichen Wahrnehmungen evozieren bei so einigen Kritikern den Eindruck einer gewissen Arroganz. Des weiteren liebt er die große Bühne. Es steht mir nicht zu, das zu bewerten. Jedoch mögen diese Feststellungen auch ein Indiz für eine gewisse Getriebenheit sein, aus „Verzweiflung über die mangelnde Kraft der philosophischen Gegenwart zu echter Zeitgenossenschaft“. Diese Formulierung habe ich von Erich Hörl raubkopiert, der sie in seinem Aufsatz „Das kybernetische Bild des Denkens“ auf den Philosophen Gotthard Günther bezog.[5]
Denn in Sloterdijks, den Band „Nach Gott“ einleitendem Aufsatz „Götterdämmerung“ „günthert“ es gewaltig. Er feiert den Philosophen der Kybernetik geradezu. Und startet gleich mit einem Zitat aus Günthers Aufsatz „Seele und Maschine“:
„Allen Götterwelten folgt eine Götterdämmerung“.[6]
Aktuell erweisen sich angesichts des Themas der künstlichen Intelligenz so einige renommierte Wissenschaftler, Unternehmer und auch Philosophen weder wissenschaftlich noch argumentativ-philosophisch als satisfaktionsfähig. Technische Singularität und Superintelligenz sind hier die Stichworte. Ich schrieb dazu im Blog und im philosophischen Wirtschaftsmagazin agora42.[7,8]
Zu diesen Prominenzen gehören u.a. der Physiker Stephen Hawking und der Historiker Yuval Noah Harari (Homo Deus), beides Bestseller-Autoren.
Nun, im Werk Gotthard Günthers hegelt es gewaltig und des öfteren wird gespenglert, aber immer – implizit – geleibnizt. Und Sloterdijk – wie schon erwähnt – günthert ganz gern. Zeit also für mich, mal zu sloterdijken.
Denn der Philosoph reflektiert in „Götterdämmerung“ entlang der ursprünglichen Argumentationslinie Gotthard Günthers noch einmal das Thema der menschlichen Reflexion und geht hernach geradezu elegant mit den oben erwähnten Prominenzen um [1]:
„Müssen wir uns wirklich mit der Suggestion befassen, die Erfinder der Künstlichen Intelligenz hätten sich in die freigewordene Position des Macher-Gottes gedrängt? Folglich sollten sie wie dieser mit dem Aufstand ihrer Kreaturen rechnen? Gibt es eine Erbsünde der Maschinen? Sollen Maschinen an ihren Menschen glauben, oder wird es einen Ahumanismus der Robots geben?
Was sollen wir den seit Jahrhunderten aufflammenden antimodernen Hysterien antworten, die unterstellen, der Mensch möchte „werden wie Gott“?
[…] Die Konsequenzen des immer rascheren Abfließens von Menschenreflexionen in Maschinenreflexionen sind unabsehbar. Gegenbewegungen bezeugen ihren Protest. Man wird Staudämme bauen gegen die Fluten externalisierter Intelligenz.
[…] Nicht wenige der klügsten unter den geistig virulenten Zeitgenossen – nennen wir Hawking und Hariri anstelle von einigen Nennenswerten – drücken ihre spirituellen Sorgen in der Vision von der Überwältigung der Menschen durch ihre digitalen Golems aus.
Lassen wir das vorerst letzte Wort dem Denker, der das Phänomen der künstlichen Intelligenz früher und durchdringender als alle Zeitgenossen reflektiert hatte. Gotthard Günther schreibt am Ende seines Aufsatzes „Seele und Maschine“ 1956:
„Die Kritiker, die beklagen, daß die Maschine uns unsere Seele „raubt“, sind im Irrtum. Eine intensivere, sich in größere Tiefen erhellende Innerlichkeit stößt hier mit souveräner Gebärde ihre gleichgültig gewordenen, zu bloßen Mechanismen heruntergesunkenen Formen der Reflexion von sich ab, um sich selber in einer tieferen Spiritualität zu bestätigen. Und die Lehre dieses geschichtlichen Prozesses? Wieviel das Subjekt von seiner Reflexion auch an den Mechanismus abgibt, es wird dadurch nur reicher, weil ihm aus einer unerschöpflichen und bodenlosen Innerlichkeit immer neue Kräfte der Reflexion zufließen.“[6]
Soweit Peter Sloterdijk. Er fügt seinem Zitat Günthers nichts mehr hinzu. Dem könnte ich nun folgen.
Ich schlage dennoch als folgerichtige Ergänzung einen in der Sendung Freistil ausgesprochenen Satz von Rudolf Kaehr vor:
„Der Tod Gottes wird auch die Arithmetik verändern. Und ich denke, das ist zu leisten.“[9]
Wenn es mir als Kybernetiker gelänge, eine polykontexturale KI, die den Namen KI auch verdient, zu konstruieren, bspw. zur Dekonstruktion des abendländischen philosophischen Textwissens, ich würde sie Sloterdijk nennen.
Habt Spaß, Nick H. aka Joachim Paul
Quellenangaben:
[1] Peter Sloterdijk, Götterdämmerung, in: Nach Gott, Frankfurt a. M. 2017, S. 7 – 30
[2] Siegfried Zielinski über Sloterdijk – Sloterdijk ist missverstanden worden http://www.deutschlandfunkkultur.de/siegfried-zielinski-ueber-seinen-vorgaenger-sloterdijk-ist.1013.de.html?dram:article_id=345003
[3] Slavoj Žižek über Sloterdijk „Im Herzen ein Kommunist“
http://www.zeit.de/2017/26/peter-sloterdijk-70-geburtstag
[4] Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche, Reinbek 1988, S. 67 – orig. The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind; Houghton Mifflin, Boston 1976
[5] Erich Hörl, Das kybernetische Bild des Denkens, in: Die Transformation des Humanen, Michael Hagner & Erich Hörl, (Eds), Frankfurt am Main 2008, S. 163-195, S. 195
[6] Gotthard Günther, Seele und Maschine, Erstveröffentlichung in: Augenblick Bd. 3, 1955, Heft 1, S. 1-16, abgedruckt in: „Beiträge zu einer operationsfähigen Dialektik“, Band 1, p.75-90, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1976. Online: http://www.vordenker.de/ggphilosophy/gg_seele-maschine.pdf
[7] Joachim Paul, Wer hat Angst vor der Superintelligenz? Wer hat Angst vor Märchen? WTF!
Neuss, September 4, 2016, Online: http://www.vordenker.de/blog/?p=1530
[8] Joachim Paul, Über Monster und Kurzschlüsse der Erkenntnis – Oder: Keine Angst vor künstlicher Intelligenz, in: agora 42 – Das philosophische Wirtschaftsmagazin, Stuttgart, 2017/2, 30.03.2017 – S. 64 – 67, www.agora42.de
[9] FREISTIL, oder die Seinsmaschine – Mitteilungen aus der Wirklichkeit, Audioauszüge aus einer Sendung des WDR 3, produziert und konzipiert von Thomas Schmitt http://www.tagtraum.de – Regie Thomas Schmitt, Text Rudolf Kaehr (Zitat im Transkript nicht enthalten.) Online: http://www.vordenker.de/rk/rk_Freistil-oder-die-Seinsmaschine_2000.pdf
Schön, daß Du wieder mehr im Blog schreibst.
Ich fand diesen Beitrag sehr erfreulich, ja stellenweise sogar erheiternd.
Schon zum Frühstückskaffee die ersten Lacher, und das ganz ohne „Comedy“. Wo gibt’s das sonst noch?!