Dirk Baecker zum Systembegriff – reloaded
Am 9. April 2018 veröffentlichte ich an dieser Stelle einen Beitrag mit dem Titel „Anti-Aufklärung? Kriegstechnologie? Anmerkungen zu blinden Flecken im Narrativ der Kybernetik“.
Der Soziologe Dirk Baecker sprach mir als einer der ersten seine Anerkennung aus, der Beitrag sei seiner Auffassung nach „außerordentlich hilfreich“. Und er erinnerte auch gleich daran, dass der Systembegriff in seinem Narrativ ganz ähnlichen blinden Flecken und Missverständnissen unterworfen sei wie der der Kybernetik.
Möglicherweise – und das ist jetzt meine Vermutung – liegen diesen Missverständnissen bezogen auf den Systembegriff ganz ähnliche Mechanismen der iterierten Interpretation zugrunde.
Die Schwesternschaft von Kybernetik und Systemtheorie – gemeinhin begründbar aus der Pflege auch in der Methodik ähnlicher sowie aufeinander Bezug nehmender wissenschaftlicher Fragestellungen – erhielte somit aus dem Feld der kritischen (Kriegs-)Interpretationen heraus eine weitere Komponente. Diese fällt jedoch – und das darf hier gesagt werden – in ihrem Reflexionsniveau weit hinter die kritische Selbstreflexion der VertreterInnen beider Bereiche zurück.
Wie dem auch sei, Dirk Baecker schreibt – dankenswerterweise – gegen diese Missverständnisse an, und das schon eine ganze Weile. Daher republizieren wir hier mit seiner freundlichen Genehmigung einen Beitrag mit dem Titel „System“, der 2010 im Sonderheft 6 des „Archiv für Begriffsgeschichte“ erstpubliziert wurde. Dort heißt es:
„Die Nachbarschaft von Kybernetik und Systemtheorie hat meines Erachtens nicht darin ihre Pointe, daß beide als technokratische Geheimwissenschaften der Steuerung und Kontrolle komplexer Systeme zu Zeiten des Kalten Kriegs gerade recht kamen,“
– Baecker nimmt hier Bezug auf gleich eine ganze Reihe einschlägiger Publikationen [*] –
„sondern darin, daß die von der Kybernetik verwendeten mathematischen Ideen die Möglichkeit boten, eine der zentralen Fragestellungen des bis dahin überlieferten Systembegriffs zu bearbeiten, nämlich die Fragestellung eines organismischen oder auch ganzheitlichen Systemerhalts unter der Bedingung einer rauschenden Umwelt.“
„Ganzheitlicher Systemerhalt unter der Bedingung einer rauschenden Umwelt“, der Term trägt aphoristische Züge und sprengt sogleich jeden machtpolitischen Interpretationsansatz, indem er das Telos eines kybernetischen Systems in einen epistemologischen Fragenraum stellt.
Baecker transformiert die nach McCulloch übrig gebliebenen drei ungelösten Fragestellungen der Kybernetik in sprachliche Varianten: Wie wird gezählt/gerechnet, wie wird getauscht und wie wird geordnet? Hernach rollt er den Systembegriff noch einmal aus und schlägt vor, ihn „für die Formulierung des Selbstreferenzproblems zu reservieren“.
Gleichwohl gibt es keine geschlossene Formulierung des Systembegriffs. Eine solche wäre ein Widerspruch in sich. Seine Leistung so Baecker, liege „in der Ordnung von Beobachtungen und Beschreibungen, die es mit dem Problem komplexer Phänomene aufnehmen, den Beobachter mit Einheit und Vielfalt, Öffnung und Schließung, Bestimmtheit und Unbestimmtheit zugleich zu konfrontieren.“ Oder, unter Bezugnahme auf Gotthard Günther, jedoch mit anderen Worten: „Das System ist sein eigener Unruhezustand.“
Das ist subversiv im besten Sinne.
Viel Spaß beim Lesen,
Joachim Paul (Hg.)
[*] Die Originalfussnote Baeckers: „So jedoch Paul N. Edwards: The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America (Cambridge, Mass. 1996), und Tiqqun: Kybernetik und Revolte (Berlin 2007). Vgl. auch, tendenziell vorsichtiger, Steve J. Heims: John von Neumann and Norbert Wiener. From Mathematics to the Technologies of Live and Death (Cambridge, Mass. 1982) und N. Katherine Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics (Chicago 1999). Stärker um die Rekonstruktion kybernetischer Konzepte bemüht ist Andrew Pickering: Kybernetik und neue Ontologien (Berlin 2007).“
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