TELEPOLIS: Programmierte digitale Geschichtsvergessenheit

Vorab für Eilige:
Meine Telepolis-Beiträge und von mir geführten Interviews sind hier republiziert.

Am 6. Dezember 2024 gab das Onlinemagazin Telepolis bekannt, dass man Anfang Dezember alle Beiträge, die vor 2021 erschienen sind, in der Summe sind das über 50.000, vom Netz, bzw. „aus dem Archiv“ genommen habe, da, so der Chefredakteur Harald Neuber, „wir für deren Qualität nicht pauschal garantieren können“. https://www.telepolis.de/features/Qualitaetsoffensive-Telepolis-ueberprueft-historische-Artikel-10190173.html

In der Begründung des Chefredakteurs steckt ein unmittelbar ins Auge springender eklatanter Widerspruch. Einerseits heißt es, „die Deindizierung“ sei „keinesfalls ein Misstrauensvotum gegen frühere Autoren und damalige Beiträge heutiger Autoren. Wir mussten aber einsehen, dass es keine realistische Möglichkeit gibt, die enorme Menge von Artikeln aus gut 25 Jahren hinreichend zu prüfen.

Aber schon im übernächsten Absatz schreibt Neuber: „Wir werden die alten Inhalte systematisch und so schnell wie möglich sichten und – soweit sie noch einen Mehrwert bieten – nach unseren Qualitätskriterien bewerten und überarbeiten.

Erst wird gesagt, dass eine hinreichende Prüfung nicht möglich sei, gleichwohl

soll bewertet und überarbeitet werden. Überarbeiten? Hallo, geht’s noch!
Für mich klingt das schwer nach, „wir werden dem Werk von Karl May die Indianer schon austreiben.“ Und man maßt sich an zu bewerten, obwohl, siehe oben, eine hinreichende Prüfung erklärtermaßen nicht möglich ist.

Essays und Fachaufsätze haben dabei Vorrang„, heißt es weiter, „tagesaktuelle Texte aus der Vergangenheit nicht. Schrittweise sollen die vielen Perlen aus dem Archiv wieder zugänglich gemacht werden …

Insgesamt sind mehr als 50.000 Beiträge, Berichte, Essays, Gespräche, Interviews, von der Löschung betroffen, über die vorab weder die Autoren noch die Öffentlichkeit informiert wurden.

Diese Aktion hat zudem technisch zur Folge, dass tausende Links aus dem Netz auf diese Telepolis-Beiträge nun zerbrochen sind.

Vom Inhalt her betrachtet reißt das ein riesiges Loch in die Netzkultur, bzw. in den deutschsprachigen Teil unseres digitalen kulturellen Gedächtnisses.

Eine wesentliche Möglichkeit der Interaktivität, ein technischer Ausdruck der Meinungsfreiheit, bestand in der gern und reichlich genutzten Kommentarfunktion auf Telepolis.

Auch die Kommentare in den Diskussionsforen zu den abgeschalteten Beiträgen sind nicht mehr verfügbar. Einige der ernstzunehmenderen Kommentarbeiträge enthalten nicht selten ihrerseits Links auf weiteren themenrelevanten Content.

Somit stellt die Herausnahme der Texte und der zugehörigen Forenbeiträge einen massiven Riß im Medien- und Textgewebe der Zeit dar.

Die Forenbeiträge sind möglicherweise ganz verloren, denn das privat geführte Internet-Archiv archive.org sowie auch die Deutsche Nationalbibliothek archivieren sie nicht. Dasselbe gilt für das Fußnotenmanagement von Telepolis.

In Zukunft sind also nicht nur Diejenigen, die sich mit Kultur- und Mediengeschichte des Internet und der Veränderung unserer Kommunikationskultur beschäftigen, sondern auch allgemeine Leser, die sich für das Vierteljahrhundert Telepolis interessieren, auf Spezialarchive angewiesen. Doch deren Existenz ist nicht garantiert.

Die aktuelle Telepolis-Aktion ist programmierte digitale Geschichtsvergessenheit. Ohne Ansage.

Florian Rötzer war Mitgründer und von 1996 bis 2020 Chefredakteur des Online-Magazins. Auch wenn er mittlerweile Abstand dazu hat, es ist die Unzugänglichmachung eines Teils seines Lebenswerks.

Und für viele Autoren war Telepolis auch eine Referenz, manche begannen ihre Schreibkarriere dort. Ihnen ist mit der Abschaltung zumindest ein Teil ihrer digitalen Existenz, ihrer Identität, genommen.

Man hätte es ahnen können, denn bereits im Februar 2024 wurde den älteren Beiträgen auf der Plattform ein Disclaimer vorgeschaltet. Florian Rötzer sprach in diesem Zusammenhang von einem „Journalismus für das betreute Lesen“ mit dem Zusatz „ganz im Trend der Zeit“.
https://overton-magazin.de/top-story/telepolis-oder-der-journalismus-fuer-das-betreute-lesen/

Die Reaktionen im Netz auf die nunmehr erfolgte Depublikationsaktion blieben nicht aus.
https://overton-magazin.de/top-story/telepolis-loescht-alle-frueheren-texte/
https://overton-magazin.de/top-story/telepolis-damnatio-memoriae/

Eine Zusammenstellung weiterer Reaktionen gibt es hier.
https://www.spiegelkritik.de/2024/12/08/medienreaktionen-auf-archiv-loeschung-bei-telepolis/

Nun denn, Telepolis antwortet nicht auf Anfragen. Und ich habe nicht wirklich Hoffnung, dass dort noch etwas passiert. Die Pseudo-Strategie des Aussitzens ist weit verbreitet. Derartige Probleme haben aber nicht selten die Eigenschaft, in unerwartet veränderter Form irgendwann durch eine Hintertür wieder hereinzukommen.

Es gibt jedoch auch eine Verantwortung des Autors für seine Texte und für die von ihm geführten Interviews sowie die Gesprächspartner. Der will ich, soweit es mir möglich ist, nachkommen.

Aus diesem Grund stelle ich meine Beiträge und Interviews nun hier zur Verfügung. Die geringere Reichweite dieses Journals gegenüber Telepolis muss eben in Kauf genommen werden. Aber wenigstens sind die Texte weiterhin verfügbar.

I’m not amused,
dennoch beste Wünsche für das kommende Jahr 2025,
Nick H. aka Joachim Paul

Nachtrag vom 16.12.2024

Herrje, die Dimension des Schadens geht mir erst allmählich auf. Bei meinen vier Beiträgen und vier Interviews ist das nicht so das Problem. Da kann wenigstens behelfsmäßig repariert werden durch Republikation. Aber heute fiel mir ein Buch aus meinem Regal in die Hand, also kein eBook, sondern Papier, mit gedruckten Links auf ältere Telepolis-Adressen. Brücken zwischen Print und Online sind also auch kaputt.

3 Gedanken zu „TELEPOLIS: Programmierte digitale Geschichtsvergessenheit

  • 21. Dezember 2024 um 20:40 Uhr
    Permalink

    Ein starkes Stück, so viele Artikel entfernt zu haben! Daran sieht man, wie Vertrauen, im Internet zu publizieren – sei es wissenschaftlich, sei es essayistisch – wieder einmal missbraucht wurde.

    Die Vorgehensweise ist dabei ebenfalls bedenklich, Artikel redaktionell, d.h. von zentraler Stelle aus sichten und/oder überarbeiten zu wollen. Dies sollte im Ermessen der Autoren liegen, denen man Emails mit einer entsprechenden Anfrage hätte zusenden müssen, damit sie ihre Beiträge ggf. überarbeiten.

    Nach kurzer Recherche bin ich auf einen der besagten natürlich noch vorhandenen Links gestoßen, z.B. vom 17.06.2004, nach dem bis zum Herbst (2004) 50.000 Unterschriften gesammelt werden sollten. Es ging dabei um ein Informationsfreiheitsgesetz, das mit den Jahren erfolgreich angepasst worden war.

    Danke für die großartige Analyse des Geschehens, selbst wenn es sich um eine schlechte Nachricht handelt – auch für denjenigen, der im Besitz einer O-Nummer der Printausgabe von telepolis ist.

  • 20. Dezember 2024 um 18:00 Uhr
    Permalink

    Tja, Ironie der Geschichte: Die Zwangsdigitalen haben sich jahrelang über die Internetausdrucker lustig gemacht, und letztere haben jetzt die Möglichkeit zu sagen: „told you so“, zumindest, wenn sie solche Szenarien als Begründung zum ausdrucken mit angeführt haben (ansonsten reicht es noch für späte Genugtuung ohne ein ‚told you so‘).

    Das erinnert an die frühen Kritiker der Kommerz-„Social Networks“, die erst als linke Spinner verunglimpft wurden… doch mit die ersten Opfer der Zensur durch die großen Plattformen sind diejenigen geworden, die damals die Kritiker als linke Spinner, Kapitalismusfeinde oder Kulturpessimisten verunglimpften.

    Für zu-kurz-denkende ist Zensur der politisch Andersdenkenden kein Problem, aber wenn der Wind sich dreht, und man selbst aussortiert wird, ist das Gejammer groß (dann aber womöglich garnicht mehr zu vernehmen). (Siehe auch De-Banking). Zensurfreude ist derzeit ja eher bei denen zu erkennen, die meinen, links zu sein (Ernst Jandl: …lechts und rinks…), oder zumindest die moralisch höherwertigen Menschheitsretter.

    Seit Jahren archiviere ich wichtige Artikel aber auch Videos aus’m Netz.
    Daß Resourcen verschwinden – aus vielerlei Gründen – ist nun auch nicht wirklich neu.
    Schon daß Ressourcen nur verschoben werden (alter Link unbrauchbar, aber mit etwas Recherche andernorts wieder auffindbar) ist nervig genug.
    Sowohl Suchmaschinen als auch Wikipedia kränkeln hier bzgl. Aktualität.
    Aber das Komplettverschwinden ist auch lange bekannt.
    (Es gibt noch eine Zwischenform: nicht mehr frei verfügbar, nur noch mit Anmeldung oder gegen Bezahlung.)

    Daß Heise hier mit seiner Aktion den Vogel abschiesst, sollte klar sein.
    So willkürlich (nicht aus Not („keine Spenden, das wird unfinanzierbar“ oder anderen, z.B. persönlichen Gründen)) sondern wegen angeblicher Qualitätssicherung. Nunja, man kann wohl seit langem feststellen, daß wir in einer Zeit der Euphemismen leben.

    Wenn ich mir die Gesellschaftsentwicklung der letzten Jahere so anschaue, könnte man auch politische Hintergründe vermuten. Eine Totalitarisierung im Gewande der Demokratierettung sehe ich schon seit längerer Zeit am werkeln. Und Frieden durch Waffen ist ja auch gerade sehr in.

    BTW: war das verschieben oder verschwinden von Ressourcen nicht einer der Gründe, wieso man IPFS (InterPlanetary File System) entwickelt hat? Ich habe die Entwicklung da aus dem Auge verloren, weiß nicht, ob das mittlerweile auch für Nicht-Technikspezialisten praxistauglich ist (oder weiterhin Nerd-Spielerei ist). The web is broken – auch nicht ganz neu. Was hat sich hier getan?

    Was ich in den letzten Jahren beobachte, ist aber, daß auch die Software-Qualität in vielen Bereichen zunehmend kränkelt. Und daß der Digitalkram nunmal ohne Software nicht geht, sollte klar sein. Wenn da aber die Qualität der Software den Bach runter geht, braucht man auch nicht erwarten, daß die Lösungen besser werden.

  • Pingback: Linksammlung 51/2024 - onli blogging

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.