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Diskontexturalitäten:
Wozu neue Formen des Denkens?
Zur Kritik der
logischen Voraussetzungen
der Second Order Cybernetics und der Systemtheorie.
von Rudolf Kaehr
Es braucht nicht bloß einer gelangweilten Laune oder
einem postmodernen Habitus eines Denkers zu entsprechen, wenn in bewußter
Zitation unverdächtiger Zunftgenossen hier experimentell davon ausgegangen
wird, daß alles was gesagt werden kann schon gesagt wurde, daß alles
Sagbare in der einen oder anderen Weise, in dem einen oder anderen Medium
zur Verfügung steht, daß es über das eine oder andere Netz abrufbar ist,
daß also nichts Neues mehr gesagt werden kann, und daß es auch nicht
nötig ist und vorallem nicht nottut, etwas Neues zu sagen.
Es bleibt jedoch, so könnte behauptet werden, für denjenigen, der sich
nicht archivistisch oder propagandistisch mit dem Bestehenden beschäftigen
und unterhalten will, immer noch die Möglichkeit, sich dafür zu verwenden,
sich darin zu verausgaben oder auch zu verschwenden, zu zeigen, wie etwas
Neues getan werden könnte. Gewiß wäre ein solches Tun nicht frei von
Naivität angesichts dessen, was bisher in der Geschichte schon getan wurde.
Ein Weg etwas zu tun, scheint der zu sein, sich
direkt mit sich selbst zu beschäftigen, mit dem Ziel sich zu Gunsten eines
neuen Weltbildes zu verändern. Dies scheint es zu sein, was die
verschiedenen Aktivitäten im Bereich der Mentaltrainings motiviert. Es wird
durch verschiedene Trainingsmethoden und Meditationen versucht, sich zu sich
zu führen, in der Hoffnung, sich für sich selbst und für andere zu
ändern. Die dazu passenden Theorien bzw. Theoriefragmente spielen dabei
eine sekundäre Rolle und dienen einzig pragmatischen und orientierenden
Bedürfnissen.
Rede und
Schrift
Ein anderer Weg etwas zu tun, scheint die
philosophisch-poetisierende Sprech- und Schreibweise zu bieten. Es kann
gesprochen und geschrieben werden, ohne daß dabei etwas Faßbares,
Informatives, Objektivierbares ausgesagt werden muß. Im Gegenteil, es
scheint hier möglich zu sein, weit über den Bereich des Objektiven und
Rationalen aber auch des Fiktiven und Phantastischen hinaus Welten zu
eröffnen, die nur durch einen wilden, nicht mehr von Grammatik, Logik und
Rhetorik geregelten Gebrauch der phonetischen Schreibsysteme eröffnet
werden. Hier wird weniger etwas gesagt als gezeigt, wie etwas gesagt werden
kann, was nicht mehr gesagt werden kann. Das Sagen geht über in das
Schreiben und das Spiel zwischen phonetischer Schreibweise und begrifflicher
Semantik wird zu Ende geführt.
Neben dem Sprechen und seiner Niederschrift gibt es
das Rechnen, die Manipulation von syntaktischen Zeichen und Symbolen.
Bekanntlich läßt sich über das Rechnen nichts erzählen. Rechnen ist
Schreiben und unterliegt stärker den Gesetzen der Schrift denn der Rede und
ihrer Niederschrift. Mathematik und Rechenkunst erzählen keine Geschichten
auch wenn sie selbst in Geschichten verstrickt sind. Durch ihre
Operationalität und Ökonomie machen sie jedoch Geschichte.
Mathematische Strukturen und deren Institutionen bzw.
Implementierungen sind mit der erzählbaren Geschichte d.h. der
Menschheitsgeschichte nicht verwoben, sie scheinen über ihr zu
schweben. Sie haben zwar durchaus ihre Geschichte, etwa die
Entwicklungsgeschichte der Zahlentheorie, doch läßt sich über die
Arithmetik der Zahlen nichts erzählen. Daher lassen sich in ihr selbst auch
keine Fragen stellen, etwa nach dem Woher und der Legitimation
mathematischer Grundformen. Gewiß kann, wie etwa in der Philosophie der
Mathematik oder in der Metamathematik über die Mathematik gesprochen
werden.
Etwas Neues wäre es, wenn das Rechnen selbst
erzählbar und das Erzählen selbst rechenbar würde. Dies könnte gelingen,
wenn beispielsweise eine Vielzahl von qualitativ verschiedenen
Zahlensystemen eingeführt würden. Das Rechnen im jeweiligen Zahlensystem
würde weiterhin stumm vollzogen werden, der Übergang jedoch von einem
Zahlensystem zum andern müßte kommentiert, erzählend motiviert werden und
könnte, da das Rechnen nur innerhalb der Zahlensysteme geregelt ist, nicht
selbst wieder berechnet werden. Es kann also, werden nicht Schriftsysteme
eingeführt, die jenseits der Dichotomie von Rede und Schrift lokalisiert
sind, wie etwa die Kenogrammatik, nur erzählt und nicht mehr berechnet
werden, wie Zahlen ihre Systeme wechseln, woher sie kommen und welche
Geschichte sie mit sich bringen.
Wäre diese Verbindung von Zahl und Begriff möglich,
wäre die Dichotomie von Analytik und Hermeneutik so vemittelt, daß sie
sich gegenseitig befruchten könnten und die Paralyse der gegenseitigen
Abgrenzung und Tabuisierung überwunden wäre. Erst dann hätten die
anspruchsvollen Visionen der KI-Forschung, Robotik und Artificial Life
Projekte eine Realisierungschance.
Das Denken
denken
Das Tun muß sich nicht notwendigerweise auf etwas
Gegenständliches und Körperliches beziehen, es kann sich auch auf das
Denken selbst beziehen, indem es seine eigenen Voraussetzungen, seine Art
des Zeichengebrauchs bzw. seine Unterscheidung von Rede und Schrift, von
Begriff und Zahl reflektiert und transformiert. Dies führt allerdings sehr
schnell zu äusserst negativen Erfahrungen. Das Denken des Denkens führt zu
einem infiniten Regreß oder auch Progreß, jedoch zu keinem Abschluß. Es
ist unverfänglicher, einfach zu denken oder das Denken im kybernetischen
Artefakt wenigstens partiell zu simulieren, als das Denken als Denken selbst
in den Griff zu bekommen. Der so erlangte Begriff des Denkens wäre selbst
wiederum nur Teil des Denkens und das Denken als Ganzes wäre nicht erfaßt.
Das Gödelsche Theorem sorgt hier für die Autonomie des kreativen
menschlichen Denkens der Erfassung des Denkens in Symbol- systemen und
symbolischen Maschinen gegenüber. Die Grenzen der menschlichen
Formalisierungsfähigkeit werden hier zugunsten einer extra-mundan
fundierten Intuition akzeptiert.
Statt die Welt oder sich selbst zu verändern, wäre
hier die Notwendigkeit gegeben, das Denken selbst zu verändern. Ein
verändertes Denken jedoch würde in ungeahnterweise den Denkenden selbst
und seine Welt verändern.
Komplexität
vs. Eindeutigkeit mathematischer Schriftsysteme
Mathematische Schriftsysteme sind notwendigerweise
der Forderung an Eindeutigkeit und Identität ihrer Zeichen unterworfen.
Berechenbarkeit und Strukturbestimmungen realisieren sich einzig im Medium
der Eindeutigkeit. Jeder Versuch auf einer basalen Ebene irreduzible
Vielheit, Mehrdeutigkeit, Parallelität und Kooperation einzuführen,
scheitert aufgrund dieser prinzipiellen Eindeutigkeit der Formalismen.
Multiple Strukturen und Prozesse sind nur als abgeleitete theoretische
Konstrukte, jedoch nicht als Grundstrukturen der Formalismen definierbar.
Dagegen sind begriffliche Beschreibungen von
komplexen Systemen, insbesondere das Denken des Denkens, das Denken selbst
grundsätzlich vieldeutig, zirkulär, paradoxal.
Daraus entsteht der Konflikt zwischen Begrifflichkeit
und Berechenbarkeit. Solange die Kluft zwischen Begriff und Zahl nicht
vemittelt ist, bleiben die Visionen künstlicher Intelligenz und
artifizieller lebender Systeme, wie sie von der KI und der Artificial
Life-Forschung intendiert werden, prinzipiell unrealisierbar.
Von mathematischer Seite sind hier die Angebote der
Fuzzylogik, der verschiedenen Theorien selbstorganisierender und chaotischer
Systeme usw. zu nennen, die von Seiten begrifflich arbeitender
Systemtheoretiker in ihrer Metaphorik aufgenommen, ge- und verbraucht
wurden.
Die Grundsituation, daß die komplexen begrifflich
fundierten Einsichten in das Verhalten von Systemen im Prozeß der
Operationalisierung nivelliert werden, bleibt dabei unverändert bestehen.
Kompliziertheit vs. Komplexität
Es wird gesagt, ein System sei komplex, seine
Komplexität sei reduzierbar, erzeuge Paradoxien; ein System sei komplex,
wenn es eine grosse Anzahl von Elementen aufweise, die in einer grossen Zahl
von Beziehungen zueinander stehen könnten usw. Von der Komplexität eines
Systems wird so gesprochen, als wäre sie eine Eigenschaft des Systems, die
erhöht oder reduziert werden kann. Durch diese Prädikation wird
zwangsläufig eine dichotomisierende Logik induziert. Das Prädikat komplex
trifft dabei auf das System zu oder nicht tertium non datur. Von welchem
Standpunkt aus diese Prädikation vollzogen wird, ist im Sprachrahmen dieser
Logik selbst nicht mehr formulierbar. Der Standpunkt von dem aus eine
Prädikation vollzogen wird, muß nicht berücksichtigt werden, denn nicht
er, sondern das System ist Thema der Prädikation und es gilt, daß es
komplex ist oder nicht. Dies hat Gültigkeit für jeden möglichen
Standpunkt der Beschreibung des Systems. Wäre dem nicht so, wäre ja die
Prädikation komplex rein subjektiv und der Willkür unterworfen. D.h.
ein System könnte dann für den einen komplex und für den anderen nicht
komplex sein. Die Logik, die die Prädikation regelt, ist eine Logik ohne
ein Subjekt, das denkt oder spricht. Sie gilt für einen und nur einen
allgemeinen formalen Zusammenhang (Kontextur); sie wird daher als
monokontextural bestimmt.
Nun entspricht es gerade der alltäglichen Erfahrung,
daß kein allgemeiner und verbindlicher Standpunkt gefunden werden kann, und
daß für den einen ein System als komplex und für den anderen das gleiche
System als nicht komplex erscheint. Beide wollen miteinander kooperieren,
sind aber aus guten Gründen nicht bereit, ihren Standpunkt aufzugeben.
Statt sich nun mit Wiedersprüchen, Paradoxien und anderen
Unvertäglichkeiten zufriedenzugeben, scheint es sinnvoll zu sein, nach
einer Logik zu fragen, die mit verschiedenen, gegensätzlichen und
miteinander kooperierenden Standpunkten bzw. Kontexturen zu arbeiten in der
Lage ist.
Vom Standort der polykontexturalen Logik einer
Logik, die mit einer Vielheit von Kontexturen arbeitet ist das Wort komplex
nicht einfach ein Adjektiv wie rot oder bitter, sondern ein
Reflexionsbegriff, d.h. ein von einem Standpunkt abhängiger Begriff wie oben
unten, links rechts, qualitativ quantitativ, offen
geschlossen. Es gibt wenig Sinn, etwa prädikativ zu sagen `die
Kirche steht links' ohne dabei den Standort mitanzugeben, von wo aus die
Kirche links und nicht rechts steht. Das Komplementärwort zu Komplexität
ist danach nicht Einfachheit, sondern Kompliziertheit, bzw. Komplikation.
Komplexität ist ein qualitativer und Kompliziertheit ein quantitativer
systemtheoretischer Begriff.
Komplexität gibt an, wie viele irreduzible
Qualitäten bzw. Kontexturen im Spiel sind. Jede dieser Kontexturen besitzt
ihre eigene Logik und Arithmetik und ihre Regeln des Zusammenspiels mit
ihren benachbarten Kontexturen. Da diese zugleich gelten, ist die Ordnung
zwischen den Kontexturen nicht hierarchisch (untergeordnet), sondern
heterarchisch (nebengeordnet).
Die Kompliziertheit ist ein Maß, das angibt,
wieviele Variablen innerhalb einer jeweiligen Kontextur zur Beschreibung der
quantitativen Verhältnisse des Systems benötigt werden. Die Komplexität
gibt an, wieviele unabhängige Standpunkte bzw. Kontexturen im Spiel sind.
Kontextur
vs. Kontext
Unter logischer Kontextur [Kontextur (veraltet)
Verbindung, Zusammenhang] ist folgendes zu verstehen: Die klassische Logik
als geschlossene Kontextur ist ein zweiwertiges System, das durch die
Prinzipien der irreflexiven Identität, des verbotenen Widerspruchs und des
ausgeschlossenen Dritten bestimmt ist. Was dieses System nun zur Kontextur
in dem von uns intendierten Sinne macht, ist ein zusätzliches Postulat, das
dem 'tertium non datur' attachiert werden muß. Wir stipulieren nämlich,
daß die Alternative von Affirmation und Negation so universal sein muß,
daß sie durch keinen höheren Bestimmungsgesichtspunkt von Positivität und
Negativität in der denkenden Reflexion überboten werden kann.
Das bedeutet, daß der Regreß der Formalität, was
seinen Inhalt betrifft, unendlich ist; als logisches Strukturgebilde ist
aber ein solches System formal endlich. Es hat eine Strukturschranke, die
nicht übersteigbar ist, denn die Hierarchie der möglichen Formulierungen
des 'tertium non datur' verändert und erweitert ja nicht die
Struktureigenschaften des Systems.
"Unter Kontextur verstehen wir also einen
zweiwertigen Strukturbereich, dem zwar durch seine Zweiwertigkeit eine
strukturelle Schranke gesetzt ist, dessen Inhaltskapazität und
Aufnahmefähigkeit jedoch unbegrenzt ist."
"Und da Einheit sich auf zweierlei Weise
behandeln läßt, je nachdem, ob sie im Bereich der Qualität oder im
Bereich des Quantums auftritt, war es notwendig, einen operativen Begriff
einzuführen, der die Differenz von Qualität und Quantität zu
überbrücken fähig ist. Darin besteht die Funktion der Kontextur-idee.
Universalkontexturen repräsentieren erstens qualitative Unterschiede und
zweitens sind sie als solche Einheiten." (Gotthard Günther, Bd.2, 277)
Zur Polykontexturalität
-
Es wird also nicht eine Differenz, eine
Unterscheidung eingeführt wie im Calculus of Indication von G. Spencer
Brown, sondern simultan eine Vielheit von zugleich geltenden
Differenzen.
-
Die Differenz zwischen Operator und Operand ist
nicht konstitutiv, denn eine Operation ist immer einzig bestimmt als
Ordnungsverhältnis zwischen Operator und Operand, es gibt im
logozentrischen Konzept von Operation und Operativität keinen Wechsel
zwischen Operator und Operand.
-
Ebenso kommt die Operativität eines Operators nie
zur Inskription; die Operativität erlischt im Produkt der Operation.
-
Kontexturen sind Sammelbecken für Kontexte
beliebiger Komplexität und Kompliziertheit.
Polykontexturalitätstheorie
und Paradigmenwechsel
In der Spannung zwischen Enttäuschungen über die
Leistungsfähigkeit bestimmter quantitativer und formaler Methoden
einerseits und Erwartungen gegenüber holistischen Ansätzen andererseits,
entstanden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Leitbegriffe wie
Ganzheitlichkeit, Rekursivität, Komplexität, Selbstreferentialität. Die
neuen Begriffe wecken durchaus berechtigte Hoffnung, lassen es bisher offen,
wie sie einer akzeptablen Explikation und einer nicht-reduktionistischen
Operationalisierung zugänglich zu machen sind.
Diese Situation ist nicht neu: Strukturelle Probleme,
die sich bereits in der Quantenmechanik, (Meta)mathematik, Philosophie und
den Sozialwissenschaften zeigten, waren dort jedoch nur für Spezialisten
von Bedeutung. Neu dagegen ist, daß sich seit etwa den siebziger Jahren ein
breiter begrifflicher Katalog an Konzepten, Argumentationen und
Formalisierungsansätzen ausdifferenziert hat, der es vereinfacht, diese
tendenziell transklassischen Begrifflichkeiten zu analysieren, gegeneinander
abzugrenzen, miteinander zu verbinden ohne dabei die grundsätzliche
Intention einer Überwindung mechanistischer Implikationen aus den Augen zu
verlieren.
Beispielhafte
Gegenüberstellung
klassischer und transklassischer Begriffe
Soll der paradigmatische Umbruch anhand
der terminologischen Neubesetzung skizziert werden, so ergibt sich folgendes
Bild:
Monotonie vs. Selbstreferentialität
Hierarchie vs. Heterarchie, Komplexität
Heterologie vs. Autologie,
Zirkularität vs. Chiasmus
Eindeutigkeit vs. Ambiguität, Amphibolie, irreduzible Polysemie
Beweisbarkeit vs. Antinomie
Vorhersagbarkeit vs. Emergenz
Selbstorganisation vs. Autopoiese
Exo--vs. Endo-Deskription
Mono-vs. Polykontexturalität
Mechanismus vs. Holismus
Linearität vs. Tabularität
Ein Katalog
zeitgenössischer Richtungen zum Paradigmenwechsel
Zur Erinnerung an die Fülle der seit den siebziger
Jahren entstandenen verschiedenen Ansätze, die zu einer Überwindung der
oben aufgelisteten Gegensätze ansetzen, sollen hier erinnert werden:
1. Theorie autopoietischer Systeme (Maturana, Varela)
2. Synergetik (H. Haken), Theorie dissipativer Systeme (Prigogine)
3. Theorie der Selbstorganisation und Emergenz
4. Second Order Cybernetics: Konversationstheorie (G. Pask), Theorie des
Beobachters (H. v. Foerster), Autologie und Komplementarität (L. Löfgren))
5. Radikaler Konstruktivismus (von Glasersfeld)
6. Polykontexturalitätstheorie, transklassische Logik (G. Günther)
7. Theorie der Beschreibung in Endophysik und Quantenlogik (Primas)
8. komplexe Systemtheorie (R. Rosen)
9. Hierarchie-Theorie (Pattee)
10. Theorie des Unterscheidens (Bateson, Spencer Brown, Luhmann)
11. Holismus (v. Bertalanffy, Spann)
12. Dekonstruktivismus (Derrida, Culler)
Leider bleiben diese Ansätze weitgehend partiell und
lokal und scheitern spätestens am Anspruch einer Operationalisierung und
Formalisierung ihrer basalen Begrifflichkeiten. Ebenso sind sie nicht in der
Lage ein, umfassendes und integratives konzeptionelles Modell zu entwerfen,
das einer inter- und transdisziplinären Forschung als Leitfaden,
Orientierungs- und Verständigungsmodell bzw. als neues Paradigma dienen
könnte.
D.h. sie erfüllen nur partiell elementare Kriterien
transklassischer, d.h. anti-reduktionistischer und komplexer Begriffsbildung
wie die der Erzählbarkeit, Formalisierbarkeit, Implementierbarkeit
und der Realisierbarkeit.
Ein Kriterium für die Relevanz eines neuen
Formkonzepts ist die Frage nach seiner Einbettbarkeit im Sprachrahmen des
Logozentrismus.
Ich unterscheide dabei zwei Strategien a) die
Simulation b) die Subversion bzw. die Dekonstruktion. Zur Simulation
gehören die Konzepte 'Katastrophe', 're-entry', 'Synergetik', zur
Dekonstruktion zähle ich 'differance' und 'proemial relationship',
'Kenogramm', 'Kontextur'.
Second Order Cybernetics
und Polykontexturalitätstheorie
Ist im deutschsprachigen Raum Kybernetik eine
technische Wissenschaft der informationellen Steuerung und Regelung von
Systemen in Absehung der Aktivität des Designers, so unterscheidet sich die
amerikanische Second Order Cybernetics aber auch die ehem. sowjetische
radikal von dieser dadurch, daß sie eine Reflexion auf die
logisch-strukturellen Grundlagen einer Einbeziehung des Designers in die
Beschreibung von lebenden Systemen in Gang gesetzt hat.
Diese Arbeiten wurden in den sechziger und siebziger
Jahren am Biological Computer Laboratory (BCL) der Universität von
Illinois in Urbana, USA, 1956-1974 geleistet und haben einen
Paradigma-Wechsel in der allgemeinen kybernetischen System- und
Strukturtheorie eingeleitet, der erst heute seine Auswirkungen zeitigt.
Gemeinsam am BCL sind entstanden: die Second order
Cybernetics (Heinz von Foerster, Lars Löfgren, Gordon Pask), die Theorie
autopoietischer Systeme (H. Maturana, F. Varela) und auch die Theorie
polykontexturaler Systeme (Gotthard Günther). Dazu gehören auch die
Pionierarbeiten zur Kybernetik, Systemtheorie, Selbstorganisationstheorie
(Ashby) und der Neuroinformatik (damals: Bionik).
Konstruktivismus und die Theorie autopoietischer Systeme
Beide haben viel zur Klärung der
Standpunktabhängigkeit unseres Wissens geleistet, indem sie die
Systemtheorie um eine Theorie des Beobachters ergänzt haben. Es ist nicht
grundsätzlich gelungen, den durch die Einführung des Beobachters
induzierten Solipsismus- und Relativismusverdacht zu entkräften. Der
Hauptgrund für diesen Mangel besteht darin, daß es dem Konstruktivismus
und verwandten Theorien nicht gelungen ist, den Beobachter selbst zu
relativieren. Die Beobachtertheorie geht formal von einem und nur einem
Beobachter aus. Dieser eine und einzige Beobachter läßt sich zwar in
seinen Beobachtungsfunktionen iterieren, indem er Beobachtungen von
Beobachtungen usw. generiert. Doch die Beobachter zweiter, dritter, usw.
Stufe folgen einander sukzessiv, sie sind nicht zugleich als Beobachter
gleicher Stufe in Aktion. Nur wenn mindestens zwei Beobachter gleichwertig
bzw. gleichursprünglich simultan und parallel agieren, haben sie die
Möglichkeit, die Relativität ihrer jeweiligen Standpunkte gegenseitig zu
reflektieren.
Die Möglichkeit der Entdeckung des blinden Flecks
ist in der Polykontexturalitätstheorie dadurch gegeben, daß zur Bestimmung
eines Objekts eine Vierheit von Positionen im Spiel ist, die sich
gegenseitig und gegenläufig die Möglichkeiten der Entdeckung der
jeweiligen Verdeckung zuspielen.
In den neueren Arbeiten Luhmanns ist diese
Problematik aufgenommen worden, und es wird eine Verteilung der Beobachter
vorgeschlagen, einerseits in der Zeitdimension und andererseits im sozialen
Raum. Damit verlagert sich die Problematik von der Theorie der Beobachtung
in die Theorie der Voraussetzungen der Beobachtung; nämlich in die
Problematik von Raum und Zeit. Diese können jedoch nicht problemlos
vorausgesetzt werden, sondern sind selber wieder abhängig von der Operation
der Beobachtung.
In der KI-Forschung wird etwa die Mehrsorten-Logik
zur Einführung von Kontexten untersucht. Sie bietet einen gewissen
Spielraum für verschiedene Bereiche und Parallelismen, verbleibt jedoch im
Rahmen der monokontexturalen Logik. D.h. die Mehrsorten-Logik hat keine
höhere logische Ausdruckskraft als eine ein-sortige, sie ist durch diese
modellierbar.
Es ist das allgemeine Dilemma monokontexturaler
Formalismen, Kalküle und Programmiersprachen, daß ihre konzeptionelle
Vielheit immer formal auf Einheit reduzierbar ist.
Die polykontexturale Logik bietet den Sprachrahmen
zur Formulierung, Formalisierung und Implementierung solcher komplexer
paradoxaler und selbst-bezüglicher Begriffsbildungen. So wird sie in
avancierteren europäischen Arbeiten im Bereich der Robotik, zur
Modellierung von Multi-Agenten eingesetzt.
Zur Logik der
Vexierbilder
Kippbilder werden immer wieder als Beispiele
angegeben, um Oszillationen, Selbstorganisation und Ambivalenzen jeglicher
Art zu illustrieren. Hier soll nicht der informationstheoretische oder
gestaltpsychologische Effekt beschrieben werden, sondern beispielhaft der
Mechanismus der Einbeziehung des Beobachters in die Beobachtung gezeigt
werden. Welche Standpunkte müssen eingenommen werden, damit der Prozeß des
Kippens vollständig beschrieben ist? Es soll also nicht eine externe
Beschreibung des Kippverhaltens, sondern die immanenten Mechanismen unter
Einbeziehung des Beobachtungsprozesses skizziert werden. Vexierbilder
fungieren dabei als Illustration einfachster, nämlich zweiseitiger
Reflexionsbegriffe.
Es soll hier dafür argumentiert werden, daß der
Mechanismus des Oszillierens bzw. der Symmetriebrechung einer
Zwei-Seiten-Form zur vollständigen Strukturbeschreibung insgesamt sechs
Standpunkte bzw. Thematisierungen involviert.
Beispiel: die Vase/Gesicht-Figur
1. Thematisierung der ersten Hälfte (= Vase)
2. Thematisierung der zweiten Hälfte (= Gesicht)
3. Kippverhältnis von 1. und 2. (Vase/Gesicht)
4. Thematisierung der Inversion von 1. und 2. (Gesicht, Vase)
5. Kippverhältnis von 4.1 und 4.2 (Gesicht/Vase)
6. Verhältnis der Kippverhältnisse 3. und 5.
((Vase/Gesicht)/(Gesicht/Vase))
1. Zur Beschreibung der Wahrnehmung der Figur beginnen wir willkürlich mit
der Thematisierung des Bildes als Vase. Die Vase läßt sich prädikativ
beschreiben, sie hat eine gewisse Kompliziertheit. Das Gesicht bleibt
latent, es ist der bewußten Wahrnehmung verborgen. Der Einfachheit wegen
sei die Vase auf der rechten Seite.
2. Wegen der Instabilität der Zwei-Seiten-Form ist die
Wahrnehmung gekippt: es wird jetzt das Gesicht wahrgenommen und beschrieben.
3. Beide Beschreibungen sind gleichwertig. Dies wird
vom 3. Standpunkt aus erkannt. Er liefert das Scharnier des Kippverhaltens.
Von ihm aus wird wahrgenommen, daß sich die Focussierung wieder wechselt,
nun von links nach rechts, vom Gesicht wieder zur Vase. Dieser Wechsel ist
sukzessiv und macht die (rechtsläufige) Oszillation der Wahrnehmung aus.
4. Für die Figur selbst ist es irrelevant, ob erst die
rechte und dann die linke Seite thematisiert wird. Der Kreis in 3. kann
genau so gut auch entgegengesetzt ablaufen. Simultan zur Wahrnehmung des
Gesichts kann die Vase wahrgenommen werden und umgekehrt, jedoch nicht vom
3. Standpunkt aus.
5. Die Situation des 3. Standpunkts wird hier invers
dargestellt. Das Spiel beginnt von links, vom Gesicht aus.
6. Die Standpunktinvarianz des Kippverhaltens wird von
der 6. Position aus registriert, d.h. hier wird die Gleichwertigkeit und
Simultaneität der 3. und 5. Position abgebildet. Hier wird die Differenz
der Differenzen von Vase und Gesicht dargestellt. Die Zirkularität wird
unabhängig von der durch den Beobachter bestimmten Rechts- bzw.
Linsksläufigkeit notiert. Somit ist die Figur wie auch die Tätigkeit des
Observers, d.h. die Observation strukturell vollständig beschrieben.
Durch den Durchgang durch alle strukturell möglichen
`subjektiven' Beschreibungen durch den Observer wird das Objekt der
Beschreibung `objektiv', d.h. observer-invariant `als solches' bestimmt. Das
Objekt ist also nicht bloß eine Konstruktion der Observation, sondern
bestimmt selbst wiederum die Struktur der Subjektivität der Observation
durch seine Objektivität bzw. Objektionalität. Der auf diesem Weg
gewonnene Begriff der Sache entspricht dem Mechanismus des Begriffs der
Sache und wird als solcher in der subjekt-unabhängigen Morphogrammatik
inskribiert.
Chiasmus vs.
Zirkularität: Nicht jeder Kreis geht rund
Am Beispiel der Kippfigur ist einsichtig geworden,
wie sich Selbstbezüglichkeit bzw. die Einbeziehung des Beobachters in den
Prozeß der Beobachtung, das Hauptanliegen der Second Order Cybernetics,
einführen läßt, ohne daß dabei auf Zirkularität gesetzt werden muß. In
einer allgemeineren philosophischen Terminologie, läßt sich der
Mechanismus des Selbstbezugs anhand der Begriffe Operator, Operand, Ort
darlegen.
Prädikative Argumentationen kodifiziert in der
Prädikatenlogik und den logischen Programmiersprachen , bestimmen die
abendländische Rationalität, haben den Vorteil, daß sie das Objekt, das
sie prädizieren, letztlich immer schon voraussetzen können;
kulturgeschichtlich macht dies ihre Erd- und Menschengebundenheit aus.
Anders ist die Situation im 'freien Raum', hier muß alles gesetzt, nichts
kann vorausgesetzt werden. D.h., was Grund und was Begründetes ist, muß
chiastisch vermittelt werden. Die Metapher des freien Raumes ist gewiß
nicht bloß auf extra-terrestrische Situationen bezogen, sondern trifft zu
auf jede einfache Vorausgesetztheit irdischen Ursprungs. Dies kann sein der
Markt, die Produktbezogenheit, die Menschheit, Zeichensysteme, Zukunft oder
Komplexität und Sinn.
Grund, Begründetes, Ort, Operation und Vierheit
Was Grund und was Begründetes ist, wird geregelt
durch den Standort der Begründung. Der Wechsel des Standortes regelt den
Umtausch von Grund und Begründetem. Es gibt keinen ausgezeichneten Ort der
Begründung. Jeder Ort der Begründung ist Grund und Begründetes zugleich.
Orte sind untereinander weder gleich noch verschieden; sie sind in ihrer
Vielheit voneinander geschieden. Für die Begründung eines Ortes ist eine
Vierheit von Orten im Spiel. Warum jedoch eine Vierheit von Orten? Diese
läßt sich ins Spiel bringen, wenn wir die Möglichkeiten der Operativität
einer Operation uneingeschränkt gelten lassen.
Bei einer Operation unterscheiden wir Operator und
Operand. Zwischen beiden besteht eine Rangordnung, der Operator bezieht sich
auf den Operanden und nicht umgekehrt. Diese Hierarchie ist bestimmend für
alle formalen Systeme und erfüllt die Bedingungen logozentrischen Denkens.
Wollen wir aber selbstbezügliche Strukturen erfassen, so haben wir vorerst
zwei zirkuläre Möglichkeiten: 1. was Operator war wird Operand, und 2. was
Operand war wird Operator. Unter den logischen Bedingungen der Identität
erhalten wir dadurch zwei komplementäre antinomische Situationen. Obwohl
zwischen Operator und Operand eine Dichotomie besteht, ist danach ein
Operator genau dann Operator, wenn er Operand ist, und ein Operand genau
dann Operand, wenn er Operator ist.
Diese doppelte Widersprüchlichkeit, die wegen ihrer
Isomorphie meistens nicht unterschieden wird, läßt sich vermeiden, wenn
wir die Umtauschverhältnisse zwischen Operator und Operand über
verschiedene logisch-strukturelle Orte verteilen. Diesen
Möglichkeitsspielraum eröffnet uns die Erweiterung der Unterscheidung von
Identität und Diversität zur komplexen Unterscheidung von Selbigkeit,
Gleichheit und Verschiedenheit.
Was Operator an einem Ort, ist Operand an einem
andern Ort und umgekehrt. Damit wird die Umtauschrelation zwischen Operator
und Operand nicht auf sich selbst, am selben Ort und damit zirkulär
angesetzt, sondern über verschiedene Orte distribuiert. Am jeweiligen Ort
bleibt die Ordnungsrelation zwischen Operator und Operand unberührt. Der
chiastische Mechanismus läßt sich bzgl. Umtausch-/Ordnungsrelation und
Operator/Operand zusammenfassen: Die Ordnungsrelation zwischen Operator und
Operand einer Operation wird fundiert durch die Umtauschrelation, die der
Ordnungsrelation ihren jeweiligen Ort einräumt; die Umtauschrelation
zwischen Operator und Operand wird fundiert durch die Ordnungsrelation, die
verhindert, daß sich der Umtausch zirkulär auf sich selbst bezieht.
Wie leicht einsichtig, werden in diesem Chiasmus vier
Orte eingenommen bzw. ge-/verbraucht. Damit sind alle strukturellen
Möglichkeiten zwischen Operator und Operand im Modus von Gleichheit und
Selbigkeit durchgespielt. Deshalb, und weil mit der Unterscheidung
Operator/Operand eine Elementar-Kontextur bestimmt ist, beginnt die
Polykontexturalität nicht mit Eins, sondern mit Vier; daher hier die
Vierheit.
ANHANG (aus
SNF-Antrag)
Zur
Problematik der logisch-strukturellen KOMPLEXITÄT und ANTIZIPATION
Die Erforschung komplexer Systeme im Sinne von ROSEN
(1985, 1986), d.h. nicht zu verwechseln mit der Theorie komplexer Systeme
und Selbstorganisation im Sinne von SERRA, ZANARINI (1987), ist nicht nur in
einer ersten Konzeptionalisierungsphase, sondern grundsätzlich mit nahezu
unlösbaren Problemen konfrontiert. Geht es doch darum einen
nicht-physikalistischen Zeitbegriff als Grundlage neuer Formalismen zu
etablieren, der es ermöglicht, die Einwirkung der Zukunft in die
Gegenwart , also Antizipation, zu denken. Damit ist ein genuin
humanökologisches Problem anvisiert, denn die bestehenden
systemtheoretischen Modelle (Forrester) behandeln Zukunft nur als
abgeleitete Extrapolation. Umweltbewußtsein heißt aber, die Zukunft in der
Gegenwart, als Gegenwärtigkeit der Zukunft, denken zu können.
Es stellt sich die Frage, wie eine Logik beschaffen
sein muß, um für die formale Modellierung komplexer Systeme und den darin
auftretenden Intransitivitäten, Komplementaritäten und Heterarchien ein
adäquates Organon abzugeben zu können. M.a.W., wie muß eine Logik
konzipiert sein, um etwa den Problemen der formalen Intransitivität
praxeologischer Entscheidungen z. B. Präferenzhandlungen (ARROW 1956)
genügen zu können?
Es ist eine der wichtigsten Leistungen der
BCL-Autoren (v. Foerster, Löfgren, Günther), daß sie gesehen haben, daß
die Problematik der Komplexität und Antizipation nicht mit klassischen
Mitteln angegangen werden kann, sondern eine Transformation im Bereich des
Logischen und der Ontologie verlangt.
Daß es sich dabei um Probleme der Logik handelt,
zeigt sich auch an dem Beispiel von BRAND (1980). Die Analyse komplexer
Systeme - in seinem Fall das internationale politische System (Weltmodell) -
führt bei einer konsequenten Durchführung auf Grundlagenfragen der Logik.
Ein Kontext eines komplexen Systems wird nach ihm
durch ein Boolesches Modell beschrieben. Da ein komplexes System nicht durch
einen einzigen Kontext vollständig beschrieben werden kann, reicht ein
Boolesches Modell für seine logische Deskription nicht aus. Daher werden
mehrere Boolesche Modelle höherer Ordnung eingeführt. Brand betont, daß
die Inkompatibilität zwischen den ursprünglichen Kontexten nicht aus
der Welt geschafft werden können, aber die Kontexte werden in dem neuen,
reicheren Kontext bequemer handhabbar, ... (Brand, p. 13). Was sich
abspiegelt, ist eine sukzessive Aufhebung von Komplexität in Booleschen
Modellen höherer Ordnung im Sinne etwa der Russell/Whiteheadschen
Typentheorie, d.h. durch Hierarchisierung. Auf einer hierarchisch
höheren Ebene erhält man dabei eine klassisch logische Beschreibung, die
auf der niedrigeren Ebene allein nicht möglich ist. (Brand, p. 13)
Obwohl Brand ausdrücklich Komplexität nicht
vernichten, sondern trotz ihrer Inkompatibilität Kontexte nur aufheben
möchte, läßt sich leicht zeigen, daß dies mit Hilfe der Typentheorie ,
wegen des Theorems der Typenreduktion, nicht zum Ziel führt.
Obwohl bei der Typenreduktion die Ausdrucksfähigkeit
der reduzierten Sprache erhalten bleibt, geht die Hierarchisierung in Typen
verloren. Die Typenreduktion besagt gerade, daß alles, was in einem
komplexen System zur Darstellung kommt, auch in einem homogenen System
untergebracht werden kann.
Selbst wenn man auf die Typenreduktion verzichtet und von der vollen
Typentheorie und ihrer Sprachenhierarchie ausgeht, läßt sich das Subjekt
des Betrachters nicht in das System einbeziehen, da die Hierarchie nicht
abschließbar ist, und jede n.-Stufe bezüglich der n+1. -Stufe zum
Objektbereich des Beobachters wird. Das Subjekt wird also sozusagen ins
Unendliche abgeschoben. Dies steht klar im Widerspruch zur Behauptung, daß
ein System nicht an sich, sondern für einen Beobachter komplex ist.
Brand sieht zwar, daß die Einbeziehung des
Beobachters in die Beobachtung gegen das Prinzip der Objektivität
verstößt, übersieht jedoch, daß die Boolesche Logik und die Typentheorie
gerade die Logik der Objektivität sind. Die Einbeziehung des Beobachters in
die Beobachtung entspricht einem Paradigmawechsel, denn das klassische
Paradigma wird gerade durch Ausschluß von Subjektivität zugunsten der
Objektivität definiert.
Das Problem der Hierarchisierung hätte statt mit der
Typentheorie und ihrer Hierarchisierung der Prädikationsfunktion auch mit
einer mehr-sortigen Logik, mit einer Kontextlogik oder sonst einer Logik,
die eine Typisierung zuläßt, angegangen werden können.
Von einem rein praktischen Standpunkt aus ist die
Entscheidung für eine der genannten Logiken legitim, denn es gibt heute
noch kein allgemein anerkanntes Logiksystem, das in der Lage ist, komplexe
Denk- und Handlungsbegriffe, d.h. kognitive und volitive Konzepte
gleichrangig nebengeordnet und nicht subsumtiv, sondern heterarchisch zu
konzeptualisieren. Als Kandidat einer solchen komplexen Logik gilt weiterhin
die poly-kontexturale Logik (GÜNTHER 1976, 1978, 1979, 1980).
Die Option
der Polykontexturalitätstheorie
Hauptthese der Polykontexturalitätstheorie im
Zusammenhang mit den konzeptionellen Problemen der Humanökologie:
Selbstbezüglichkeit und irreduzible Polysemie (DERRIDA
1967), also Komplexität, sollen nicht zirkulär und rekursiv im Modus der
Identität (VON FOERSTER 1977) hierarchisch, sondern chiastisch (OLSSON
1991) und polykontextural (GÜNTHER 1970, KAEHR 1976, 1981, 1992), d.h.
verteilt über mehrere Kontexturen einer Verbundkontextur, modelliert
werden. Damit werden die logischen Antinomien der Zirkularität vermieden,
ohne daß dabei die genuine Selbstrückbezüglichkeit der Begriffsbildung
geopfert werden muß.
Die Theorie der Polykontexturalität
(Polykontexturale Logik, Morphogrammatik, Kenogrammatik, Disseminatorik,
u.a.) hat sich nach Erfahrung des Antragstellers vielseitig bewährt, die
oben erwähnten Ansätze zu einer komplexen Systemtheorie zu integrieren,
aufeinander zu beziehen und konzeptuell und operational abzudecken
(DITTERICH 1990, KAEHR 1992).
Eine Formalisierung polykontexturaler Zusammenhänge
kann nicht durch intra-systemische Erweiterungen einer monokontexturalen
Logik realisiert werden. Formale Systeme müssen sich als Ganze in eine
Erweiterung einbeziehen lassen, d.h. es muß eine Vielheit von Logiken
zugelassen werden. Diese Vielheit der distribuierten Logik-Systeme muß zu
einer komplexen Ganzheit, einer Verbund-Kontextur (Polykontexturalität)
vermittelt werden.
Skizze der Konstruktion
Disjunkte Logik-Systeme sollen über eine Indexmenge
distribuiert werden, ein ausgezeichnetes System übernimmt die Rolle des
Basissystems. Was nun lokal als Wiederholung des Basissystems über
verschiedenen Indizes eines logisch-strukturellen Raumes erscheint, zeigt
global Struktureigenschaften, die dem einzelnen Logik-System lokal fremd
sind.
Dabei fungiert die Ausgangslogik als typisches System
der Distribution. D.h. zum Beispiel, daß die klassische Logik mit ihrer
Zweiwertigkeit über verschiedene logische Orte distribuiert wird. Dabei
erhalten die verteilten Logiken je Ort eine Indizierung ihrer von der
Ausgangslogik vererbten Wahrheitswerte. Bei diesem Mechanismus der
Distribution (Faserung) wird die Ausgangslogik gebraucht, um die Verteilung
zu konstruieren. Sie wird dabei selbst nicht thematisiert und fungiert bloß
als Ausgangssystem der Distribution. Ihre Selbst-Thematisierung, die aus
Gründen der Vollständigkeit der Konstruktion vollzogen werden muß, kommt
in einer außerlogischen Ebene (Morphogrammatik) zur Darstellung. Denn die
Ausgangslogik hat als solche den Index Null. Nur so kann sie typisch für
die distribuierten Logiken sein. Die Abstraktion von den Werten, d.h. jetzt
von den indizierten Werten - allg. von der Satz- bzw. Regelstruktur der
Ausgangslogik -, erzeugt die Morphogrammatik der Ausgangslogik. Die
Morphogrammatik erfüllt die formalen Bedingungen der Vermittlung, d.h. in
ihr ist die Wahrheitswert-Widersprüchlichkeit der Vermittlung, wie sie bei
einer direkten Vermittlung der über die verschiedenen Orte verteilten
Logiken entsteht, widerspruchsfrei darstellbar, da in der Morphogrammatik
von jeglicher logischen Wertigkeit abstrahiert ist.
Sind einmal Komplexionen von formalen Systemen
komponiert, so lassen sich neue Gesetzmäßigkeiten der Reflexionsform
zwischen ihnen und ihren Komponenten, den Elementar-Kontexturen,
feststellen.
Die Distribution und Vermittlung klassischer Logiken,
ihre Dissemination bedeutet vorerst, daß die eine klassische Logik als
typisches System über eine Vielzahl von logischen Orten verteilt ist. An
jedem dieser Orte gilt die klassische Logik lokal. D.h. die klassischen
logischen Gesetze bleiben bei der Distribution intakt. Sie wiederholen sich
an jedem Ort und üben dort ihre Gültigkeit aus. Es wird also nicht nur
kein Gesetz der klassischen Logik amputiert, sondern verschiedene
Verflechtungen dieser nun distribuierten Gesetze bereichern den Formalismus.
Zu den klassischen Gesetzen, die je auf einen Ort bezogen ihre lokale
Gültigkeit haben, kommen die neuen transklassischen logischen Gesetze
hinzu, die simultan zwischen den Orten gelten, also die Gesetze der
Transjunktionen und des non-monotonen Schließens.
Chiasmus von Kontext und Kontextur
Zwischen verschiedenen Kontexturen und zwischen
Kontexturen und Kontexten besteht kein hierarchisches Grundverhältnis.
Vielmehr besteht ein heterarchisches Wechselspiel von Kontexturen und ihren
jeweiligen Kontexten, so daß ihre Funktionalität als Kontextur bzw.
Kontext wechselseitig ineinander übergehen kann. Damit werden die Kontexte
zu Kontexturen erhoben und erhalten ihre eigene Logik. Diese kann selber
wiederum eine Basis für Kontexte abgeben. Der inverse Vorgang, daß
Kontexturen als Kontexte fungieren, ist auf Grund des Wechselspiels zwischen
Kontexten und Kontexturen Teil des Formalismus und ermöglicht so auch das
systemische Zugleichbestehen von Kontext und Kontextur. (KAEHR 1989,1993,
KAEHR / V. GOLDAMMER 1988, 1989)
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