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IM KONTEXT:

Gotthard Günther 
2000 Special

 

DIE ZEIT vom 13.Juni 1980, Nr. 25

Negativsprache 
zur Erfassung der Welt ? 

Der Philosoph Gotthard Günther 
wird achtzig Jahre alt 

von Willy Hochkeppel

Gotthard Günther 1980Von seinem Volksschullehrer wollte der Sproß aus dem Pastorenhaus im Riesengebirge wissen, warum man immer nur Kirchen und nicht Kirchen, Krokodile, Mütter und Zahnschmerzen zusammenzählen könne. Warum man also, wie er später sah, alles in ein qualitäts-tilgendes Größenschema pressen müsse, Jahre danach überlegt er, daß die Kolonne der natürlichen Zahlen auch seitwärts abweichen könnte, statt immer hintereinander im Gänsemarsch zu verlaufen. Eine solche "Seitwärtsbewegung" der natürlichen Zahlen hatte in der Tat schon ein amerikanischer Mathematiker ins Auge gefaßt; sie ergäbe sich, wenn man aus unserem klassischen, zweiwertigen logischen Denksystem ausstiege. Den Ausstieg aus der überkommenen aristotelischen Logik, den Überstieg in eine "transklassische", mehrwertige Logik - dieses schwindelerregende Manöver übt der nun achtzigjährige Gotthard Günther seit nunmehr rund fünfzig Jahren im schwerelosen Raum einer Hegels spekulatives Denken und die Kybernetik vermittelnden erweiterten Rationalität.

Das klingt durchaus nach science fiction, doch darin sieht Günther keinen Makel. Dieses Genre versteht nämlich der 1949 amerikanischer Staatsbürger gewordene Schlesier - er hat es "nie bereut" - als Designat amerikanischen Frontier-Geistes und literarisches Symptom "eines totalen Ausbruchs aus der klassisch-abendländischen Tradition des Denkens". In andere Welten fühlte er sich schon zu Beginn seiner Studien ein, ins klassische Chinesisch, in Sanskrit und Indologie. Heute steht er in gewissermaßen distanzierter Nähe zu einem dialektischen Materialismus.

Äußerlich ist der eher schütter wirkende kleine Herr zweifellos der deutsche Gelehrte geblieben, der die Idee des Preußentums "zeitlebens verehrt" hat, auch wenn er bei internationalen Hegelkongressen mit Baseball-Kappe auftaucht, als ginge es ins Yankee-Stadion. Kaum jemand, der ihn nicht kennt, vermutet hinter diesem Image den leidenschaftlichen Skifahrer und Ski-Experten, der "so ziemlich alles, was über die Welt des Skis von 1910 bis in die letzten Jahre erschienen ist, gelesen hat"; oder den Flieger mit der A-, B- und C-Prüfung und dem Internationalen Leistungsabzeichen für Segelflug, dem Kunstflug- und dem Motorflugschein.

Das alles hört sich auch nicht gerade nach dem Lebenslauf eines "ordentlichen" Professors an. Kein Zweifel: Gotthard Günther ist Outsider. Die Ziele, die er sich gesteckt hat, mußten ihn immer weiter vom akademischen Philosophie-Betrieb entfernen. Zwei Anforderungen, zur "Kathederphilosophie" zurückzukehren, hat er abgelehnt. Das war 1972 bei seiner Emeritierung von der Universität in Urbana/Illinois, wo er dank der Vermittlung seines Freundes Warren S. McCulloch, des berühmten Kybernetikers, über ein Jahrzehnt lang "nicht ohne ein etwas wunderliches Gefühl" als Professor of Electrical Engineering tätig war. Heute lebt Günther in Hamburg.

Der scheinbar abseitige Weg von Hegel zur Kybernetik war keineswegs sprunghaft, kein Sphärenwechsel; er war kontinuierlich, zwangsläufig und wohl seit der Dissertation bei Eduard Spranger und dem aus ihr hervorgegangen Buch "Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik", 1933 erschienen, vorgezeichnet. In diesem Buch, das nebenbei eines der gelungensten Interpretationen der "grotesken Felsenmelodie" - so der junge Marx - Hegelscher Gedankengänge darstellt, zeigte Günther, daß sich in Hegels "Logik", in der doch Inhalt und Form als untrennbar verquickt galten, dennoch ein formales Prinzip, ein logischer Formalismus, abheben ließ, der allerdings die klassiche zweiwertige Logik, wenn nicht sprengen, so doch zum Spezialfall einer umfassenderen mehrwertigen Logik degradieren müßte. Hegelianer aller Spielarten bekundeten freundliche Verständnislosigkeit gegenüber derartigen "formalistischen" Experimenten, während moderne Logiker, die stets von der Hegelschen Logik, der Dialektik, "Machbarkeit" verlangten, diesen - tatsächlichen oder vermeintlichen - Nachweis ihrer Formalisierbarkeit bis heute nicht zur Kenntnis genommen haben. Vielleicht argwöhnten sie, sich irgendwelche Metaphysik, irgendeine Weltanschauung einzuhandeln, wenn sie sich auf Günthers transklassische Logik einließen.

Insofern nun Günther eine philosophische Erneuerung der Logik anstrebt und nicht bloß technische Verfeinerung der herkömmlichen, springt für ihn allerdings und eingestandenermaßen eine neue "Weltanschauung" dabei heraus. Auch die alte Logik, sagt er, ist ja metaphysisch-weltanschaulich auf die beiden Pole Erkennen und monolithisches Sein, Subjekt und Objekt, Idee und Materie oder derzeit Idealismus und Materialismus fixiert. Aus der damit gesetzten fatalen Zwei-Welten-Lehre und ihrer Logik der Unversöhnlichkeit kommt man eben nur heraus, wenn man sich vom Denken in der traditionellen zweiwertigen Logik - mit den Werten "wahr" und "falsch" freimacht und diese in ein mehrwertiges Logik-System transzendiert. Zwar gibt es bereits verschiedene mehrwertige Logik-Modelle, aber die bieten, wie Günther unwidersprochen klarmacht, lediglich Abstufungen, Grade von Wahrscheinlichkeit zwischen den beiden Polen "wahr" und "falsch".

Günthers Fluchtweg aus dem Bannkreis klassischer, zweiwertiger Logik in die Mehrwertigkeit und in eine neue Dimension menschlicher Rationalität sieht, auf das Skizzenhafteste verkürzt, etwa so aus:

Der normale logische Prozeß beschreibt ein unmittelbares Denken eines Gegenstandsbereiches, eine einfache Reflexion - ein Ich denkt einen Stein.

Der Schritt darüber hinaus ist die doppelte Reflexion - das Denken des Denkens des Steins.

Im ersten Fall einer klassischen Logik ist der Gegenstand der Reflexion der Stein; im zweiten Fall einer transklassischen Logik ist der Reflexions-Gegenstand der gedachte Stein, also die Reflexion selbst.

Anders gesagt: die transklassische Logik ist das Denken der klassischen Logik. Und weil jene es nicht mehr direkt mit realen Gegenständen zu tun hat, verlieren, meint Günther, in ihr Begriffe wie "falsch" und "wahr" ihren Sinn. Der klassische Wahrheitswert spaltet sich gleichsam auf und die klassische Logik erhält im Rahmen der Mehrwertigkeit veränderte Stellenwerte zugeteilt, so wie in der Arithmetik Zahlen durch Veränderung ihrer Stellenwerte einen anderen Rang erhalten.

Für die Beschreibung der objektiven Wirklichkeit bleibt damit die klassische Logik, auf die unser Gehirn programmiert ist, gültig. Denn eine unmittelbar auf die Realität statt auf das diese reflektierende Bewußtsein angewandte transklassische Logik würde natürlich eine Welt abbilden, "in der der Wahnsinn regiert". Das Ganze der Wirklichkeit, so stellt es Günther dar, ist vielmehr eine Art Konglomerat unendlich vieler "ontologischer Orte", die, isoliert betrachtet, durch eine zweiwertige Logik beschreibbar sind; als Gesamt dieser Orte kann Wirklichkeit indes nur durch ein mehrwertiges System abgebildet werden. Die Welt, so ließe sich sagen, besteht aus unendlich vielen Stellen klassischer Rationalität, deren Zusammenspiel aber durch punktuelle Rationalität nicht durchschaubar wird.

Der Mannigfaltigkeit der Welt entspräche übrigens viel besser eine "Negativsprache". Zu dieser absurd anmutenden, originellen Idee Günthers läßt sich hier andeutungsweise nur soviel sagen, daß eine Negativsprache durch den Reichtum vielfacher Verneinungen die "Hintersinnigkeit der Gedanken" weitaus treffender zum Ausdruck brächte als unsere auf Bejahung beruhende, eher plump-naive "Positivsprache".

Günthers zäh durchgehaltene Lebensarbeit - er "war und ist ein extrem langsamer Lerner", meint er - besteht darin, eine solch komplexe Welt und deren Begreifen vom Ruch schwer verdaulicher, phantastischer Spekulation befreit und demonstriert zu haben, daß, eine entsprechende transklassische Logik der Reflexion als formaler Kalkül, als Regelsystem also, mit dem man "rechnen" kann, machbar ist. Die Kybernetik war dazu das geeignete technische Hilfsmittel, zumal deren Theorie es ja ihrerseits mit der maschinellen Simulation komplizierter Bewußtseinsprozesse zu tun hat. Die Metaphysik der Kybernetik als Erweis der "technischen Machbarkeit" erlebnishafter, subjektiver Ereignisse war es, die Günther fasziniert hat und zu deren Grundlagen sein bei uns vielleicht bekanntestes Buch "Das Bewußtsein der Maschinen" aus dem Jahr 1963 beigetragen hat.

Die Frage, ob Günthers verwegenes Unternehmen - nicht weniger waghalsig, finde ich, als etwa der Versuch, das mathematische Dreikörperproblem lösen zu wollen - Hegels Dialektik zum funktionierenden Schaltsystem eines Denkens zu präzisieren, das dem menschlichen Geist neue Perspektiven eröffnet und Ich und Welt in ein verändertes, ranggleiches Verhältnis setzt, erfolgreich war, ist angesichts dieser Anstrengung des Begriffs als solcher fast schon belanglos. Selbstkritisch nennt der Philosoph übrigens seine bisherigen Versuche, mit denen er sich in einen "unversöhnlichen Gegensatz" zum "philosophischen Zeitgeist" setzte, "unzureichend". Im Rückblick sind ihm die umfangreiche Arbeit "Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik" oder manche der "Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik" Stufen, die hinter ihm, dem jetzt Achtzigjährigen (immer noch aktiver Skifahrer), liegen. Als work in progress also, nicht als fixes Resultat, ist Günthers in jedem Sinne exzeptionelles Werk zu verstehen und zu lesen.

 

- Ende - Artikel aus "DIE ZEIT" -

Gotthard Günther verstarb am 29. November 1984 in Hamburg

Bücher von Gotthard Günther : 

- Günther G.: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1978 (ISBN 3-7873-0392-8). This volume contains "Materialien zur Formalisierung der dialektischen Logik und der Morphogrammatik" by Rudof Kaehr. 
- Günther G.: Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1978 (ISBN 3-7873-0435-5). 
- Günther G.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik (vol. 1-3), Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1976-1980. Vol.1: 365 pages, 
ISBN 3-7873-0371-5 
Vol.2: 336 pages, ISBN 3-7873-0462-2 
Vol.3: 345 pages, ISBN 3-7873-0485-1. 
- Günther, G., in: Philosophie in Selbstdarstellungen II, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1975.