HÖRZU !
oder: Warum viele Künstler leider weiter
am Hungertuch nagen müssen
von Endrik Lauer
Der Komponist Jean Sibelius soll einmal geäussert
haben, Sinn für Musik habe er „eigentlich immer nur bei Bankiers gefunden,
höchst selten bei Künstlern, die lieber über Geld reden.“ Ein
bemerkenswertes Bonmot für einen Künstler. Gehört es doch seit der Antike
zu den Standards ihrer Rhetorik, das Geld, seine korrumpierende Macht und
seine ästhetisch meist ignoranten Besitzer auf das übelste zu beschimpfen.
Die Freuden des Golf–Fahrens oder die Vorzüge edler Markenkleidung zu
besingen, mag wohl kurzfristigen Ruhm als Popliterat begründen und hohe
Verkaufszahlen bescheren – unter Kunstverdacht steht es kaum. Wer gegen
Bares das Foyer der Deutschen Bank ausmalt, hat noch seine subversivsten
Bildbotschaften an die Macht des Kapitals verraten. Und zur Legende des
genialen Mozart passte es einfach besser, hätte er sein Requiem in totaler
Verarmung komponiert statt in auskömmlichen Verhältnissen, wenngleich mit
saftigen Spielschulden.
Den schweren Dienst am Wahren, Guten, Schönen
beglaubigen Künstler besser durch karge Existenzbedingungen. Das Leben der
Boheme soll arm, aber aufrecht sein. Denn ob Geld in Form von
Direktüberweisungen, neofeudaler Protektion oder von Verkaufserfolgen ins
Spiel kommt, ist eigentlich ziemlich wurscht. Der Tausch von Kunst gegen
Kohle begründet zuverlässig stets einen Verdacht: dass hier jemand ideelle
Motive schnödem weltlichen Profit geopfert habe. Kommerzieller Erfolg
stellt Kunstansprüche grundsätzlich in Frage.
Allein: Wer sein Leben der Kunst weiht, hat leider
oft einen ausgeprägten Sinn auch für die schönen irdischen Dinge. Leonardo
liebte edle Stoffe und sündhaft teure Gewürze ebenso wie die Künste und
Wissenschaften. Richard Wagner hinterliess allein 48 seidene Morgenröcke.
Selbst der wackere Karl Marx bestellte lieber ein paar Kisten Rheingauer
Riesling oder ein Klavier, statt mit Friedrich Engels‘ Schecks die Miete
oder seinen Beitrag an die 1. Internationale zu bezahlen.
Lassen wir die radikale Fraktion der wahren Asketen
aussen vor. Vorzugsweise über Geld reden am liebsten jene Künstler, die
seine Quellen zwar recht ordentlich verachten, den Zaster aber lustig
verprassen, statt ihn wie der Bourgeois ängstlich zu horten. Warum nicht
die Taschen der reichen Spiesser und der Mächtigen so weit wie möglich
leeren? Verschafft man diesen damit doch Entlastung von ihrem notorisch
schlechten Gewissen – und führt zugleich den angeeigneten
gesellschaftlichen Reichtum wieder edleren Verwendungen zu.
Steigen wir nun ein wenig auf aus dem Tal gut
abgehangener Vorurteile und blicken wir von oben auf die Szene. Ich hoffe,
der Soziologe Niklas Luhmann dreht sich angesichts meines hoffnungslos
unterkomplexen Gebrauches seiner Theorie nicht im Grabe herum. Doch nicht
nur durch die Brille der Systemtheorie erkennt man schnell eine
bemerkenswerte strukturelle Gemeinsamkeit von Kunst und Geld: beide
leisten symbolische Zweitcodierungen der Welt. Ihre Zeichensysteme treffen
gegenüber der unendlichen Komplexität der Welt Unterscheidungen, mit denen
man arbeiten kann. Geld wie Kunst stiften Ordnungssinn und geben der
Kommunikation in der und über die Welt eine Struktur. Zugegeben: eine
überaus abstrakte Gemeinsamkeit. Aber das war’s dann auch schon.
Viel interessanter ist die entscheidende Differenz
von Kunstsystem und Wirtschaftssystem. Das „Problem“ der Wirtschaft heisst
– Knappheit.
Die Menge der Güter (übrigens auch die der Bilder)
und der Dienstleistungen (auch die der Symphoniekonzerte) ist prinzipiell
begrenzt. Die Menge der Wünsche, auf diese Güter zuzugreifen, prinzipiell
nicht. Die geniale Lösung besteht in der Verdoppelung dieser realen
Knappheiten durch eine künstlich erzeugte Knappheit: Geldknappheit. Wer
entsprechend zahlt, der bekommt widerstandslos vom Bäcker ein Brot, von
Armani einen Anzug oder vom Galeristen ein Gemälde.
Knappheit reguliert geldgesteuerte
Wirtschaftssysteme aber noch auf einer anderen Ebene. Denn Geld verknappt
ganz extrem die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Kommunikation. Genau
genommen auf eine einzige, kühle, technische Unterscheidung: zahlen oder
nicht zahlen. Den Bäcker muss es nicht interessieren, ob ich sein Brot
esse oder damit nächste Woche eine Scheibe einwerfe. Armani darf es
herzlich egal sein, ob Ihnen ein italienischer Anzug wirklich steht. Und
die Motive eines Galeristen, einen bestimmten Maler auszustellen, müssen
mich ebenso wenig bewegen, wie diesen die Frage, ob ich den Kaufpreis
eines Bildes durch Steuerhinterziehung oder Steuerberatung aufgebracht
habe. Mit einem Wort: Geld kappt – bis auf Zahlungsakte oder
Zahlungsverweigerungen – alle kommunikativen Anschlussmöglichkeiten.
Jede Vernissage, jeder Theaterabend und jede
beliebige Feuilletondebatte beweisen uns schlagend, dass im Kunstsystem,
dem so genannten Kulturbetrieb schlechthin das Gegenteil beabsichtigt ist:
nämlich kommunikative Anschlußmöglichkeiten geradezu unendlich zu
vermehren. Hier gilt:
„Bin die Verschwendung, bin die Poesie; / Bin der
Poet, der sich vollendet, / Wenn er sein eigenst Gut verschwendet“ (um mit
Johann Wolfgang von Goethe mal einen wohlhabenden Dichter zu zitieren).
Die Systemleistung der Kunst besteht nämlich darin, Alternativversionen
der eingespielten Realität präsent zu halten. Einfacher gesagt: uns
dauernd zu zeigen, dass alles auch ganz anders sein könnte. Durch
permanente Sinnüberflutung sorgt die Kunst dafür, dass andere Systeme
irrtums– und störanfällig bleiben. Entgegen ersten Vermutungen ist dies
nämlich eine Grundbedingung ihres Fortbestandes. Ohne Crash keine Börse,
ohne Konjunkturkrise keine Wirtschaft, ohne Demos keine Politik, ohne
Verbrechen kein Recht – und ohne Theaterskandal keine „Öffentlichkeit“.
Also: Kunst produziert alternative Weltsichten.
Kommunikatives Störfeuer gewissermassen. Im Gegensatz zu Rezessionen oder
Mordprozessen gilt hier freilich die Regel: No limits! In der Politik sind
Ritualmorde keine zugelassene Handlungsalternative. Im Theater darf man
das Wüten Antigones oder Penthesileas nach wie vor mit allen Farben des
Schreckens ausmalen. Ein weisses Quadrat auf weissem Grund ist keine
zustimmungsfähige Aussage unter Physikern. In der Kunst war es eine
grundstürzende Botschaft. Wenn jemand auf der Jahrestagung des
Arbeitgeberverbandes drei Minuten und 37 Sekunden schweigt und dabei
zweimal seinen Aktenkoffer auf– und zuklappt, dann wird irgend jemand
einen Arzt rufen. Wenn ein Pianist das gleiche mit einem Flügel tut, dann
ist es ein Stück von John Cage und zumindest beim ersten Mal eine
ästhetische Provokation. Zugleich jedoch kann man auch nach Malewitsch
gegenständlich malen und nach Schönberg ein tonales Streichquartett
komponieren. Das Schauspielhaus wird Dienstags das Publikum mit einem
heiteren Salonstück amüsieren und Mittwochs die Schauspieler mit heiligem
Ernst Handkes Verse rezitieren lassen. Ein bestimmtes Gemälde versenkt
Frau Meier in mystische Meditation. Herr Meier findet nur, dass es gut zum
Sofabezug passt. Anything goes!
Besteht die Grundfunktion der Kunst in ästhetischer
Sinnüberflutung der Gesellschaft, dann stellen sich früher oder später
ernste Folgeprobleme ein. Erstens: ästhetische Überproduktion. Zweitens:
Verlust der Differenzierungssicherheit. Wenn scheinbar alles geht – eben
auch das Gegenteil – und wenn man alles so oder auch ganz anders sehen
kann, dann drohen nicht allein systeminterne ästhetische Differenzen wie
schön / häßlich, gelungen / mißlungen, oder alt / neu einzubrechen,
sondern auch die Differenz zwischen System und Umwelt selbst. Sprich:
zwischen der Kunst und allem was nicht Kunst ist. So wird dann zum
Beispiel beim Betrachter Unsicherheit darüber erzeugt, ob ein Feuerlöscher
im Museum schlicht ein Feuerlöscher ist oder doch ein Kunstobjekt. Eine
situationistische Wiener Theatertruppe kann, so geschehen beim
Weltwirtschaftsgipfel in Genua, von der Polizei mehr oder minder
versehentlich dem Schwarzen Block zugerechnet, brutal verhaftet und
wochenlang inhaftiert werden.
Richtig spannend wird die Lage, wenn Kunst und Geld
wieder aufeinanderstossen. Denn auch die Kunst nimmt natürlich
Systemleistungen der Wirtschaft in Anspruch. Es wird Geld gezahlt – oder
auch nicht. Das nennt man dann Kunstmarkt, Büchnerpreis, Eintrittskarte,
Subventionskultur oder public private partnership. Eines fällt dabei
allerdings sofort und durchgängig auf: Speist man Kunstwerke – egal an
welcher Stelle – in den Wirtschaftskreislauf ein, dann bekommt man bloss
Geld oder kein Geld. Antworten jedoch auf all die bewegenden Fragen nach
Wahrheit und Lüge, Kunst oder Unterhaltung, Schönheit und Hässlichkeit
oder Sein versus Design bekommt man nicht.
Die Zahlungsbereitschaft von Individuen und
Institutionen für Kunst ist natürlich auf nichtökonomische Motive
angewiesen. Aber das gilt für jeden Kauf. Nur: Der nüchterne
Zahlungsvorgang verrät bei Kunstwerken über diese Motive genauso wenig wie
bei Automobilen. Preise drücken Präferenzen aus. Aber die lustigen
Banalitäten eines
Jeff Koons erzielen im Zweifelsfall bei einer
Auktion denselben Preis wie die tiefernsten Meditationen eines Barnett
Newman. Mag wohl sein, dass der Stadtrat die Börse zur Subventionierung
eines neuen Musicaltheaters gerne etwas weiter öffnet als für eine
experimentelle
Alternativbühne. Aber am Ende fliesst die
„Staatsknete“ in beide Richtungen. Natürlich bekommt John Grisham höhere
Vorschüsse als Botho Strauß. Aber am Ende kosten beide Bücher 39,90. Und –
glauben sie dies einem Lektor – auf jeden schwer verkäuflichen Gedichtband
kommen mindestens zehn gefloppte Schmonzetten und fünf Ratgeber mit
weniger als 3000 verkauften Exemplaren.
Ich komme nun zu meiner Schlussthese. Und damit
zurück zur Ausgangsfrage, warum viele Künstler leider am Hungertuch nagen.
Nur um kurz zu resümieren: Die funktionale Leistung der Kunst besteht in
einer ästhetischen Sinnüberflutung der Gesellschaft: einem Dauerangebot
alternativer Weltsichten und vulgo alternativer kommunikativer
Anschlussmöglichkeiten. Eine der Folgen ist eine dramatische ästhetische
Überproduktion. Nun ist Überproduktion bekanntlich und beileibe kein
exklusives Problem der Kunst. In unserer Gesellschaft gibt es, unter
anderem, ja auch zu viele Autos, zu viele Biersorten und zu viele
Fernsehsender. Solange drei Programme von fünf bis Mitternacht zu
empfangen waren, gab der Imperativ HÖRZU! einen passablen Titel für eine
TV–Zeitschrift ab. Bei dreissig bis vierzig Kanälen wirkt dieses Kommando
nur noch hilflos und völlig absurd. Und so plagen sich Fernseh– und
Werbeverantwortliche – noch sind das getrennte Funktionen – heute immer
weniger mit der Frage, mit welchen Filmen, Serien, Shows und Spots sie den
Zuschauer am besten erreichen. Viel häufiger quält sie, ob sie ihn
überhaupt noch erreichen. Was Medienleuten längst in Fleisch und Blut
übergegangen ist, das lehren viele Business Schools und Business Books
inzwischen auch die Manager anderer Gewerke: Es gibt in unseren
entwickelten
Industrie–Dienstleistungs–Informations–Freizeit–Spassgesellschaften nur
noch ein einziges, allerletztes knappes Gut – Aufmerksamkeit. Leider liegt
es auf der Hand, dass Aufmerksamkeit zugleich ein unverzichtbares Elixier
ästhetischer Kommunikation ist. Also: Dass Kunst unter Marktbedingungen
nicht nur gegen andere Kunst, sondern zusammen mit Schals, Schokolade und
Daily Soaps um dieses knappe Gut menschlicher Aufmerksamkeit konkurrieren
muss, das ist die erste schlechte Nachricht.
Die zweite lautet: Es gibt eine noch schlechtere
Nachricht. Und die geht so: Seit geraumer Zeit entdecken die
Marketing–Gurus, dass die Kunst der Erweckung und Befriedigung von
Bedürfnissen sowie des Verkaufens von Produkten und Dienstleistungen in
ein neues Zeitalter eingetreten ist. Ursprünglich kauften Konsumenten ein
Produkt wegen seiner sachlichen Funktion. Stichwort: Nutzwert. Deshalb
wusch Ariel nicht nur sauber, sondern rein. Heute weiss fast jedes Kind,
dass nahezu alle Waschmittel gleich weiss waschen.
Die Kunst ging dieses Funktionsargument überhaupt
nichts an. Schnöden Nutzwert hatte diese Nachbildungen schliesslich nie
beansprucht. In Phase zwei erwarteten die Konsumenten vom Produkt zugleich
eine soziale Funktion. Stichwort: Image. Wer Marlboro raucht, in dem
steckt ja vielleicht wirklich ein Cowboy. Das ist immer noch so. Doch
haben die Verbraucher die Rollenspiele der Warenästhetik nicht nur
durchschaut, ein bisschen langweilig finden sie sie mittlerweile auch.
Die Position der Kunst war hier schon wesentlich
schwieriger: Hatten doch Repräsentationsfunktionen zumindest in ihrer
Geschichte eine massgebliche Rolle gespielt. Aber: Kunst mit
Imagefunktion, das ist eben Design, Kitsch oder „Kunst am Bau“. Neben den
Einfallstoren für rettende Polemiken liess sich meist trefflich das
Türschild „Kulturindustrie“ anbringen.
Heute nun treten wir in Phase drei des Marketings
ein: Von einem Produkt oder einer Dienstleistung erwarten Verbraucher
zugleich eine, man muss es wohl so nennen, metaphysische Funktion. Die
Fachleute sprechen hier von second order desires. Kleidung soll nun eine
„Persönlichkeit ausdrücken“. Dabei kann sie ebenso als Requisit
bürgerlicher Gediegenheit dienen wie als Manifestation rebellischer
Gesinnung. Das Image von Michael Jordan verkauft immer noch Turnschuhe.
Doch wehe, sie wurden von Kindern in einem Sweatshop in der Dritten Welt
hergestellt! Ethische Bedenken ziehen dann unmittelbaren Konsumboykott
nach sich. Und mit einer Teilnahme an der Camel Trophy will man weniger
dokumentieren, was für ein harter Bursche man ist.
Erfolgreich sind solche Events, weil sie dem
Konsumenten Selbstverwirklichung, Grenzerfahrung oder Erweiterung seiner
Persönlichkeit versprechen. Materielle Produkte rücken dabei immer mehr in
den Hintergrund des Interesses. Die Zukunft gehört Ayurveda–Kuren auf
Bali, Tarotkursen in der Toskana oder dem römischen Wochenende in den
Pyrmonter Thermen. Das Geschäft blüht auf der Basis von Inszenierungen.
Erschwerend hinzu: der transzendentale Erlebniskonsum ist synästhetisch.
In den Klang der Türen ihrer Automobile investieren BMW oder Mercedes
heute fast genauso viel wie in die Entwicklung des Motors. Wie ein Stoff
sich anfühlt ist wichtiger als die Frage seiner Haltbarkeit. Eine
theatralische Beleuchtung und verkaufsfördernde Duftnoten entscheiden
mindestens ebenso über den Erfolg eines Warenhauskonzeptes wie eine
optimale Preisgestaltung.
Kunst konkurriert mit Konsumprodukten und
kommerziellen Dienstleistungen um exakt die gleichen höheren, ideellen
Motive und Entscheidungsgründe von Konsumenten. Der Markt wird noch enger.
Kommerzielle Konzepte werden von künstlerischen Konzepten schwerer zu
unterscheiden sein. Und selbst die strikte Verweigerung kommerzieller
Attitüden – nahezu zweihundert Jahre der bevorzugte Ausweis künstlerischer
Ernsthaftigkeit – zieht nicht mehr. Auch den schnöden Kommerz statten
philosophisch, sozial und ästhetisch restlos aufgeklärte
Marketingspezialisten immer öfter mit der Aura der Konsumverweigerung aus.
Nur die Kunstreligiösen rümpfen noch die Nase, dass das Gesetz von Angebot
und Nachfrage auch für tendenziell immaterielle Werte gilt. Der in Sachen
Kunstbetrieb Illusionsarme ist besser dran. Gerade an den bizarren
Auswüchsen dieser unauflöslichen Symbiose kann man das Arkanum Markt in
zugespitztester Form studieren. In der Aura des Kunstwerks findet sich
jene spirituelle Erfahrung des Religiösen, in der das Transzendente im
Immanenten, das Immanente in seiner Transzendenz erfahren wird.
Was also bleibt?
Entweder muss sich die Kunst mit heiterer
Gelassenheit in dieses Getümmel stürzen. Oder sie muss das gleiche tun,
was manche Theologen den Kirchen empfehlen: Schluss zu machen mit der
Illusion umfassender gesellschaftlicher Daseinsfürsorge und sich zu
besinnen auf die Verehrung Gottes, den Kult des Heiligen und die
„Anschauung des Universums“ (Friedrich Schleiermacher). Das würde beide
gewiss einen Grossteil ihrer sozialen Wirkung kosten. Aber für die
verbleibenden Anhänger würde die Sache unter Umständen wieder überaus
spannend werden.
„Worauf bin ich stolz – und darf ich stolz sein als
Künstler?„, fragt sich der Romantiker Friedrich Schlegel um 1800 und gibt
auch gleich selbst die Antwort, „auf den Entschluß, der mich auf ewig von
allem Gemeinen absonderte; auf das Werk, was alle Absicht göttlich
überschreitet; auf die Fähigkeit, was mir entgegen ist, anzubeten.“
Der Künstlerpreis des Hungertuches erinnert uns
durchaus an diese Dimension des Heiligen in der Kunst. Ursprünglich wurden
„Hungertücher“, Szenen der Passion Christi abbildend, nämlich während der
Fastenzeit über den Altären aufgehängt. Zugleich aber erkenne ich in dem
gleichnamigen Kunstpreis auch eine Form der Rückkehr zum schönen,
archaischen Ritual des Gabentausches. Dieser wusste noch nichts vom Zwang
zur Äquivalenz der Tauschgüter und nichts vom Streben nach profitabler
Absatzsteigerung. Dafür vollzog er sich oft bis zur Erschöpfung. Und
zumeist signalisierte er nicht eine Zeit der Askese, sondern fand statt im
Rahmen verschwenderischer Feste mit Tanz, Musik, rituellen Festmählern und
Besäufnissen. Im heutigen ökonomischen Sinne leben kann man von so was
natürlich nicht. Aber wer würde solcher Form, am Hungertuch zu nagen,
ernstlich widersprechen wollen?
Dr. Enrik Lauer |