NEWS
BLOG
SCIENCE
ECONOMICS
ARTS
METAPHON
AUTHOR
INDEX
SITE SEARCH
LINKS
IMPRESSUM
CONTACT
|
„Wahrheit ist die
Erfindung eines Lügners“
Begegnungen mit Heinz von Foerster
(*13.11.1911, +02.10.2002)
von
Joachim Paul
erstveröffentlicht im Periodikum des
Medienzentrum Rheinland, im Medienbrief, Ausgabe 2/2003, ISSN 1615-7257.
Anmerkung: Aufsatztitel unter Bezug auf den Interviewband
"Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" von Heinz von Foerster und
Bernhard Pörksen
„Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum
Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. …. Da unser Erziehungssystem
daraufhin angelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen, besteht sein
Zweck darin, alle jene ärgerlichen inneren Zustände auszuschalten, die
Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen. Dies zeigt sich am
deutlichsten in unserer Methode des Prüfens, die nur Fragen zuläßt, auf die
die Antworten bereits bekannt (oder definiert) sind, und die folglich vom
Schüler auswendig gelernt werden müssen. Ich möchte diese Fragen als
“illegitime Fragen“ bezeichnen.“
Starker Tobak? Ohne Zweifel. Man könnte das
Zitat ja auch als Scherz oder gar als lakonische Anmerkung zur vielgenannten
Pisa-Studie nehmen; eine gewisse kreative Autonomie in der Behandlung von
Problemaufgaben war dort ja Gegenstand der Untersuchungen. Aber es stammt
aus dem Vortrag “Kompetenz und Verantwortung“ von Heinz von Foerster,
gehalten als Grundsatzreferat zur Herbsttagung der amerikanischen
Gesellschaft für Kybernetik am 19. Dezember 1971! [1].
Dem Mann wird – neben vielem anderen – die Vaterschaft am radikalen
Konstruktivismus nachgesagt, einer philosophischen Denkrichtung, die in den
letzten zweieinhalb Jahrzehnten in Deutschland unter anderem in der
Pädagogik – und dort wenigstens in der Theorie – großen Einfluss gehabt hat
[2]. Grund genug also, hier einen Blick auf das Leben des
am 2. Oktober 2002 in Pescadero/ Kalifornien Verstorbenen zu werfen.
Jugendjahre
Am 13. November 1911 wird Heinz von Foerster als Sohn von Emil und Lilith in
ein ausgeprägt gastfreundliches und kulturell und wissenschaftlich
vielseitig interessiertes Wiener Elternhaus hineingeboren, wohl eine ideale
Voraussetzung, um sich später zum Grenzgänger und Pionier auf so vielen
Gebieten wie Kybernetik, Computermusik, Kognitionsforschung und
Maschinentheorie zu entwickeln. Der in der Nähe des Elternhauses lebende
Wahl-Onkel Ludwig heißt mit Nachnamen Wittgenstein und fragt den Knirps
eines Tages bei einer heißen Schokolade, was er denn einmal werden wolle.
Prompt kommt es von dem Siebenjährigen zurück: „Ich möchte Naturforscher
werden.“ – „Dann musst du aber doch sehr viel wissen.“ Und Heinz antwortet:
„Aber ich weiß sehr viel!“ Darauf entgegnet der Philosoph: „Ja, aber du
weißt eines nicht – wie recht du hast!“ Den Jungen ärgert dies, er merkt
sich diesen Satz für den Rest seines Lebens.
Später, als 19-jähriger, wird er zum Wittgenstein-Maniac, er lernt den
Tractatus logico-philosophicus komplett auswendig und nervt alle seine
Bekannten mit: „Ja, aber Wittgenstein schreibt ….“.
Mit seinem gleichaltrigen Cousin Martin – beide Väter sind in
Kriegsgefangenschaft – wächst er wie mit einem Bruder auf. Die Halbwüchsigen
begeistern sich für Magie und entwickeln und verbessern Zauberkunststücke,
für die Jungen ein gemeinsames Abenteuer des Entdeckens, des Staunens und
der Vorstellungskraft, für den späteren Kybernetiker ein erster
Berührungspunkt mit der Rolle des Beobachters, bzw. des Subjekts, einem der
zentralen Aspekte seines Lebenswerks.
„Ich will Verstehen verstehen.“
Der Magie und den Zauberkunststückchen bleibt er jedoch Zeit seines Lebens
verbunden, auch als er nach Beendigung der Schulzeit die am Theater bei Max
Reinhardt engagierte Schauspielerin Mai Stürmer kennenlernt und sie dazu
“überredet“, seine Frau zu werden [3]. Die Ehe hält ein
Leben lang, aus ihr gehen drei Kinder hervor.
Arbeit und Studium im Nationalsozialismus
Er studiert an der technischen Hochschule Wien Physik und macht 1933 noch
während des Studiums die Bekanntschaft mit dem “Wiener Kreis“. Es eröffnet
sich jenseits der Physik ein weiteres Betätigungsfeld für seine breit
gestreuten Interessen, die Wissenschaftsphilosophie um Carnap, Schlick,
Menger und Hahn, um die Frage nach dem Unterschied zwischen der Welt, wie
sie ist, und ihrer symbolischen Repräsentation in Sprache und Mathematik.
Dennoch holt er 1944 seinen Abschluss in Physik in Breslau nach, promoviert
allerdings hat er nie, er konnte den “Ariernachweis“ nicht erbringen.
Im Gegenteil, als Jüdischstämmiger flieht er mit seiner Familie während des
Krieges nach Berlin mitten in die Höhle des Löwen, um dort bei der
Rüstungsfirma Gema, die Radaranlagen baut, mit Schweijk’schem Schalk
vielversprechend klingende aber bewußt sinnlose Forschungsfragen zu
bearbeiten. Gegen Kriegsende setzt er sich mitsamt der wichtigsten
Gerätschaften seines Labors wieder nach Wien ab mit gefälschten und von
Himmler unterschriebenen Papieren und der Begründung, die “wichtigen
Forschungsergebnisse“ dem Zugriff des Feindes zu entziehen [4].
Nach dem Krieg
Daheim in Wien engagiert er sich mit seinen technischen Kenntnissen beim
Wiederaufbau ener Telefongesellschaft, abends spielt er in der besetzten
Stadt in den neu aufkommenden Jazzkellern Schlagzeug oder tritt als
Zauberkünstler auf. Als Kultur- und Wissenschaftsredakteur interviewt er für
einen amerikanischen Rundfunksender Emigranten, die bei Ihrer Reise aus dem
Osten in den Westen die Stadt passieren, darunter auch Berühmtheiten wie
Paul Celan.
Aber schon während des Studiums und seinen Begegnungen mit dem Wiener Kreis
faszinierte ihn – ganz im Sinne der Psychophysik Fechners – der Gedanke
einer formalen Theorie der Dynamik des menschlichen Gedächtnisses. Er findet
in einem Antiquariat eine Ausgabe eines Buches von Ebbinghaus aus dem Jahre
1885 mit den Titel “Über das Gedächtnis“, das detaillierte Beschreibungen
von Experimenten enthält. Von Foerster überprüft seine schon vorhandenen
ersten theoretischen Ansätze mit den Ebbinghaus’schen “Vergessenskurven“ und
stellt zu seiner Enttäuschung keinerlei Übereinstimmung fest. Das bringt ihn
dazu, sich mit den Experimenten selbst näher zu befassen: Ebbinghaus gab
seinen Versuchspersonen eine Liste mit einer bestimmten Anzahl sinnloser
Silben (“tot“, “mim“, “wap“, usw.), die auswendig zu lernen waren. Wenn alle
Silben rezitiert werden konnten, wurde den Probanden die Liste weggenommen.
Täglich registrierte er für jede Versuchsperson Art und Anzahl der Silben,
die noch erinnert wurden und stellte diese graphisch dar, die erinnerte
Silbenmenge in Abhängigkeit von den verstrichenen Tagen. Angesichts der
fehlenden Übereinstimmung mit seinen theoretischen Kurven kommt von Foerster
der Gedanke, dass Tag für Tag die jeweils noch erinnerten Silben durch ihre
Rezitation gewissermassen wiedererlernt werden, und dass demzufolge die
Ebbinghaus-Kurven keinen Vergessensprozess als solchen sondern eine
Überlagerung, eine Kombination aus Vergessen und Lernen repräsentieren. Der
orale Output einer rezitierten Silbe stellt für die Versuchsperson
gleichermassen einen neuen jetzt auditiven Input dar, diese
Rückkoppelungsschleife – das ist natürlich ein Begriff aus späteren Jahren –
verstärkt also die Erinnerung durch erneutes Lernen.
Von Foerster integriert diese Rekursion in seinen Formalismus und stellt
fest, dass seine theoretische Kurve mit den Ebbinghaus’schen perfekt
übereinstimmt. Mehr noch, zur Produktion der theoretischen Kurve bedarf es
zweier Parameter, einem Lernparameter und einem Vergessensparameter; für den
ersten ergibt sich eine Variation von Person zu Person. Der
Vergessensparameter jedoch ist für alle Versuchspersonen gleich. Er
interpretiert dieses Ergebnis als eine biologische Konstante und sucht eine
molekulare Erklärung, er vergleicht die Zeitkonstante des Vergessens mit der
Zeitkonstante des Verfalls organischer Makromoleküle [5]. Auf Anraten eines
Freundes, des bekannten Wiener Psychiaters Viktor Frankl, wird diese Arbeit
1948 publiziert. Mit dem Titel “Das Gedächtnis: Eine quantenphysikalische
Untersuchung“ und einem Gutachten des Physikers Erwin Schrödinger, der
“nichts von dieser Theorie glaubt, aber keine Fehler entdecken kann“ [4]
wird sie zur Eintrittskarte in die wissenschaftliche Welt Amerikas.
Amerika und die Anfänge der Kybernetik
Das Leben im zerstörten Wien fällt den von Foersters mit ihren drei Kindern
sehr schwer, und als sich eine Gelegenheit bietet, folgen sie dem Rat von
Freunden und emigrieren in die USA. In New York angelangt schickt Heinz von
Foerster seine Publikation sofort an alle möglichen Freunde und erhält
alsbald eine Einladung nach Chicago. Der Neurophysiologe Warren McCulloch
will ihn dringend kennenlernen. Von Foerster schreibt über ihn: „… groß,
schlank, einen graumelierten Bart, ein einladendes Lächeln und welche Augen!
Augen, die die griechische Vorstellung vom Augenlicht bestätigten. Es ist
nicht das Licht, das in die Augen fällt, sondern der Blick, der
strahlenartig die Dinge, die er sieht, mit Freude berührt. So lernte ich
Warren McCulloch kennen.“ Jener interessiert sich sehr für von Foersters
Theorie und lädt ihn ein, sie auf der drei Wochen später in New York
stattfindenden 6. Macy-Konferenz zu präsentieren. Auf diesen heute als
legendär bezeichneten interdisziplinär ausgerichteten Konferenzen, die von
der Josiah Macy Jr. Foundation veranstaltet wurden, einer Stiftung mit
medizinischem Schwerpunkt, gab sich die US-Wissenschaftselite der
Nachkriegszeit die Klinke in die Hand, etwa Gregory Bateson, Margaret Mead,
Warren McCulloch, Frank Fremont-Smith, John von Neumann, Norbert Wiener,
Arturo Rosenblueth, Kurt Lewin, Claude Shannon, Julian Bigelow, etc.
Gegen Ende der Veranstaltung merkt von Foerster an, dass ihm der Titel der
Konferenz "Zirkulär-kausale Rückkoppelungsmechanismen in biologischen und
sozialen Systemen" zu schwerfällig erscheine und schlägt vor, sie nach dem
unlängst erschienenen Buch von Norbert Wiener einfach "Kybernetik“ zu
nennen. Dieser Vorschlag wird nicht nur unmittelbar und begeistert
aufgegriffen, nein man beauftragt ihn auch noch mit der Redaktion und
Herausgabe des Konferenzbandes, „damit er eine Gelegenheit erhalte, sein
grauenhaftes Englisch zu verbessern“, so McCulloch. Von Foerster wird so zum
Mitverursacher der Etablierung jenes Begriffes, unter dessen Etikett sich
Semiotik, Informatik, Spieltheorie und andere Ansätze versammeln mit dem
Ziel, das ’Wirkgefüge’ in biologischen und sozialen Systemen einer formalen
Beschreibung zugänglich zu machen. Die Kybernetik stellt – vielleicht mit
Ausnahme der Systemtheorie – den einzigen nennenswerten Versuch des 20.
Jahrhunderts dar, eine methodische Metawissenschaft zu etablieren, in der
die Trennung zwischen den Geisteswissenschaften und den sui generis
subjektlosen Naturwissenschaften aufgehoben ist, und zwar „aufgehoben“ im
Sinne Hegels.
„Je tiefer das Problem, das ignoriert wird, desto größer sind die Chancen,
Ruhm und Erfolg einzuheimsen.“ (Heinz von Foerster, Theorem Nr. 1)
„Die ’hard sciences’ sind erfolgreich, weil sie sich mit den ’soft problems’
beschäftigen; die ’soft sciences’ haben zu kämpfen, denn sie haben es mit
den ’hard problems’ zu tun. (Heinz von Foerster, Theorem Nr. 2)
Die Kybernetik lehnt somit den dem klassischen Wissenschaftsgefüge
impliziten Methodendualismus strikt ab. Ihr Forschungsfeld wurde von W. Ross
Ashby ausschliesslich zielführend definiert: „Kybernetik untersucht alle
Phänomene in Unabhängigkeit ihres Materials, so sie regelgeleitet und
reproduzierbar sind.“ [6]
In Konsequenz dessen greift ihr Anspruch, der auch ein Anspruch des
technischen Handelns via Konstruktion ist, schon sehr früh hinter die rein
biologische Fragestellung – “Was sind die biologischen Voraussetzungen des
Erkennens?“ – und hinein in das Formale: “Was sind die formalen
Voraussetzungen für die Be-Schreibung des Erkennensprozesses?“ [7]
Einer der entscheidenden Aspekte dabei, die von Foerster Zeit seines Lebens
umtreiben, ist die Entdeckung des zentralen Themas der Zirkularität, der
Selbst-Referenz oder Selbstrückbezüglichkeit, die über das simple Feedback
etwa eines Temperaturreglers einer Heizung weit hinaus geht. Wenn wir nach
dem Wesen des Lebens fragen, leben wir bereits, oder anders gewendet, nur
Lebewesen können dies. Wer Sprache untersuchen will, tut dies mit Sprache.
Und wenn wir wie Wittgenstein wissen wollen, was eine Frage ist, müssen wir
schon in der Lage sein, eine Frage zu stellen.
Gerade in Amerika angekommen entfernt sich von Foerster vom Wiener Kreis und
insbesondere vom Positivismus Carnaps, für den die Weltbeschreibung schlicht
durch ein System von Sätzen gegeben ist, für ihn und die Kybernetiker haben
Sätze immer einen Sager. Das große Verdienst von Foersters und seiner
Kybernetikerkollegen ist die Wiederhereinnahme des Beobachters in die
Wissenschaft. Das Prinzip der Objektivität besagt hingegen, dass die
Eigenschaften des Beobachters nicht in die Beschreibung des Beobachteten
eingehen dürfen, folgt man diesem, so von Foerster, dann „bleibt nichts mehr
übrig, weder die Beobachtung noch die Beschreibung. ….
Was die Kybernetiker
antreibt, ist die tiefgründige Einsicht, dass es eines Gehirns bedarf, um
eine Theorie über das Gehirn zu schreiben.“
„Die Naturgesetze werden von Menschen geschrieben. Die Gesetze der Biologie
müssen sich selbst schreiben.“ (Heinz von Foerster, Theorem Nr. 3)
Anders gewendet heißt das: „indem der Kybernetiker sein eigenes Terrain
betritt, muss er seinen eigenen Aktivitäten gerecht werden: die Kybernetik
wird zur Kybernetik der Kybernetik, oder zur Kybernetik zweiter Ordnung.“
[8]
Das Biological Computer Lab
Heinz von Foerster wird Mitglied der Abteilungen für Physik und für
Physiologie der University of Illinois, arbeitet mit Warren McCulloch am MIT
und studiert Biologie und Physiologie bei Arturo Rosenblueth in Mexico City.
Im Jahr 1958 gründet er, gefördert durch seine Kybernetikerfeunde aus den
Macy-Konferenzen und mit erheblichen MItteln aus US-Militäretats, das
Biological Computer Lab BCL an der University of Urbana, Illinois, das er
bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1975 leitet. Zusammen mit seinen
Institutskollegen, zu denen u.a. Humberto Maturana, Gordon Pask, W. Ross
Ashby, Herbert Brün, Gotthard Günther und Lars Löfgren zählen, etabliert er
einen kreativen und interdisziplinären Stil des Austauschs und der
Kommunikation, der sehr häufig in persönliche Sympathien und Freundschaften
mündet und auf dessen Boden zahlreiche Aufsätze und Dissertationen
entstehen. Kein Thema ist abwegig genug, um nicht in das Institut zu passen,
verboten so scheint es, ist einzig das Verbot. Man entwirft neue Maschinen,
elektronische Schaltungen und Konzepte für neuronale Netze, und nebenbei
wird Mathematik, Physiologie, Logik, Philosophie, Tanz und Musik studiert.
Der Beobachter wird mit hineingenommen und zum Teil des Systems. Die
Grundideen der “Selbstreferenz“ und der selbstorganisierenden Systeme
inspirieren Maturana und Varela zu ihrer “Biologie der Kognition“, bzw. zu
ihrer Theorie der autopoietischen Systeme (auto = “selbst“, poiein, altgr.
etwa “wachsen“), und Günther und Löfgren entwickeln Logiken und logische
Systeme, in denen der Selbstbezug eben nicht von vornherein ausgeschlossen
ist.
Gemeinsam ist man auf dem Wege zu einem bis heute noch nicht entsprechend
gewürdigten Verständnis von Information und informationsverarbeitenden
Systemen, das die Shannon-Weaver’sche Unterscheidung zwischen Technik und
Semantik, die die sozialwissenschaftliche Diskussion fast ein halbes
Jahrhundert unfruchtbar in ihren Bann gezogen hat, weit hinter sich läßt
[9].
Die durch die Mitbetrachtung des Beobachters induzierte Selbstreferenz – der
Beobachter kann sich nicht aus dem heraushalten, was er beobachtet, er ist
ja Teil seiner Welt – impliziert darüber hinaus eine prinzipielle Kritik an
den abendländischen Konzepten von “Kausalität“ und “Ursprung“. Denn das
Leben selbst und damit assoziierte Phänomene wie z.B. Kognition entziehen
sich vielfach einer linearkausalen Beschreibung. Das hatte Warren McCulloch
schon 1945 nachgewiesen [10].
Für den auf einem solchen Konzept der Welterzeugung aufbauenden radikalen
Konstruktivismus – der Beobachter, das Subjekt schafft seine Wirklichkeit ja
erst durch seine Wahrnehmungsakte, die zudem seiner Biologie unterworfen
sind – ergeben sich unmittelbar interessante ethische Konsequenzen.
„Das Nervensystem als Ganzes ist so organisiert (organisiert sich so), dass
es eine stabile Realität errechnet.“
Zum einen die Toleranz für die Wirklichkeiten anderer, sie folgt aus dem
Bewusstsein der Konstruiertheit der eigenen Wirklichkeit, die nun auch nicht
mehr verabsolutierbar ist. Zum anderen ist das die Verantwortung, in den
Worten von Foersters: „Die Welt als eine Erfindung aufzufassen, heißt, sich
als ihren Erzeuger zu begreifen; es entsteht Verantwortung für ihre
Existenz.“
Andererseits läßt sich aber der Konstruktivismus ebenso gut kritisieren,
denn “Wirklichkeitserzeugung“ setzt bereits ein Subjekt voraus, dass diese
erzeugt, oder in philosophischer Ausdrucksweise: Das Subjekt ist ein
transzendentales Apriori. Hiermit steht der radikale Konstruktivismus nicht
nur auf dem Boden der Philosophie Kants, mit Francisco Varela z.B. läßt sich
ihm vorwerfen, dass die eine Seite des Erkenntnisprozesses (die des
Subjekts) verabsolutiert wird [11].
Heinz von Foerster allerdings, der “Sokrates des kybernetischen Denkens“
[12], hätte sich gegen jedes Etikett, gegen jede Art von –ismus vehement
gewehrt, für ihn gibt nur die Freiheit der Wahl den Ausschlag.
„Handle stets so, dass die Zahl der Wahlmöglichkeiten größer wird.“
(Ethischer Imperativ)
Emeritiert mit 65 denkt er jedoch nicht daran, sich aus dem
wissenschaftlichen Leben zurückzuziehen. Als Netzeknüpfer, Aufmerksammacher
und Anreger von Forschungsvorhaben wird er neben seinem bereits verstorbenen
Freund Warren McCulloch zu dem Kommunikator der Kybernetik. Und nach seiner
Bekanntschaft mit Paul Watzlawick ist er nun auch unter
Organisationsentwicklern, Familientherapeuten und Sozialwissenschaftlern ein
gefragter Vortragsredner.
Wissenschaft ist Begegnung
In einer ähnlichen Rolle lernte ich den mittlerweile 82-jährigen 1993
persönlich kennen, er war zu dem vom Wissenschaftszentrum NRW in Düsseldorf
veranstalteten und hochkarätig besetzten Kongress – neben Humberto Maturana
waren auch die Nobelpreisträger Leon N. Cooper und Sir John Eccles anwesend
– „Neuroworlds – Zukunftswege der Hirnforschung“ als Eröffnungsredner
geladen mit dem Thema „Brauchen wir eine neue Ethik für die Hirnforschung?“.
In der Pause nach seinem fulminanten Vortrag wurde er von einem lokalen
Radiosender interviewt. Im Anschluss daran ergriff ich die Gelegenheit und
sprach ihn an mit einer Frage zur “Stellenwert-Logik“ seines ehemaligen
BCL-Kollegen Gotthard Günther. Aus einer einfachen informativen Frage
entstand im Nu ein dreiviertelstündiges Gespräch, in der er interessiert
nachfragte, wer denn noch alles in Deutschland sich für seinen Freund und
dessen Philosophie interessiere, und in der er mir seine Sichtweise der
Rolle Günthers für die Wissenschaft vermittelte. Was mich jedoch am meisten
verblüffte, da war auch nicht eine Spur von Arroganz gegenüber dem jungen
Nobody, oder wie so oft falsche Distanz oder Elaboriertheit, vielmehr blanke
Neugier, echtes und herzliches Interesse am Gegenüber und der lebensvolle
Wille zum Tanz im Dialog.
„Willst du sehen, so lerne zu handeln.“ (Ästhetischer Imperativ)
Drei Jahre später, 1996, gründete ich mit Kollegen ein Webforum für
“Innovationen in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur“ im Internet
“www.vordenker.de“, ich rief ihn einfach in seinem Haus in Pescadero/
Kalifornien an, und fragte ihn, ob er zur Eröffnung etwas beisteuern könnte,
etwa zu Günther oder McCulloch. Er war sofort Feuer und Flamme für die Idee
dieses Internetforums und schickte mir exklusiv einen englischen Artikel,
die schriftliche Version eines Vortrages über Warren McCulloch, den er 1995
auf Teneriffa gehalten hatte, “Metaphysics of an Experimental
Epistemologist“ [13]. Bei den Telefonkontakten ergab es sich, dass er einmal
auf meinen Anrufbeantworter sprach. Ich habe mit seinem Einverständnis, er
war begeistert von den neuen Multimedia-Möglichkeiten im Internet, seinen
Gruß digitalisiert und zu dem McCulloch-Aufsatz neben seinem Autorennamen
auf die WebSite gestellt. Unter dem u.g. Link grüßt er heute noch: „Alles
Schöne, Heinz von Foerster aus Kalifornien.“
„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, damit ist gemeint, dass sich
Wahrheit und Lüge gegenseitig bedingen: Wer von Wahrheit spricht, macht den
anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner. Diese beiden Begriffe gehören
zu einer Kategorie des Denkens, aus der ich gerne heraustreten würde, um
eine ganz neue Sicht und Einsicht zu ermöglichen. Meine Auffassung ist, dass
die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der
Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet - man denke nur an die Kreuzzüge,
die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der
Inquisitions - Kriege. Man muss daran erinnern, wie viele Millionen von
Menschen verstümmelt, gefoltert und verbrannt worden sind, um die
Wahrheitsidee gewalttätig durchzusetzen.“ Heinz von Foerster in einem
Interview mit Bernhard Pörksen 1997.
Referenzen
[1] Heinz von Foerster, KybernEthik, Merve, Berlin 1993, S.
170ff
[2] Herbert Gudjons, Pädagogisches Grundwissen, Klinkhardt,
Bad Heilbrunn 1999, 6. Aufl., S.46-48
[3] Heinz von Foerster, Einführung in die natürliche Magie,
in KybernEthik, Merve, Berlin 1993, S. 7-39
[4] Dirk Baecker, Zum Tod des Physikers und Mathematikers
Heinz von Foerster, FAZ, 4. Oktober 2002, Nr. 230, Seite 37,
http://www.univie.ac.at/constructivism/HvF/baecker02nachruf.html
[5] Heinz von Foerster, KybernEthik, Merve, Berlin 1993, S.
106-108
[6] W. Ross Ashby, Einführung in die Kybernetik, 1974, S.7
[7] Joachim Paul, Vorwort zu Gotthard Günther, Das
Bewusstsein der Maschinen, 3. Aufl., Hrsg.: E. v. Goldammer und J. Paul,
Agis Baden-Baden, 2002, S.21
[8] Heinz von Foerster, KybernEthik, Merve, Berlin 1993, S.
63-65
[9] Dirk Baecker, Das Auge des Kojoten: Besuche bei einem
Magier, Heinz von Foerster Festschrift 2001,
http://www.univie.ac.at/constructivism/HvF/festschrift/baecker_de.html
[10] Warren McCulloch,
A
Heterarchy of Values Determined by the Topology of Nervous Nets, Bull.
Math Biophys., 7, 1945, p. 89-93, dt. übersetzt “Eine durch die Topologie
der Nervennetze bestimmte Herarchie von Werten“ in Warren McCulloch,
Verkörperungen des Geistes, Springer Wien New York, 2000, S.41-46
[11] Francisco Varela, Bernhard Pörksen, Wahr ist, was
funktioniert, in: Die Gewissheit der Ungewissheit, Heidelberg 2002,
S.112-138
[12] Bernhard Pörksen, Wir sehen nicht, daß wir nicht
sehen, Telepolis 1998,
http://www.heise.de/tp/deutsch/special/robo/6240/1.html
[13] Heinz von Foerster,
Metaphysics of an
Experimental Epistemologist, Teneriffa 1995
Heinz von Foerster, eine kleine Literaturauswahl für den Einsteiger:
Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie,
Carl-Auer-Systeme Verlag 1999
Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Suhrkamp 2000
KybernEthik, Merve, Oktober 1993
Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker.
(mit Bernhard Pörksen) Carl-Auer-Systeme Verlag, Januar 2003
weitere Adressen zu Heinz von Foerster im WWW
|