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„Wahrheit ist die
Erfindung eines Lügners“

Begegnungen mit Heinz von Foerster
(*13.11.1911, +02.10.2002)
 

 von Joachim Paul

 

erstveröffentlicht im Periodikum des Medienzentrum Rheinland, im Medienbrief, Ausgabe 2/2003, ISSN 1615-7257.

 

Anmerkung: Aufsatztitel unter Bezug auf den Interviewband "Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" von Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen

 

„Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. …. Da unser Erziehungssystem daraufhin angelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen, besteht sein Zweck darin, alle jene ärgerlichen inneren Zustände auszuschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen. Dies zeigt sich am deutlichsten in unserer Methode des Prüfens, die nur Fragen zuläßt, auf die die Antworten bereits bekannt (oder definiert) sind, und die folglich vom Schüler auswendig gelernt werden müssen. Ich möchte diese Fragen als “illegitime Fragen“ bezeichnen.“

Starker Tobak? Ohne Zweifel. Man könnte das Zitat ja auch als Scherz oder gar als lakonische Anmerkung zur vielgenannten Pisa-Studie nehmen; eine gewisse kreative Autonomie in der Behandlung von Problemaufgaben war dort ja Gegenstand der Untersuchungen. Aber es stammt aus dem Vortrag “Kompetenz und Verantwortung“ von Heinz von Foerster, gehalten als Grundsatzreferat zur Herbsttagung der amerikanischen Gesellschaft für Kybernetik am 19. Dezember 1971! [1].
Dem Mann wird – neben vielem anderen – die Vaterschaft am radikalen Konstruktivismus nachgesagt, einer philosophischen Denkrichtung, die in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten in Deutschland unter anderem in der Pädagogik – und dort wenigstens in der Theorie – großen Einfluss gehabt hat [2]. Grund genug also, hier einen Blick auf das Leben des am 2. Oktober 2002 in Pescadero/ Kalifornien Verstorbenen zu werfen.

Jugendjahre

Am 13. November 1911 wird Heinz von Foerster als Sohn von Emil und Lilith in ein ausgeprägt gastfreundliches und kulturell und wissenschaftlich vielseitig interessiertes Wiener Elternhaus hineingeboren, wohl eine ideale Voraussetzung, um sich später zum Grenzgänger und Pionier auf so vielen Gebieten wie Kybernetik, Computermusik, Kognitionsforschung und Maschinentheorie zu entwickeln. Der in der Nähe des Elternhauses lebende Wahl-Onkel Ludwig heißt mit Nachnamen Wittgenstein und fragt den Knirps eines Tages bei einer heißen Schokolade, was er denn einmal werden wolle. Prompt kommt es von dem Siebenjährigen zurück: „Ich möchte Naturforscher werden.“ – „Dann musst du aber doch sehr viel wissen.“ Und Heinz antwortet: „Aber ich weiß sehr viel!“ Darauf entgegnet der Philosoph: „Ja, aber du weißt eines nicht – wie recht du hast!“ Den Jungen ärgert dies, er merkt sich diesen Satz für den Rest seines Lebens.
Später, als 19-jähriger, wird er zum Wittgenstein-Maniac, er lernt den Tractatus logico-philosophicus komplett auswendig und nervt alle seine Bekannten mit: „Ja, aber Wittgenstein schreibt ….“.
Mit seinem gleichaltrigen Cousin Martin – beide Väter sind in Kriegsgefangenschaft – wächst er wie mit einem Bruder auf. Die Halbwüchsigen begeistern sich für Magie und entwickeln und verbessern Zauberkunststücke, für die Jungen ein gemeinsames Abenteuer des Entdeckens, des Staunens und der Vorstellungskraft, für den späteren Kybernetiker ein erster Berührungspunkt mit der Rolle des Beobachters, bzw. des Subjekts, einem der zentralen Aspekte seines Lebenswerks.

„Ich will Verstehen verstehen.“

Der Magie und den Zauberkunststückchen bleibt er jedoch Zeit seines Lebens verbunden, auch als er nach Beendigung der Schulzeit die am Theater bei Max Reinhardt engagierte Schauspielerin Mai Stürmer kennenlernt und sie dazu “überredet“, seine Frau zu werden [3]. Die Ehe hält ein Leben lang, aus ihr gehen drei Kinder hervor.

Arbeit und Studium im Nationalsozialismus

Er studiert an der technischen Hochschule Wien Physik und macht 1933 noch während des Studiums die Bekanntschaft mit dem “Wiener Kreis“. Es eröffnet sich jenseits der Physik ein weiteres Betätigungsfeld für seine breit gestreuten Interessen, die Wissenschaftsphilosophie um Carnap, Schlick, Menger und Hahn, um die Frage nach dem Unterschied zwischen der Welt, wie sie ist, und ihrer symbolischen Repräsentation in Sprache und Mathematik. Dennoch holt er 1944 seinen Abschluss in Physik in Breslau nach, promoviert allerdings hat er nie, er konnte den “Ariernachweis“ nicht erbringen.
Im Gegenteil, als Jüdischstämmiger flieht er mit seiner Familie während des Krieges nach Berlin mitten in die Höhle des Löwen, um dort bei der Rüstungsfirma Gema, die Radaranlagen baut, mit Schweijk’schem Schalk vielversprechend klingende aber bewußt sinnlose Forschungsfragen zu bearbeiten. Gegen Kriegsende setzt er sich mitsamt der wichtigsten Gerätschaften seines Labors wieder nach Wien ab mit gefälschten und von Himmler unterschriebenen Papieren und der Begründung, die “wichtigen Forschungsergebnisse“ dem Zugriff des Feindes zu entziehen [4].

Nach dem Krieg

Daheim in Wien engagiert er sich mit seinen technischen Kenntnissen beim Wiederaufbau ener Telefongesellschaft, abends spielt er in der besetzten Stadt in den neu aufkommenden Jazzkellern Schlagzeug oder tritt als Zauberkünstler auf. Als Kultur- und Wissenschaftsredakteur interviewt er für einen amerikanischen Rundfunksender Emigranten, die bei Ihrer Reise aus dem Osten in den Westen die Stadt passieren, darunter auch Berühmtheiten wie Paul Celan.
Aber schon während des Studiums und seinen Begegnungen mit dem Wiener Kreis faszinierte ihn – ganz im Sinne der Psychophysik Fechners – der Gedanke einer formalen Theorie der Dynamik des menschlichen Gedächtnisses. Er findet in einem Antiquariat eine Ausgabe eines Buches von Ebbinghaus aus dem Jahre 1885 mit den Titel “Über das Gedächtnis“, das detaillierte Beschreibungen von Experimenten enthält. Von Foerster überprüft seine schon vorhandenen ersten theoretischen Ansätze mit den Ebbinghaus’schen “Vergessenskurven“ und stellt zu seiner Enttäuschung keinerlei Übereinstimmung fest. Das bringt ihn dazu, sich mit den Experimenten selbst näher zu befassen: Ebbinghaus gab seinen Versuchspersonen eine Liste mit einer bestimmten Anzahl sinnloser Silben (“tot“, “mim“, “wap“, usw.), die auswendig zu lernen waren. Wenn alle Silben rezitiert werden konnten, wurde den Probanden die Liste weggenommen. Täglich registrierte er für jede Versuchsperson Art und Anzahl der Silben, die noch erinnert wurden und stellte diese graphisch dar, die erinnerte Silbenmenge in Abhängigkeit von den verstrichenen Tagen. Angesichts der fehlenden Übereinstimmung mit seinen theoretischen Kurven kommt von Foerster der Gedanke, dass Tag für Tag die jeweils noch erinnerten Silben durch ihre Rezitation gewissermassen wiedererlernt werden, und dass demzufolge die Ebbinghaus-Kurven keinen Vergessensprozess als solchen sondern eine Überlagerung, eine Kombination aus Vergessen und Lernen repräsentieren. Der orale Output einer rezitierten Silbe stellt für die Versuchsperson gleichermassen einen neuen jetzt auditiven Input dar, diese Rückkoppelungsschleife – das ist natürlich ein Begriff aus späteren Jahren – verstärkt also die Erinnerung durch erneutes Lernen.

Von Foerster integriert diese Rekursion in seinen Formalismus und stellt fest, dass seine theoretische Kurve mit den Ebbinghaus’schen perfekt übereinstimmt. Mehr noch, zur Produktion der theoretischen Kurve bedarf es zweier Parameter, einem Lernparameter und einem Vergessensparameter; für den ersten ergibt sich eine Variation von Person zu Person. Der Vergessensparameter jedoch ist für alle Versuchspersonen gleich. Er interpretiert dieses Ergebnis als eine biologische Konstante und sucht eine molekulare Erklärung, er vergleicht die Zeitkonstante des Vergessens mit der Zeitkonstante des Verfalls organischer Makromoleküle [5]. Auf Anraten eines Freundes, des bekannten Wiener Psychiaters Viktor Frankl, wird diese Arbeit 1948 publiziert. Mit dem Titel “Das Gedächtnis: Eine quantenphysikalische Untersuchung“ und einem Gutachten des Physikers Erwin Schrödinger, der “nichts von dieser Theorie glaubt, aber keine Fehler entdecken kann“ [4] wird sie zur Eintrittskarte in die wissenschaftliche Welt Amerikas.

Amerika und die Anfänge der Kybernetik

Das Leben im zerstörten Wien fällt den von Foersters mit ihren drei Kindern sehr schwer, und als sich eine Gelegenheit bietet, folgen sie dem Rat von Freunden und emigrieren in die USA. In New York angelangt schickt Heinz von Foerster seine Publikation sofort an alle möglichen Freunde und erhält alsbald eine Einladung nach Chicago. Der Neurophysiologe Warren McCulloch will ihn dringend kennenlernen. Von Foerster schreibt über ihn: „… groß, schlank, einen graumelierten Bart, ein einladendes Lächeln und welche Augen! Augen, die die griechische Vorstellung vom Augenlicht bestätigten. Es ist nicht das Licht, das in die Augen fällt, sondern der Blick, der strahlenartig die Dinge, die er sieht, mit Freude berührt. So lernte ich Warren McCulloch kennen.“ Jener interessiert sich sehr für von Foersters Theorie und lädt ihn ein, sie auf der drei Wochen später in New York stattfindenden 6. Macy-Konferenz zu präsentieren. Auf diesen heute als legendär bezeichneten interdisziplinär ausgerichteten Konferenzen, die von der Josiah Macy Jr. Foundation veranstaltet wurden, einer Stiftung mit medizinischem Schwerpunkt, gab sich die US-Wissenschaftselite der Nachkriegszeit die Klinke in die Hand, etwa Gregory Bateson, Margaret Mead, Warren McCulloch, Frank Fremont-Smith, John von Neumann, Norbert Wiener, Arturo Rosenblueth, Kurt Lewin, Claude Shannon, Julian Bigelow, etc.
Gegen Ende der Veranstaltung merkt von Foerster an, dass ihm der Titel der Konferenz "Zirkulär-kausale Rückkoppelungsmechanismen in biologischen und sozialen Systemen" zu schwerfällig erscheine und schlägt vor, sie nach dem unlängst erschienenen Buch von Norbert Wiener einfach "Kybernetik“ zu nennen. Dieser Vorschlag wird nicht nur unmittelbar und begeistert aufgegriffen, nein man beauftragt ihn auch noch mit der Redaktion und Herausgabe des Konferenzbandes, „damit er eine Gelegenheit erhalte, sein grauenhaftes Englisch zu verbessern“, so McCulloch. Von Foerster wird so zum Mitverursacher der Etablierung jenes Begriffes, unter dessen Etikett sich Semiotik, Informatik, Spieltheorie und andere Ansätze versammeln mit dem Ziel, das ’Wirkgefüge’ in biologischen und sozialen Systemen einer formalen Beschreibung zugänglich zu machen. Die Kybernetik stellt – vielleicht mit Ausnahme der Systemtheorie – den einzigen nennenswerten Versuch des 20. Jahrhunderts dar, eine methodische Metawissenschaft zu etablieren, in der die Trennung zwischen den Geisteswissenschaften und den sui generis subjektlosen Naturwissenschaften aufgehoben ist, und zwar „aufgehoben“ im Sinne Hegels.

„Je tiefer das Problem, das ignoriert wird, desto größer sind die Chancen, Ruhm und Erfolg einzuheimsen.“ (Heinz von Foerster, Theorem Nr. 1)
„Die ’hard sciences’ sind erfolgreich, weil sie sich mit den ’soft problems’ beschäftigen; die ’soft sciences’ haben zu kämpfen, denn sie haben es mit den ’hard problems’ zu tun. (Heinz von Foerster, Theorem Nr. 2)

Die Kybernetik lehnt somit den dem klassischen Wissenschaftsgefüge impliziten Methodendualismus strikt ab. Ihr Forschungsfeld wurde von W. Ross Ashby ausschliesslich zielführend definiert: „Kybernetik untersucht alle Phänomene in Unabhängigkeit ihres Materials, so sie regelgeleitet und reproduzierbar sind.“ [6]
In Konsequenz dessen greift ihr Anspruch, der auch ein Anspruch des technischen Handelns via Konstruktion ist, schon sehr früh hinter die rein biologische Fragestellung – “Was sind die biologischen Voraussetzungen des Erkennens?“ – und hinein in das Formale: “Was sind die formalen Voraussetzungen für die Be-Schreibung des Erkennensprozesses?“ [7]
Einer der entscheidenden Aspekte dabei, die von Foerster Zeit seines Lebens umtreiben, ist die Entdeckung des zentralen Themas der Zirkularität, der Selbst-Referenz oder Selbstrückbezüglichkeit, die über das simple Feedback etwa eines Temperaturreglers einer Heizung weit hinaus geht. Wenn wir nach dem Wesen des Lebens fragen, leben wir bereits, oder anders gewendet, nur Lebewesen können dies. Wer Sprache untersuchen will, tut dies mit Sprache. Und wenn wir wie Wittgenstein wissen wollen, was eine Frage ist, müssen wir schon in der Lage sein, eine Frage zu stellen.
Gerade in Amerika angekommen entfernt sich von Foerster vom Wiener Kreis und insbesondere vom Positivismus Carnaps, für den die Weltbeschreibung schlicht durch ein System von Sätzen gegeben ist, für ihn und die Kybernetiker haben Sätze immer einen Sager. Das große Verdienst von Foersters und seiner Kybernetikerkollegen ist die Wiederhereinnahme des Beobachters in die Wissenschaft. Das Prinzip der Objektivität besagt hingegen, dass die Eigenschaften des Beobachters nicht in die Beschreibung des Beobachteten eingehen dürfen, folgt man diesem, so von Foerster, dann „bleibt nichts mehr übrig, weder die Beobachtung noch die Beschreibung. …. Was die Kybernetiker antreibt, ist die tiefgründige Einsicht, dass es eines Gehirns bedarf, um eine Theorie über das Gehirn zu schreiben.“

„Die Naturgesetze werden von Menschen geschrieben. Die Gesetze der Biologie müssen sich selbst schreiben.“ (Heinz von Foerster, Theorem Nr. 3)

Anders gewendet heißt das: „indem der Kybernetiker sein eigenes Terrain betritt, muss er seinen eigenen Aktivitäten gerecht werden: die Kybernetik wird zur Kybernetik der Kybernetik, oder zur Kybernetik zweiter Ordnung.“ [8]

Das Biological Computer Lab

Heinz von Foerster wird Mitglied der Abteilungen für Physik und für Physiologie der University of Illinois, arbeitet mit Warren McCulloch am MIT und studiert Biologie und Physiologie bei Arturo Rosenblueth in Mexico City. Im Jahr 1958 gründet er, gefördert durch seine Kybernetikerfeunde aus den Macy-Konferenzen und mit erheblichen MItteln aus US-Militäretats, das Biological Computer Lab BCL an der University of Urbana, Illinois, das er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1975 leitet. Zusammen mit seinen Institutskollegen, zu denen u.a. Humberto Maturana, Gordon Pask, W. Ross Ashby, Herbert Brün, Gotthard Günther und Lars Löfgren zählen, etabliert er einen kreativen und interdisziplinären Stil des Austauschs und der Kommunikation, der sehr häufig in persönliche Sympathien und Freundschaften mündet und auf dessen Boden zahlreiche Aufsätze und Dissertationen entstehen. Kein Thema ist abwegig genug, um nicht in das Institut zu passen, verboten so scheint es, ist einzig das Verbot. Man entwirft neue Maschinen, elektronische Schaltungen und Konzepte für neuronale Netze, und nebenbei wird Mathematik, Physiologie, Logik, Philosophie, Tanz und Musik studiert. Der Beobachter wird mit hineingenommen und zum Teil des Systems. Die Grundideen der “Selbstreferenz“ und der selbstorganisierenden Systeme inspirieren Maturana und Varela zu ihrer “Biologie der Kognition“, bzw. zu ihrer Theorie der autopoietischen Systeme (auto = “selbst“, poiein, altgr. etwa “wachsen“), und Günther und Löfgren entwickeln Logiken und logische Systeme, in denen der Selbstbezug eben nicht von vornherein ausgeschlossen ist.

Heinz von FoersterGemeinsam ist man auf dem Wege zu einem bis heute noch nicht entsprechend gewürdigten Verständnis von Information und informationsverarbeitenden Systemen, das die Shannon-Weaver’sche Unterscheidung zwischen Technik und Semantik, die die sozialwissenschaftliche Diskussion fast ein halbes Jahrhundert unfruchtbar in ihren Bann gezogen hat, weit hinter sich läßt [9].
Die durch die Mitbetrachtung des Beobachters induzierte Selbstreferenz – der Beobachter kann sich nicht aus dem heraushalten, was er beobachtet, er ist ja Teil seiner Welt – impliziert darüber hinaus eine prinzipielle Kritik an den abendländischen Konzepten von “Kausalität“ und “Ursprung“. Denn das Leben selbst und damit assoziierte Phänomene wie z.B. Kognition entziehen sich vielfach einer linearkausalen Beschreibung. Das hatte Warren McCulloch schon 1945 nachgewiesen [10].
Für den auf einem solchen Konzept der Welterzeugung aufbauenden radikalen Konstruktivismus – der Beobachter, das Subjekt schafft seine Wirklichkeit ja erst durch seine Wahrnehmungsakte, die zudem seiner Biologie unterworfen sind – ergeben sich unmittelbar interessante ethische Konsequenzen.

„Das Nervensystem als Ganzes ist so organisiert (organisiert sich so), dass es eine stabile Realität errechnet.“

Zum einen die Toleranz für die Wirklichkeiten anderer, sie folgt aus dem Bewusstsein der Konstruiertheit der eigenen Wirklichkeit, die nun auch nicht mehr verabsolutierbar ist. Zum anderen ist das die Verantwortung, in den Worten von Foersters: „Die Welt als eine Erfindung aufzufassen, heißt, sich als ihren Erzeuger zu begreifen; es entsteht Verantwortung für ihre Existenz.“
Andererseits läßt sich aber der Konstruktivismus ebenso gut kritisieren, denn “Wirklichkeitserzeugung“ setzt bereits ein Subjekt voraus, dass diese erzeugt, oder in philosophischer Ausdrucksweise: Das Subjekt ist ein transzendentales Apriori. Hiermit steht der radikale Konstruktivismus nicht nur auf dem Boden der Philosophie Kants, mit Francisco Varela z.B. läßt sich ihm vorwerfen, dass die eine Seite des Erkenntnisprozesses (die des Subjekts) verabsolutiert wird [11].
Heinz von Foerster allerdings, der “Sokrates des kybernetischen Denkens“ [12], hätte sich gegen jedes Etikett, gegen jede Art von –ismus vehement gewehrt, für ihn gibt nur die Freiheit der Wahl den Ausschlag.

„Handle stets so, dass die Zahl der Wahlmöglichkeiten größer wird.“ (Ethischer Imperativ)

Emeritiert mit 65 denkt er jedoch nicht daran, sich aus dem wissenschaftlichen Leben zurückzuziehen. Als Netzeknüpfer, Aufmerksammacher und Anreger von Forschungsvorhaben wird er neben seinem bereits verstorbenen Freund Warren McCulloch zu dem Kommunikator der Kybernetik. Und nach seiner Bekanntschaft mit Paul Watzlawick ist er nun auch unter Organisationsentwicklern, Familientherapeuten und Sozialwissenschaftlern ein gefragter Vortragsredner.

Wissenschaft ist Begegnung

In einer ähnlichen Rolle lernte ich den mittlerweile 82-jährigen 1993 persönlich kennen, er war zu dem vom Wissenschaftszentrum NRW in Düsseldorf veranstalteten und hochkarätig besetzten Kongress – neben Humberto Maturana waren auch die Nobelpreisträger Leon N. Cooper und Sir John Eccles anwesend – „Neuroworlds – Zukunftswege der Hirnforschung“ als Eröffnungsredner geladen mit dem Thema „Brauchen wir eine neue Ethik für die Hirnforschung?“. In der Pause nach seinem fulminanten Vortrag wurde er von einem lokalen Radiosender interviewt. Im Anschluss daran ergriff ich die Gelegenheit und sprach ihn an mit einer Frage zur “Stellenwert-Logik“ seines ehemaligen BCL-Kollegen Gotthard Günther. Aus einer einfachen informativen Frage entstand im Nu ein dreiviertelstündiges Gespräch, in der er interessiert nachfragte, wer denn noch alles in Deutschland sich für seinen Freund und dessen Philosophie interessiere, und in der er mir seine Sichtweise der Rolle Günthers für die Wissenschaft vermittelte. Was mich jedoch am meisten verblüffte, da war auch nicht eine Spur von Arroganz gegenüber dem jungen Nobody, oder wie so oft falsche Distanz oder Elaboriertheit, vielmehr blanke Neugier, echtes und herzliches Interesse am Gegenüber und der lebensvolle Wille zum Tanz im Dialog.

„Willst du sehen, so lerne zu handeln.“ (Ästhetischer Imperativ)

Drei Jahre später, 1996, gründete ich mit Kollegen ein Webforum für “Innovationen in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur“ im Internet “www.vordenker.de“, ich rief ihn einfach in seinem Haus in Pescadero/ Kalifornien an, und fragte ihn, ob er zur Eröffnung etwas beisteuern könnte, etwa zu Günther oder McCulloch. Er war sofort Feuer und Flamme für die Idee dieses Internetforums und schickte mir exklusiv einen englischen Artikel, die schriftliche Version eines Vortrages über Warren McCulloch, den er 1995 auf Teneriffa gehalten hatte, “Metaphysics of an Experimental Epistemologist“ [13]. Bei den Telefonkontakten ergab es sich, dass er einmal auf meinen Anrufbeantworter sprach. Ich habe mit seinem Einverständnis, er war begeistert von den neuen Multimedia-Möglichkeiten im Internet, seinen Gruß digitalisiert und zu dem McCulloch-Aufsatz neben seinem Autorennamen auf die WebSite gestellt. Unter dem u.g. Link grüßt er heute noch: „Alles Schöne, Heinz von Foerster aus Kalifornien.“

„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, damit ist gemeint, dass sich Wahrheit und Lüge gegenseitig bedingen: Wer von Wahrheit spricht, macht den anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner. Diese beiden Begriffe gehören zu einer Kategorie des Denkens, aus der ich gerne heraustreten würde, um eine ganz neue Sicht und Einsicht zu ermöglichen. Meine Auffassung ist, dass die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet - man denke nur an die Kreuzzüge, die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der Inquisitions - Kriege. Man muss daran erinnern, wie viele Millionen von Menschen verstümmelt, gefoltert und verbrannt worden sind, um die Wahrheitsidee gewalttätig durchzusetzen.“ Heinz von Foerster in einem Interview mit Bernhard Pörksen 1997.

Referenzen

[1] Heinz von Foerster, KybernEthik, Merve, Berlin 1993, S. 170ff zurück zum Text
[2] Herbert Gudjons, Pädagogisches Grundwissen, Klinkhardt, Bad Heilbrunn 1999, 6. Aufl., S.46-48 zurück zum Text
[3] Heinz von Foerster, Einführung in die natürliche Magie, in KybernEthik, Merve, Berlin 1993, S. 7-39 zurück zum Text
[4] Dirk Baecker, Zum Tod des Physikers und Mathematikers Heinz von Foerster, FAZ, 4. Oktober 2002, Nr. 230, Seite 37, http://www.univie.ac.at/constructivism/HvF/baecker02nachruf.html zurück zum Text
[5] Heinz von Foerster, KybernEthik, Merve, Berlin 1993, S. 106-108 zurück zum Text
[6] W. Ross Ashby, Einführung in die Kybernetik, 1974, S.7 zurück zum Text
[7] Joachim Paul, Vorwort zu Gotthard Günther, Das Bewusstsein der Maschinen, 3. Aufl., Hrsg.: E. v. Goldammer und J. Paul, Agis Baden-Baden, 2002, S.21 zurück zum Text
[8] Heinz von Foerster, KybernEthik, Merve, Berlin 1993, S. 63-65 zurück zum Text
[9] Dirk Baecker, Das Auge des Kojoten: Besuche bei einem Magier, Heinz von Foerster Festschrift 2001, http://www.univie.ac.at/constructivism/HvF/festschrift/baecker_de.html zurück zum Text
[10] Warren McCulloch, A Heterarchy of Values Determined by the Topology of Nervous Nets, Bull. Math Biophys., 7, 1945, p. 89-93, dt. übersetzt “Eine durch die Topologie der Nervennetze bestimmte Herarchie von Werten“ in Warren McCulloch, Verkörperungen des Geistes, Springer Wien New York, 2000, S.41-46 zurück zum Text
[11] Francisco Varela, Bernhard Pörksen, Wahr ist, was funktioniert, in: Die Gewissheit der Ungewissheit, Heidelberg 2002, S.112-138 zurück zum Text
[12] Bernhard Pörksen, Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen, Telepolis 1998, http://www.heise.de/tp/deutsch/special/robo/6240/1.html zurück zum Text
[13] Heinz von Foerster, Metaphysics of an Experimental Epistemologist, Teneriffa 1995 zurück zum Text


Heinz von Foerster, eine kleine Literaturauswahl für den Einsteiger:

Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Carl-Auer-Systeme Verlag 1999
Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Suhrkamp 2000
KybernEthik, Merve, Oktober 1993
Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker.
(mit Bernhard Pörksen) Carl-Auer-Systeme Verlag, Januar 2003

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