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Regeln, die öffentliche Sache, Verantwortung und das Internet

von Joachim Paul

 

Einleitung

Jugendschutz, Sicherheit und Verantwortung werden im Zusammenhang mit dem neuen Medium Internet gerade in der letzten Zeit häufig und kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite Rechtsradikalismus und Pornographie im Netz, auf der anderen die erkannte bildungspolitische Notwendigkeit, alle Schulen der Bundesrepublik mit Netzanschlüssen auszustatten, bilden den Spannungsbogen, in dem über „Für und Wider“ von Regulierungen und Kontrollen gestritten wird. 

Diese Auseinandersetzungen sind natürlich ebenso Ausdruck einer Suche nach Lösungen, die die Fragen, wer denn eigentlich wie was regulieren oder kontrollieren soll oder nicht, mit einschließen. Eine gute Zusammenschau des aktuellen Stands der Diskussionen bietet der Band „Verantwortung im Internet“ [1].

Bis jetzt steht unverbrüchlich fest: Patentrezepte – wie etwa einfache Gesetzeserweiterungen, so z. B. eine Anpassung des Presserechts oder ähnliche Maßnahmen – sind angesichts des neuen Mediums und seiner technischen Optionen unmöglich oder wirkungslos, hier mangelt es an Durchsetzbarkeit. Und Extremlösungen wie z. B. Totalverbote – schließt man sie zumindest theoretisch in die Betrachtung mit ein – funktionieren ebenfalls nicht, wie die Beispiele China und Kuba unlängst zeigten, wo sich Studenten jenseits aller staatlichen Zugriffsmöglichkeiten über das Ausland mit Internet-Zugängen versorgten. Das Internet erfordert – so scheint es – völlig neue Strategien des Umgangs. Es ist daher zunächst notwendig, zu untersuchen, warum gesetzliche Reglementierungen, die bei anderen Medien durchaus greifen, in Sachen Internet nicht erfolgreich sind.

Darüber hinaus musste die Bezirksregierung Düsseldorf bezüglich ihres Auftrags an entsprechende Einrichtungen der Universität Dortmund, eine Filtersoftware für das Netz der Netze zu entwickeln, erst kürzlich eine Schlappe hinnehmen.

"Noch letzte Woche sagte ein Vertreter von Webwasher gegenüber Telepolis, die Auswertung des Pilotversuches werde noch mehrere Wochen beanspruchen. An diesem Mittwoch ließ der Chaos Computer Club jedoch schon die Bombe platzen: der Pilotversuch der Bezirksregierung sei gescheitert, der Zensurversuch der Bezirksregierung hinfällig. Gegenüber der dpa bestätigte der Direktor des Hochschulrechenzentrums (HRZ) der Universität Dortmund, Günter Schwichtenberg den Misserfolg: "Es gibt derzeit keine funktionierende Lösung". Am Donnerstag kommt auch die offizielle Bestätigung der Bezirksregierung.

Wie erwartet sieht die Bezirksregierung die Lage anders: "Das Ergebnis des Pilotprojektes berührt weder den Inhalt noch die Rechtmäßigkeit der Sperrverfügungen", ließ Regierungspräsident Jürgen Büssow verlauten. In den nächsten vier Wochen werde man über die zahlreichen Widersprüche gegen die Sperrungsverfügung der eigenen Behörde entscheiden. Sollten diese abgelehnt werden, steht wohl der Gang vor das Verwaltungsgericht an." Telepolis, 17.05.2002

 

Näheres hierzu und der komplette Artikel auch bei Telepolis. Allerdings bleibt die berechtigte Frage offen, ob heute sowohl bei politischen Entscheidern als auch bei universitären Auftragnehmern noch gründlich gelesen wird. Mit einer Lektüre von Alan Turing's Arbeit zum Berechenbarkeitsproblem "ON COMPUTABLE NUMBERS, WITH AN APPLICATION TO THE ENTSCHEIDUNGSPROBLEM" aus dem Jahre 1936 hätte der Problembereich der Kontrollierbarkeit schon im Vorfeld eine prinzipielle Beantwortung erfahren können. Es eröffnen sich somit weitere Forschungsgebiete für PISA-ähnliche Studien, diesmal nicht an Schülern.

Daher sollen an dieser Stelle zunächst die Grundeigenschaften des Mediums Internet im Gegensatz zu den sogenannten alten Medien herausgearbeitet werden. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt hierbei allerdings auf den Strukturen und nicht etwa auf verwendeten Codes und Symbolen.

 

Zu einer Phänomenologie der Kommunikationsstrukturen: 
Diskurs und Dialog 

Grundsätzlich alle Medien dienen der menschlichen Kommunikation. Blickt man, wie Vilém Flusser das getan hat, einmal ganz einfach auf Kommunikation als ein Instrument zur Herstellung und zum Erwerb sowie zur Speicherung und Verbreitung von Informationen, dann lassen sich direkt zwei Grundformen ausmachen, der Dialog und der Diskurs [2]. Menschen tauschen bestehende Informationen aus, um aus den Tauschergebnissen neue Informationen zu erzeugen, herzustellen. Diese Kommunikationsform kann „dialogisch“ genannt werden. Ein typischer Dialog ist z. B. eine wissenschaftliche Fachdiskussion oder eine Redaktionskonferenz bei einer Zeitung oder einem Radiosender, etc. 

Zur Bewahrung und Verbreitung werden bestehende Informationen über Medien an andere Kommunikationspartner weitergegeben. Ein solcher Kommunikationsvorgang kann – stark vereinfacht – über das Sender-Kanal-Empfänger-Prinzip beschrieben werden und wird auch „diskursiv“ genannt. Entscheidendes Kriterium ist hierbei die unverfälschte Übertragung, bzw. der Erhalt der vom Sender weitergegebenen Informationen. Vorlesungen oder Vorträge sind typische Diskurse, ebenso Kinofilme, Fernsehsendungen, Bücher oder Zeitungsartikel. 

Aus den Beispielen wird auch ersichtlich, Diskurs und Dialog treten niemals in Reinform auf, im Gegenteil, sie bedingen einander und sind miteinander dialektisch verflochten. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man sich einmal ganz nahe heran zoomt an einen solchen Kommunikationsprozess. Beobachten wir z. B. eine Redaktionskonferenz, dann stellen wir fest, dass der Dialog aus aufeinander folgenden kurzen Diskursen der Diskussionsteilnehmer zusammengesetzt ist, die darüber Informationen austauschen. Und nehmen wir das Buch als Beispiel für einen typischen Diskurs, so ist zu bemerken, dass das Geschriebene eine Art Verdichtung, eine „Summe“ der Kommunikationen, der Dialoge des Autors oder der Autoren darstellt. Es gibt also keinen Diskurs ohne Dialog und keinen Dialog ohne Diskurs. Nach Flusser kann aus diesen beiden Grundformen aber eine abstrakte Typologie entwickelt werden, mit der sich die heutigen und historischen Anwendungsfelder unserer Medien klassifizieren lassen. Für diese Typen gilt ebenfalls, dass sie abstrakte Modelle sind und daher nie in Reinform auftreten. Es handelt sich vielmehr um verschiedene strukturelle Aspekte der Kommunikation zwischen Menschen. 

 

Vier Aspekte des Diskurses 


Der Theaterdiskurs bildet, wie der Name schon sagt, die Struktur des Theaters ab. Er besitzt als Kernmerkmal die Abgeschlossenheit eines Raums, eines Klassenzimmers, eines Konferenz- oder Konzertraums, eines Wohnraums, die durch Wechsel des Senders auch den „Einbruch“ dialogischer Tätigkeiten erwünscht und ermöglicht. Das vorwiegende Medium ist die Rede. 


Der Pyramidendiskurs hingegen erfolgt von einem Sender über – zur Empfangsbestätigung und Inhaltsüberprüfung – rückgekoppelte Relaisstationen zu vielen Empfängern, die zusätzlich auch räumlich weit voneinander getrennt sein können. Diese Struktur bildet die klassische Hierarchie, die „Priesterherrschaft“ am besten ab. Man findet sie in Armeen, in privaten und öffentlichen Verwaltungen ebenso wieder, wie in Kirchen. Ihr Prototyp ist die Verwaltungsstruktur der Römischen Republik mit schriftlichen Anweisungen als Übertragungskanal. Auch die Bedeutung der Bibel im Mittelalter kann so – als unhinterfragbares Gesetz – verstanden werden. Entscheidendes Kriterium für das Funktionieren dieser Struktur ist die weitgehende Unverfälschtheit der ursprünglichen vom Sender ausgehenden Information, z. B. einer Anweisung zur Umsetzung einer Anordnung. Hierzu ist es erforderlich, dass an den Relaispositionen „nicht lange“ diskutiert wird, dass die Botschaft verfälschende und ergänzende Dialoge eben unterbleiben. Die prinzipielle Schwäche dieses Aspektes ergibt sich dadurch, dass ein Mindestmaß an Vorabinformiertheit der Empfänger vorausgesetzt werden muss, damit die Anweisungen überhaupt verstanden werden. 


Wesentlich flexibler ist der Baumdiskurs, bei dem an den Relaispositionen Dialoge nicht nur zugelassen, sondern auch erwünscht sind, also das Erzeugen neuer Informationen auf allen Ebenen. Das beste Beispiel hierfür ist der Diskurs in Wissenschaft und Technik mit seinem bis heute ungebrochenen Trend zur Spezialisierung. Aber auch in politischen Verfahrensweisen, wie z. B. dem Subsidiaritätsprinzip der Europäischen Union und in anderen föderalen Systemen wird versucht, diese Struktur – zumindest territorial – abzubilden. Kerneigenschaft dieser Struktur ist neben der hohen Verzweigung und der rasanten Neuproduktion von Informationen, dass sie keinen eigentlichen Empfänger mehr hat, der in der Lage ist, alle Verzweigungen des Baums zu entziffern, geschweige denn zu verstehen. Der wissenschaftliche Diskurs zeigt dies besonders deutlich. 

Der vierte Diskurstypus, der Amphitheaterdiskurs, kann als eine konsequente und raumgreifende Weiterentwicklung des Theaterdiskurses verstanden werden. Die Universalität des Theaterprinzips kommt hier voll zur Ausprägung, allerdings auf Kosten der dialogischen Möglichkeiten, die im Raum eines kleinen Theaters gegeben sind. Die Urform dieses Diskurses ist der große Zirkus, das römische Kolosseum. Heutige Beispiele sind die so genannten Massenmedien wie Fernsehen, Radio, Zeitungen, Presse, usw, die nach dem Prinzip „wenige Sender – viele Empfänger“ funktionieren. 

 

Aspekte des Dialogs: Kreisdialoge 

Gegenüber diesen vier Basisstrukturen des Diskurses lassen sich aber nur zwei dialogische Formen herausschälen, der Kreisdialog und der Netzdialog. Das mag zunächst sonderbar erscheinen, begründet sich aber in der wesentlich komplexeren inneren Struktur des Dialogs, die mit dem relativ simplen Sender-Empfänger-Prinzip natürlich nicht auskommt. Denn der Dialog beruht auf dem Grundprinzip des Konflikts. 

Als eine hauptsächlich dialogische Struktur lässt sich der so genannte Kreisdialog ausmachen. Das Bild ist hier der runde Tisch. Neben Artus’ Tafelrunde finden wir das Muster bei Kongressen und Parlamenten wieder. Das Urbild für diese Struktur sind die Dialoge auf der Athener Agora, die den Grundkonsens der attischen Demokratie und damit von Demokratie überhaupt formten. 

Rhetorik und Logik haben ebenfalls ihre Wurzeln in dieser Struktur. Die Kernaufgabe des Kreisdialogs ist die Erzeugung und Herausarbeitung des gemeinsamen Nenners aller Informationen, über die die am Dialog beteiligten Individuen verfügen. Dieser gemeinsame Nenner ist dann die neue Information, im Sinne der Rousseau’schen „raison commune“. Der Kreisdialog ist geometrisch eine eher einfache Struktur, dahinter verbirgt sich jedoch eine ungeheure Komplexität, will man allen Unterschieden der am Prozess beteiligten Individuen sowie den zu Gebote stehenden Informationen Rechnung tragen. 

Auch das Grundproblem des Kreisdialogs wird deutlich, er ist nämlich eine raumzeitlich geschlossene Struktur und bietet daher nur einer begrenzten Anzahl Teilnehmern Platz. Daher kann jedwede Demokratie immer nur nach dem Stellvertreter-Prinzip als eine „Demokratie der Wenigen“ funktionieren. Und das zeigt sich schon am Urmodell der etwa 500 direkt am Prozess beteiligten Athener Bürger. Nur eine elitäre kleine Gruppe nimmt am eigentlichen Dialog teil. 

 

Aspekte des Dialogs: Netzdialoge 

Dem gegenüber ist der Netzdialog eine zunächst konfus anmutende Dialogform. Er ist raumzeitlich offen und nicht auf bestimmte Arten und Weisen verfasst, reglementiert oder institutionalisiert. Er ist demokratisch in einem ganz authentischen Sinn und erzeugt eine Unmenge neuer Informationen [2]. Beispiele für Netzdialoge sind Partys, Gerede, Plauderei, spontane Treffen, die Verbreitung von Gerüchten. Diese Kommunikations-strukturen bilden das elementare Grundnetz aller menschlichen Kommunikation und damit von Gesellschaft überhaupt. Was diesen strukturellen Aspekt der Kommunikation gegenüber den artifiziellen Strukturen der Diskurse und des Kreisdialogs besonders auszeichnet, ist die Tatsache, dass er die wirklich einzige Form für Informationsaustausch und Erzeugung ist, für die es nahe liegende strukturelle Analogien in der Natur gibt, genannt seien ökologische Netzwerke, Zellkonglomerate, Gehirne, Systeme aus Nervenzellen, u.v.a. 

Bis vor nicht allzu langer Zeit war diese Kommunikationsform ebenso wie der Kreisdialog an die physische Präsenz, an die direkte Begegnung der beteiligten Kommunikationspartner und damit an ein abgegrenztes Terrritorium gebunden. Erst die Möglichkeit der zeitversetzten Kommunikation über den Briefwechsel hat daraus raumzeitlich ausgedehnte Netze gemacht, deren Produkte, Bücher und Briefe wir heute studieren können [3]. Ein bekanntes Beispiel ist die gut dokumentierte schriftliche Kommunikation der Humanisten im ausgehenden 15. Jahrhundert. Das, was Erasmus von Rotterdam, Beatus Rhenanus und viele andere schufen, kann aus heutiger Sicht durchaus als richtiges „Wissensnetz“ bezeichnet werden und bildete die Wurzel der wissenschaftlichen Kommunikationskultur von der Aufklärung bis in unsere heutige Zeit hinein. Thomas Jefferson und Alexander von Humboldt, Albert Einstein und Sigmund Freud sind nur zwei berühmtere Briefpartnerschaften in solchen Netzen [4,5]. Sie wurden von den Intellektuellen der jeweiligen Zeiten gepflegt und mit Leben erfüllt. Die Ursprünge dieser etwas weniger spontanen und organisierteren Kultur des Netzdialogs reichen allerdings zurück bis zu den reisenden Mönchen und den Klöstern des frühen Mittelalters. 

 

Das Internet: Katalysator für Netzdialoge 

Die Post und das Telefonsystem stellen erste organisatorische und technische Implementationen dieser Kommunikationsform dar, durch die der Netzdialog zusätzliche räumliche Ausdehnung und zeitliche Verdichtung gewinnt. Und über die neue Technik des Internet erfahren diese Netzdialoge nun eine ungeheure Beschleunigung, mehr noch, neben textuellen Elementen können Informationen aller Art, Audiodateien, Computerprogramme, Grafiken, Bilder, Videosequenzen, usw. dialogisch ausgetauscht werden. Technische Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit des Internet sorgen zudem dafür, dass diskursive Formen – denkt man beispielsweise an die Internet-Aktivitäten der Fernsehsender – mit in die Netzdialoge hineingesogen werden. So ist hier ein multidimensionales Informationsspeicherungs- und Austausch-Feld im Entstehen begriffen, bei dem der geographische Bezug der daran teilhabenden Individuen nur einer unter vielen anderen ist, er ist in der Tat nicht mehr „ausgezeichnet“. Für diskursive Elemente in diesem Feld haben wir nach wie vor die alleinige Verantwortlichkeit des Senders für die gesendeten Inhalte, jedoch für Dialogformen gilt und galt seit je her grundsätzlich und implizit, dass die Dialogpartner beide verantwortlich für Inhalte und Dialogprozess sind.

Jeder, der an diesen neuen raumgreifenden und zeitlich hoch verdichteten Netzdialogen teilnimmt, kann gleichzeitig Sender und Empfänger sein, und das nun – dank der weltumspannenden elektromagnetischen Netzwerke – weit jenseits der physischen Grenzen unserer Wahrnehmung. Auf die Email, auch die aus Australien, kann man sofort „antworten“, oder auch nicht, der Empfänger einer Botschaft, der Surfer auf einer WebSite, ist also – anders als bei den Diskursen – „ver-antwort-lich“! 

Und nun beginnen diese zusätzlichen Strukturen der geographisch ungebundenen, gewissermaßen „entorteten“ elektronischen Netzdialoge sich mit den bisherigen lokalen Netzdialogen zu überlagern. Einige Apologeten des Cyberspace sprechen sogar – aufgrund der strukturellen Nähe zu Nervensystemen – vom Entstehen einer planetaren Intelligenz oder von kollektivem Bewusstsein [6,7]. Zurzeit ist es geradezu „in“, auch in Politik und Wirtschaft, in allen möglichen Belangen die Netzwerk-Metapher zu gebrauchen, ob es passt oder nicht. 

 

Die Aufgaben der Politik 

Spätestens seit Kevin Kellys Bestseller „Das Ende der Kontrolle“ wird auch in breiteren Zusammenhängen nach der prinzipiellen Kontrollierbarkeit gefragt [8]. 

Für die Politik selbst gilt, dass sie ihre Wurzeln in geographischer Territorialität und der aktiven Kontrolle verschiedenster Aspekte derselben hat. Netzdialoge, soweit wir das geschichtlich zurückverfolgen können, haben aber immer eine nicht-territoriale Komponente, die sich aus der Bewegung, aus der Tätigkeit des Reisens, oder – wenn man so will – aus unseren nomadischen Anteilen gebiert. 

Und begreift man die durch das Internet umsichgreifende Entortung als eine Entterritorialisierung von Netzdialogen, dann wird die Frage nach der Kontrolle völlig obsolet. Dies findet sich nirgends besser bestätigt, als in der Äußerung eines US-Journalisten zu Multi-User-Dungeons: „Wenn jemand das Verhalten anderer kontrollieren möchte, wird er diese virtuellen Welten als extrem frustrierend empfinden.“ [9]. Und die Beobachtungen des US-Unternehmensberaters Don Tapscott scheinen das in Bezug auf unsere Kinder zu bestätigen. Den von ihm untersuchten und befragten „Net Kids“ ist eine „auffällige Autonomie im Denken und Handeln“ schon in jungen Jahren gemeinsam [10]. 

Für die Politik bleibt „nur“ das, was verantwortungsvolle Politik schon immer getan hat, bzw. tun sollte, nämlich, die Netzdialoge und damit das Entstehen neuer Informationen zu ermöglichen, zu befördern und aktiv zu gestalten, sie in Form zu bringen, sie zu „informieren“ [2]. In dieser Betrachtung entlarvt sich die totalitäre Unterdrückung der Netzdialoge als Verhinderung des Neuen und damit als ewige Wiederholung des Gleichen, als Demagogie. Die Aufgabe von Politik ist also grundsätzlich eine befördernde und moderierende für das Dialogische an sich, und damit auch eine pädagogische Einwirkung zu Mündigkeit und Verantwortung, denn der Dialog – das liegt in seinem Wesen – impliziert Verantwortung. 

Hierzu gehört die aktive Unterstützung für Initiativen der Art, wie wir sie als freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft bereits kennen, Organisationen wie AdultsCheck, Initiativen der Softwarehersteller, usw., aber eben nicht zunehmende gesetzliche Reglementierungen. 

Gelingt die Überzeugung zur (Selbst-)Verantwortung im breiteren Stil, dann kann vielleicht mit der Transformation des Politischen selbst in das Netz begonnen werden. Denn ein weiterer Nebeneffekt der Medienexplosion und der entorteten Netzdialoge ist das Verschwinden des politischen Raums, des öffentlichen Raums, in dem die öffentlichen Sache, die res publica stattfindet. 

 

Das Verschwinden oder die Transformation des Politischen 

Der Rückgang des Interesses an Politik vor allem unter Jugendlichen wird heute überall beklagt. Die Ursache dafür in der sprichwörtlichen Unglaubwürdigkeit einiger weniger Politiker zu sehen, ist ein Klischee und ein eklatanter Fehlschluss; die Jugendlichen interessieren sich nämlich vornehmlich für diejenigen Strukturen, die insgesamt mehr Beteiligung erlauben, und in der Politik – so scheint es – sind diese Plätze besetzt. 

Politik selbst – das liegt nicht nur in der Natur der Diskurse, über die Politik transportiert wird – lebt vom öffentlichen Raum, in dem Politik „geschieht“. Dieser Raum ist aber der öffentliche Raum des Senders. Um Politik zu treiben, muss man sich in die Öffentlichkeit begeben bzw. Öffentlichkeit herstellen, senden, indem einer größeren Gruppe von Menschen eine bestimmte Information übermittelt wird. Öffentlichkeit und Privatheit entsprechen also – vereinfacht und im Bild des Diskurses gesprochen – Sender und Empfängern. Nun besitzen unsere privaten Wohnungen neben Türen und Fenstern – Durchlässen zum Öffentlichen an definierten Stellen – zunehmend Löcher in den Wänden, durch die reversible Kabel laufen, Telefon, Fernsehen, Internet, etc., mit denen wir zusätzlich mit der Außenwelt verbunden sind. Mit Hilfe dieser reversiblen Kabel werden wir zu Knoten in einem Netz, in einer Ansammlung von Netzdialogen. Und die Zunahme des Dialogischen lässt den eher diskursiven öffentlichen Raum des Politischen – wenige Agierende und viele Zuschauer – langsam schrumpfen. Der nächste Knoten in meiner persönlichen Ansammlung von Netzdialogen, derjenige, der mir nahe steht – und das jetzt nicht notwendigerweise im geographischen Sinn – wird wichtiger als das abstrakte Prinzip Menschheit, das nie direkt wahrnehmbar war. Exakt das ist es, was Vilém Flusser den „Tod des Humanismus“ (als globales Prinzip) genannt hat [11]. Und das fast schon klassisch zu nennende Gegenargument, das Internet hier als Ursache und Katalysator zunehmender sozialer Verarmung zu bezeichnen, bestätigt sich genau nicht, wie jüngst eine 3-jährige soziologische Feldstudie aus Kanada eindrucksvoll belegen konnte [12]. Eine andere Frage darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben. Wenn die Trennwand zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten durchlöchert oder weggezogen wird, hat dies natürlich auch Konsequenzen für das Private. Oder anders gewendet wird das Verschwinden von Öffentlichkeit durch eine parallele Veränderung des Privaten sowie der Wertschätzung des Privaten – und damit auch des Öffentlichen – begleitet. Die zunehmende Anzahl von Fernseh- und Internet-konzepten à la Big Brother ist äußeres Indiz für diese Entwicklungen. Es ist der historisch gewachsene Gegensatz zwischen „Privatheit“ auf der einen und „Öffentlichkeit“ auf der anderen Seite, der unsere diesbezüglichen Wertvorstellungen erzeugt und geprägt hat. Mit dem Verschwinden dieses Gegensatzes entsteht eine Art verunsicherndes Werte-Vakuum, von dem sich bis jetzt nur allgemein sagen lässt, dass es mit aus Dialogen entspringenden zwischenmenschlichen Relationen gefüllt werden kann. Genau hier wäre ein Handlungsfeld der Politik von morgen zu sehen, einer Art Netzpolitik, die die Netzdialoge und unser Zusammenleben formt und organisiert auf der Basis eines noch zu entwickelnden „politischen Netzwerkmanagements“. 

Denn die Netzdialoge – dank Internet jetzt auch über große geographische Entfernungen hinweg – geben uns Möglichkeiten, mehreren Netzdialogen und damit mehreren Interessensgruppierungen gleichzeitig und aktiv anzugehören. Diese Gruppierungen entstehen aber, wie schon gesagt, nicht nur aus territorialen Gemeinsamkeiten, sondern ebenso aus gemeinsamen Interessen gleich welcher Art. Sie besitzen mehr Ähnlichkeit mit den Goethe’schen Wahlverwandtschaften denn mit territorialen oder ethnischen Banden. Der französische Kulturwissenschaftler Jaques Attali nennt dies die „Multidimensionale Demokratie“. Und diese will nicht nur ausgehalten, sondern auch gemanagt werden, auf eine Art und Weise, die den Dialogen kultureller Vielfalt und Verschiedenheit befördernd gerecht wird [13]. Aber solange die Übertragungskanäle für die Rückkopplungen zwischen den Einbahnstraßen der die Politik vermittelnden Amphittheater-Diskurse der Massenmedien (die nicht wirklich gehört werden) und den vor sich hin schwafelnden Netzdialogen im Internet (die ungeformte informationelle „Rohstoffe“ darstellen) fehlen, ist das System im kybernetischen Sinne „offen und instabil“ und damit im dialektischen Sinn „nicht kontrollierbar“ [14]. Politisch kompetentes und verantwortliches Handeln nimmt die fehlenden Rückkopplungen in den Blick. Es beginnt in der Schule.

 

Quellen: 

[1] Waltermann, Jens; Machill, Marcel (Hrsg.), Verantwortung im Internet, Selbstregulierung und Jugendschutz, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2000 zurück zum Text
[2] Flusser, Vilém; Kommunikologie, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1998, S.16ff.zurück zum Text 
[3] Innis, Harold; The Bias of Communication, Toronto 1951, dt.: Das Problem des Raumes, in: Kursbuch Medienkultur; Hrsg: Pias, Vogl, Engell, Fahle, Neitzel, DVA, Stuttgart 1999. zurück zum Text
[4] Günther, Gotthard; Selbstbildnis im Spiegel Amerikas, in: Philosophie in Selbstdarstellungen, Band 2, Felix Meiner, Hamburg 1978 zurück zum Text
[5] Einstein, Albert; Freud, Sigmund; Warum Krieg? Mit einem Essay von Isaac Asimov, dtb, Zürich 1972 zurück zum Text
[6] Lévy, Pierre; Die kollektive Intelligenz, Bollmann Verlag, Mannheim 1997 zurück zum Text
[7] Rosetto, Louis; Wired Magazine, Interview im Arte-Themenabend Internet, Straßburg 1996 zurück zum Text
[8] Kelly, Kevin; Das Ende der Kontrolle, Bollmann Verlag, Mannheim 1997zurück zum Text
[9] Morningstar, Chip; Electric Communications, Interview im Arte-Themenabend Internet, Straßburg 1996 zurück zum Text
[10] Tapscott, Don; Net Kids; Gabler, Wiesbaden 1998 zurück zum Text
[11] Flusser, Vilém; Die Informationsgesellschaft, Phantom oder Realität?, Vortrag auf der CulTec in Essen 1991, Audio-CD, Suppose Verlag, Köln 1999 zurück zum Text
[12] Grote, Andreas; Virtueller Raum und reale Bindungen, Bericht über die Arbeit von Barry Wellmann und Keith Hampton, Univ. of Toronto; ct-magazin 25, S. 64, Hannover 2000 zurück zum Text
[13] Attali, Jaques; Interview im Arte-Themenabend Internet, Straßburg 1996 zurück zum Text
[14] von Foerster, Heinz; Kompetenz und Verantwortung; Grundsatzreferat zur Herbsttagung der American Society for Cybernetics 1971; in: KybernEthik, Merve Verlag, Berlin 1993, S.161ff zurück zum Text

 

Anmerkung: Dieser Aufsatz wurde erstveröffentlicht im Periodikum des Medienzentrum Rheinland, im Medienbrief, Ausgabe 1/2001, ISSN 1615 - 7257 und ist hier geringfügig überarbeitet wiedergegeben.