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Quo vadis, Medienpädagogik?

von Joachim Paul

Einleitung

Im Zuge der an der Schwelle zum neuen Jahrtausend üblichen Ausblicke und Rückblicke muß es auch einmal erlaubt sein, zu fragen, wie es um die Medien-pädagogik steht. Welche Entwicklungstendenzen und -Möglichkeiten kennzeichnen diesen noch jungen "Ableger" der Pädagogik? Wie sehen die Beziehungen zu Medientheorie und Medienkritik aus? Und welche Schwerpunkte können für die Rolle der Medienpädagogik in der Zukunft gesetzt werden? Gerade weil die aktuell in der Republik medienpädagogisch arbeitenden Menschen häufig vom operativen und technischen Alltagsgeschäft verschlungen werden - hier ein Computerseminar für LehrerInnen, dort eine Video-, oder Radiowerkstatt mit SchülerInnen, Seminare und Mediensichtungen, etc., ist es vielleicht notwendig, sich mal die Ruhe zu nehmen, über Grundsätzlicheres zu reflektieren. Hierzu gehört - zunächst - ganz natürlich auch eine kurze geschichtliche Aufarbeitung des Begriffs "Medienpädagogik" und der damit verbundenen gedanklichen Ansätze, die im folgenden versucht werden soll.

 

Historisches

Obwohl die historischen Anfänge der sich mit Medienpädagogik beschäftigenden Überlegungen und Arbeiten weiter zurück liegen – sie lassen sich grob auf den Anfang des 20. Jahrhunderts datieren, kann von einer sich neu entwickelnden pädagogischen Fachdisziplin erst in den sechziger Jahren gesprochen werden, wo der Begriff erstmals im erziehungswissenschaftlichen Sprachgebrauch auftaucht [1,2]. Mitte der Siebziger unternimmt dann die Zeitschrift medien + erziehung (1976) den Versuch, die Konturen des bis dahin noch sehr diffus gebrauchten Begriffs durch eine Expertenbefragung näher abzustecken: "Medienpädagogik, was ist das?" Die Antworten erbrachten kein einheitliches Bild, sie unterstrichen eher die Vielschichtigkeit dieses Begriffs, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten angesichts der enormen Arten- und Bedeutungsexpansion der Medien sicher nicht verringert hat. Deshalb ist es nach wie vor nicht einfach, den Begriff Medienpädagogik in Kurzform konsensual zu umreißen. Im Gegenteil, es wird später in diesem Beitrag eher die Frage zu stellen sein, ob diese Nicht-Bestimmbarkeit gar eine prinzipielle Eigenschaft von "Medienpädagogik" ist.

In den Sechzigern war zunächst ein entscheidender Antrieb der Medienpädagogik die unter Lehrkräften weit verbreitete kulturpessimistische Skepsis gegenüber der - befürchteten - Allgewalt des neuen Mediums Fernsehen, der erst später konstruktive Ansätze zur pädagogischen Fernsehnutzung folgten. Weitet man den analytischen Blick auf größere historische Zeiträume aus, so läßt sich ein fast schon standardisierbares Denk- und Verhaltensmuster der Skepsis und Ablehnung gegenüber neu auftauchenden Medien feststellen, das jedoch nicht nur auf pädagogisch tätige Menschen zutrifft. Genaugenommen läßt sich dieses Muster der Sicht auf Medien bis auf Platon und seine Kritik an der Schriftlichkeit zurückverfolgen: "Die Schrift ist gefährlich. Das Wort, sobald es einmal niedergeschrieben ist, kommt überallhin; auch zu denen, die es nicht verstehen, denn das Wort selbst weiß nicht zu sagen, für wen es bestimmt war und für wen nicht."

Schon bei Platon bemerken wir den Aspekt der Trennung, der Entäußerung und Entfremdung des Gesagten vom Sagenden, das Medium wird hier als nur mittelbar Erfahrbares dem - bei Platon nicht weiter hinterfragten - Positivum der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung argumentativ gegenübergestellt. Die besonders durch die jeweils neuen Medien befürchtete Entfremdung vom Alltag, von der Relevanz des "wirklichen" Lebens, ist seit jeher in allen Epochen das Hauptargument des bewahrpädagogischen Zeigefingers, von der Geißelung der "Lesesucht von Kindern und Frauenzimmern" im 18. Jahrhundert - hier kam der gedruckte Roman als Massenmedium auf - über die Kritik am Kinofilm zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zur heutigen Infragestellung des "Sinns" von MultiMedia und Internet.

 

Erste medienpädagogische Schlußfolgerungen

Zunächst führte dieser "Entfremdungsansatz" zu zwei medienpädago- gischen Schlußfolgerungen: Erstens werden Wahrnehmungen aus den Medien als "Informationen aus zweiter Hand" gesehen, deren kritische Aufarbeitung zur pädagogischen Aufgabe der Medienerziehung gehört. Zweitens wird die Wichtigkeit "unvermittelter" Erfahrungen betont, das Spielen in Gruppen und sich Bewegen im Freien, Sport, usw. Der Medienkonsum wird demgegenüber als passiv, konsumistisch und wenig anregend bewertet. Für die Medienpädagogik bleibt dann nur der Ausweg, anstelle der konsumierenden Haltung den Aspekt der Produktion hervorzuheben, um im aktiven Umgang, z.B. bei einer Videoproduktion eine "konstruktive" Alternative der Auseinandersetzung mit Medien zu finden [3]. Hier wird die gesunde "Balance", die Ausgewogenheit zwischen Mittelbarem (Medialem) und Unmittelbarem sowie die Vermittlung der Befähigung, die "Balance" halten zu können, zum pädagogischen Thema. Leider wurden in diesem Zusammenhang bei der Auswahl der Fach-Metaphorik – wohl aus der Not heraus - auch schwerwiegende Fehler gemacht, die die medienpädagogischen Aufgabenfelder eher verwässern, denn präzisieren. Ein Beispiel hierfür ist der von Neill Postman geprägte Begriff der "Medienökologie", gleichwohl unabsichtlich, aber dennoch eine epistemologische Katastrophe erster Ordnung. Denn durch diesen unglücklichen Begriffs-Import aus der Biologie kann der Eindruck entstehen, als seien Medien als etwas vom Menschen unabhängiges zu betrachten, da Ihnen offensichtlich eine eigene Ökologie zugebilligt wird. Solcherart Externalisierung hat in der Psychiatrie einen eigenen Namen: Schizophrenie. (Selbstredend ist diese Ansicht diskussionsfähig und repräsentiert die persönliche Einschätzung des Autors.)

 

Radikaler Konstruktivismus 

Die beiden oben genannten, aus der frühen Phase der Medienpädagogik stammenden Schlußfolgerungen können deshalb nicht greifen, weil die Frage nach dem Bezugspunkt, nach "Unmittelbarkeit" und "Wirklichkeit" nicht beantwortet werden kann. Spätestens seit dem radikalen Konstruktivismus wissen wir, daß diese Nicht-Beantwortbarkeit etwas Prinzipielles ist. Unsere "Wirklichkeiten" sind ihrerseits Konstrukte, und zwar von Kognitionen, die wir in unseren Nervensystemen haben. Mit Abstand am Einfachsten, aber auch am Verblüffensten ist das Argument Heinz von Foersters, hier sinngemäß wiedergegeben: "Direkt mit unserer physischen Umgebung in Kontakt stehen einige 100 Millionen sensorische Rezeptoren, demgegenüber stehen etwa 10.000 Milliarden Synapsen innerhalb unseres Nervensystems. Wir sind also für Veränderungen in unserem Inneren 100.000 mal empfindlicher als für Veränderungen in der Umwelt." [4] Oder anders gewendet: Wer möchte behaupten, daß die paar extern ausgerichteten Rezeptoren entscheidender für unsere "Wirklichkeiten" sind als die Unmengen an vernetzten inneren Neuronen? Selbstrückbezüglichkeit - SelbstreferentialitätKognitionen sind also über die gesamte Lebenszeit eines Individuums nicht-endende, rekursiv-rückgekoppelte Errechnungen von Errechnungen (von Interpretationen von Wahrnehmungen). Seit dem Konstruktivismus ist also Schluß mit lustig, die Überlegungen zur Medienpädagogik werden schwieriger, denn ein "Verschwinden der Wirklichkeit durch die Medien" kann nicht mehr beklagt werden, da "Wirklichkeit an und für sich" niemandem gegeben ist [5]. Demgegenüber befleißigen sich einfacher gestrickte Medienkritiker a la Paul Virilio in ihrer Argumentation – bewußt? – weiter einer a priori vorausgesetzten Wirklichkeit. Wirklichkeiten können also grundsätzlich nicht mehr als interne Abbildungen begriffen werden, sondern sind als Konstruktionen zu sehen. Im typischen Sprachduktus des Konstruktivismus liest sich dies bei Siegfried S. Schmidt folgendermaßen: In den Organisationen, die für die Produktion und Distribution von Medienangeboten zuständig sind, operieren Aktanten, die - kognitiv und kommunikativ – ständig mit der Konstruktion von Wirklichkeiten – widerum als Kopplungsangebote für andere kognitive und kommunikative Systeme (gemeint sind hier die anderen Menschen) - beschäftigt sind [6].

 

Mediengeschichte und Bewußtseinsentwicklung 

Nun mag – vordergründig betrachtet – der Eindruck entstehen, daß der konstruktivistische Standpunkt überhaupt keinen Unterschied mehr trifft zwischen der medial vermittelten Wahrnehmung und der unvermittelt und direkt über die Sinnesorgane gemachten Wahrnehmung ohne zwischengeschaltete technische Artefakte wie Buch, Lautsprecher oder Bildschirm; dies ist jedoch grundfalsch. Gemeint ist vielmehr folgendes: Über Medien vermittelte Wahrnehmungen haben seit jeher ebenso Einfluß auf unsere internen Interpretationen und Konstruktionen wie unsere unvermittelten Wahrnehmungen. Der Mensch macht sich – als Konstrukt - "Bilder" seiner Wahrnehmungen, ob als den Jagderfolg "herbeischreibende" Höhlenmalerei von Lascaux, als Roman, als Historienfilm oder als digitale Enzyklopädie. Hierbei wird sehr schnell deutlich, daß die Entwicklung der Medientechnologien und -Techniken – von der schamanischen Höhlenmalerei bis zum Internet – untrennbar verwoben ist mit der Entwicklung unseres Bewußtseins selbst, mit der Evolution unserer Kognitionen. So bezeichnet der US-Psychologe Julian Jaynes die Erfindung der Sprache als Konstruktion eines Operators, eines Wahrnehmungsorgans, gesprochene Lautsignale als ein - erstes? – Medium für die Codierung von Wahrnehmungsinterpretationen [7]. Ganz deutlich wird das Verwobensein der Entwicklung der Bewußtseinstrukturen einerseits mit der Entwicklung der Medien andererseits bei Vilem Flusser, der beides in einen gemeinsamen kulturhistorischen Kontext stellt [8]. Vereinfacht gesprochen wurden in der magischen Welt die Bilder erfunden, um "situative" Wahrnehmungen zu codieren und vermittelbar zu machen. Die darauf folgende rationale Welt mit ihrem hi(story)schen Bewußtsein codiert ihrerseits die inflationär gewordenen Bilder in geschriebene Texte um, Texte "bedeuten" also Bilder. Und heute haben wir es mit technisch (Foto, Film, Video, Digital) erzeugten, sog. Technobildern zu tun, die ihrerseits Texte (und Bilder) codieren. Hierzu Flusser sinngemäß: "Allerdings ist das Verhältnis zwischen Texten und dem noch jungen Universum der Technobilder undurchsichtig, und solange dies so ist, werden wir der Gefahr ausgesetzt bleiben, daß unsere Begriffe – hier gemeint im Sinne einer Textkultur - von den Technobildern verschlungen werden."

 

Quo vadis?

Wo läßt sich nun ein argumentativer Hebel finden, der uns aus dem "Herumrühren im Brei der Wirklichkeiten" hilft und mit dem wir die Medienpädagogik und ihre Aufgaben wenigstens umrißhaft skizzieren können? Die Antwort liegt schon bei Flusser offen vor uns, ist jedoch nur aus bestimmten "Blickwinkeln" wahrzunehmen: Uns bleibt "nur" übrig, griffige Beschreibungen dafür zu konstruieren, wie die konstruierten Wirklichkeiten miteinander vermittelt – mediert – sind, zu durchschauen, wie die Verhältnisse zwischen Bildern, Texten und Technobildern beschaffen sind. Kurz: Wir müssen einen Weg finden, die medialen Abbildungsprozesse ihrerseits abzubilden, transparent zu machen. Die medienpädagogische Hauptaufgabe besteht dann konsequenterweise darin, dies Lernenden und Lehrenden zu vermitteln, bewußt zu machen, Einblicke in die Strukturen der medialen Abbildungsprozesse zu gewähren. Medienpädagogik in dieser Lesart ist aber nichts anderes als "Entwicklungshilfe" für menschliches (Selbst)-Bewußtsein! Dies gilt für den Deutschlehrer ebenso für den Physik- oder den Mathematiklehrer, der den Gebrauch des Mediums "Formale Abbildungssprache (der Mathematik)" vermittelt. Somit ergibt sich, daß jede Form der Pädagogik immer auch Medienpädagogik zu sein hat. Sie ist daher aus dem teilweise noch randständigen Dasein innerhalb der Pädagogik unbedingt zu befreien. Medienpädagogik hat nunmehr an zentraler Stelle des politisch-pädagogischen Auftrags zu stehen. Aber solange Medientheorie und -Kritik nicht über einen operationsfähigen logischen Kalkül zur Argumentation verfügen, der den Vorgang des Abbildens von Abbildungsprozessen selbst präzise beschreibbar macht [9], steht die Medienpädagogik nach wie vor jenseits des Gegensatzes von Theorie und Praxis, sie ist – lediglich - gelebte Kommunikation. 

Reicht uns das?

 

Fussnoten

[1] L. Kerstins, Zur Geschichte der Medienpädagogik in Deutschland, in: Jugend Film Fernsehen, 1964, S. 182 - 198, zurück zum Text 

[2] H.-G. Müller, Zur Enstehungsgeschichte der Medienpädagogik, in: medium, 1/1987, S. 49ff. zurück zum Text

[3] Heinz Moser, Einführung in die Medienpädagogik, Aufwachsen im Medienzeitalter, Leske + Budrich, Opladen 1999 zurück zum Text

[4] Heinz von Foerster, Über das Konstruieren von Wirklichkeiten, in: Sicht und Einsicht, Vieweg, Braunschweig, Wiesbaden 1985 zurück zum Text

[5] Bettina Hurrelmann, Kinder und Medien, in: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg, Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 395 zurück zum Text

[6] Siegfried J.Schmidt, Siegfried Weischenberg, Mediengattungen, Berichterstattungsmuster, Darstellungsformen, in: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg, Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 212 ff zurück zum Text

[7] Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche, Rowohlt 1989 zurück zum Text

[8] Vilém Flusser, Kommunikologie, Fischer, Frankfurt am Main, 1998 zurück zum Text

[9] z.Z. ist ein Abbilden von Abbildungsprozessen, das dem Anwenden eines Operators auf einen anderen gleichkommt, formallogisch nicht möglich, da dies nach der auf der zweiwertigen Logik aufbauenden Russell'schen Typenlehre logische Antinomien produziert. Ein Übergang, eine Verwandlung eines Operators in einen Operanden ist innerhalb der zweiwertigen Logik nicht zulässig. zurück zum Text

 

Anmerkung: Dieser Aufsatz wurde erstveröffentlicht im Periodikum des Medienzentrum Rheinland, im Medienbrief, Ausgabe 03/99, ISSN 1615 - 7257 und ist hier geringfügig überarbeitet wiedergegeben.