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Kommentar zu:
"Zur Verstörung des (H)ortes der Zerstörung"
von Rudolf Kaehr
Hans-Jörg Rheinberger
wie der Bezugstext von Rudolf Kaehr ebenfalls in: Kümmel, Schüttpelz (Hsg.),
Signale der Störung,
Verlag Wilhelm Fink 2003
Hans-Jörg Rheinberger ist Executive Director des
Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin
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Ich verstehe den Hinweis auf "kreative Zukünftigkeit"
im Text von Rudolf Kaehr als Aufforderung zu einer strömenden, wenn auch
kurzen Rede. Im Sinne seiner Definition heraklitischer Ströme setzt sie also
irgendwo ein und hört irgendwo auf, denn Ströme sind dadurch gekennzeichnet,
daß sie keinen Anfang und kein Ende haben. Aber kein Strom ohne Schnelle. Die
Stromschnelle ist ein Ort der Störung. Der Fluß des Wassers verschnellert und
zerklüftet sich. So ist es auch mit der Redeschnelle im Redestrom. Man kommt
dann ins Stottern irgendwo und irgendwann. Schnelle und Schwall münden in eine
Verzögerung. Man bleibt hängen, dort unten, wo die herabstürzenden sich mit
den aufsteigenden Wassern verschlingen.
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Ich vermag nur zu ahnen, was sich in Rudolfs Text
abspielt, worauf er hinaus will. Das war ja schon damals, vor über dreißig
Jahren "Auf dem Grat", sein vergebliches Bemühen, Leuten wie mir die
mehrwertige Logik von Gotthard Günther nahezubringen. "Das Novum der
Kenogrammatik gegenüber der Semiotik", heißt es in seinem Essay, "besteht
darin, daß die transzendentalen Voraussetzungen der Semiotik, d.h. die
kognitiven Prozesse der Abstraktionen der Identifizierbarkeit und der
Iterierbarkeit, also die Bedingungen ihrer Möglichkeit in einen
innerweltlichen, d.h. konkret-operativen Zusammenhang gebracht werden."
Dennoch meine ich, etwas hinter diesem ungeheueren Satz vermuten zu können.
Identifikation und Iteration als konkret-operativer, innerweltlicher
Zusammenhang? Ja! Da stellt sich ein Bild ein. So ungefähr stelle ich mir den
Prozeß der experimentellen Erkenntnisgewinnung vor, den material-vermittelten
Forschungsvorgang. Auch er ist im Prinzip unabschließbar und hat keinen
sinnvoll angebbaren singulären Ausgangspunkt. Das heißt, daß es ihn nur gibt
in der ihm eigenen Rekursivität, in seiner Getriebenheit durch seine eigene
Bewegung. Er läuft in sich zurück aufgrund einer konstitutiven
Identitätsverfehlung, und das ist genau das, was ihn im Gang hält. Der
Semiosis der Forschung kommt man weder auf klassisch erkenntnistheoretischem
noch auf klassisch logischem Wege bei.
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Das Ganze funktioniert wie ein
Xenotext im Sinne von Brian Rotman: "The xenotext offers no redemption, no
written promise of hidden treasure, no icon of value, no delivery of some
precious, proto-signifying, specie. What was a past meaning, waiting intact
and whole to be claimed, independent of the act of retrieving it, is displaced
by a de-mythologised future significance, fractured, open and inherently
plural. For the xenotext here is nothing to retrieve; there is only
language in a state of potential and never actualised interpretation. What it
signifies is its capacity to further signify. Its value is determined by its
ability to bring readings of itself into being. A xenotext thus has not
ultimate 'meaning', no single, canonical, definitive, or final
'interpretation': it has a signified only to the extent that it can be made to
engage in the process of creating an interpretive future for itself."[1]
Experimentalsysteme haben die Struktur solcher Xenomaschinen und sind
insofern, mit Kaehr zu sprechen, "(H)orte der Zerstörung". Sie sind dazu da,
epistemische Objekte zu realisieren, deren Identifizierbarkeit und
Iterierbarkeit eben nicht als Abstraktion gegeben ist, sondern sondern nur im
Vollzug ihres Umbaus.
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In diesem Prozeß des "Fremdtextens", in dieser
grenzübertretenden Umschrift spielt das Hindernis eine entscheidende Rolle.
Das Hindernis ist, könnte man behaupten, die generalisierte Form der Störung.
Wo Gaston Bachelard in seinem Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven
Erkenntnis den Begriff des "epistemologischen Obstakels" erläutert, fällt der
Satz: "Le réel n'est jamais 'ce qu'on pourrait croire' mais il est toujours ce
qu'on aurait dû penser." [2]
Das Obstakel ist jener Ort im Erkenntnisvorgang, an dem sich das ereignet, was
das Erkennen eben genau zu einem Vorgang macht im Sinne des Unerhörten und
Unerfindlichen. Dort ereignet sich nämlich, daß man nicht mehr sagen kann:
"Ich könnte mir vorstellen", im Modus des Woraufhin einer primordialen
Ausrichtung. Dort spielt sich etwas ab, das uns immer nur nachträglich
feststellen läßt: "Das hätte ich mir denken können." In dieser kleinen
Verschiebung der Temporalität, in dieser konstitutiven Nachträglichkeit gibt
sich das Reale immer nur gerade als das, was es wissenschaftlich ist, als das
grundsätzlich Unvorwegnehmbare. Denn es ist immer einer Störung geschuldet,
die als solche nicht gewollt und damit auch nicht vorweggenommen werden kann.
"La pensée empirique est claire, après coup ..." [3]
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"Eine Zahlenfolge beginnt in einer Kontextur, stößt auf
ein Obstakel und setzt sich in einer anderen Kontextur fort." Was Rudolf Kaehr
hier für seine polykontexturale Logik postuliert, könnte man auch die Struktur
der Irre nennen. Die Irre unterscheidet sich vom schlichten Irren. Einen
Irrtum korrigiert man, sobald man ihn erkennt. Die Irre hingegen ist eine
Suchbewegung, die komplementär zum Obstakel ist, die also zu Übersprüngen
zwingt. Die Irre ist nach vorne gerichtet, ohne nach vorne sehen zu können -
sie ist mithin das Prinzip des Experiments.
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Ich würde diese Glosse nicht geschrieben haben, wenn
ich nicht davon überzeugt wäre, daß die Matrix aller Kommunikation das
Mißverständnis ist. Wie sonst hätte ich mich zur Verstörung des (H)ortes der
Zerstörung äußern können? Wir gehen nie weiter, als wenn wir uns mißverstehen.
Das Differential des Missens ist dasjenige, was bewirkt, daß es sozusagen
haarscharf daneben gehen kann. In diesem haarscharfen Spalt tut sich ab und zu
etwas Neues auf. Darauf beruht ja auch die Prolifik des wissenschaftlichen
Probehandelns, die Mächtigkeit des Modells: Es ist nicht mächtig, weil es
paßt, sondern dadurch, daß es etwas zu wünschen übrig läßt.
[1] Brian
Rotman, Signifying Nothing. The Semiotics of Zero. St. Martin's Press, New
York 1987, S. 102.
[2] Gaston Bachelard, La formation de l'esprit
scientifique. Sixième édition, Vrin, Paris 1969, S. 13.
[3] Ibid.
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