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Twitteratur, Genese einer LiteraturgattungMatthias Hagedorn über diese Anthologie |
Technische Neuerungen sind immer auch eine Chance für scheinbar überholte literarische Formen. Bisher bilden die kleinen Formen in jeder Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und selbstverständlich der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist der althergebrachte Aphorismus in Form des Mikroblogging eine auflebende Form. Bestand die Modernität dieser Notate bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Es ist Twitteratur. Erst seit drei Jahren wird die Twitteratur als eigenständige Prosagattung anerkannt und erforscht. Das Merkmal für Twitteratur ist ein einzelner Gedanke, der in nur einem Satz oder wenigen Sätzen selbständig bestehen kann. Oft formuliert er eine besondere Einsicht rhetorisch kunstreich als allgemeinen Sinnspruch (Sentenz, Maxime, Aperçu und Bonmot – gehört Lyrik nicht auch dazu?). Mehr Wahrheit als Dichtung, ein virtuoser Umgang mit Bild- und Aspektwendungen ist oft auch ein Kennzeichen des Essays, des „großen Bruders“ der Twitteratur. Der Übergang zwischen beiden ist fließend, eine Grenze für die Länge wird von der Literaturwissenschaft mehrheitlich abgelehnt.
Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität – was für Roland Barthes Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in dieser von uns lancierten Kunstform wieder. Mit Twitteratur entsteht etwas ganz Eigenes. Nicht der Kontrast zwischen Alt und Neu, auch nicht das intellektuell vergleichbar simple Nachahmen, sondern ein dritter Weg. Verfremdung bedeutet, die Dinge nicht mehr in ihrer Evidenz darzustellen, sondern die dargestellten Zustände erst zu entdecken, indem man sie unterbricht und so ermöglicht, sich von ihnen zu distanzieren. Die Verfremdung, durch eine solche schockhafte, retardierende Unterbrechung, führt also zu einem Staunen, ob der entdeckten Zustände, das erst die kritische, nämlich nicht mehr in der allgemeinen Evidenz befangene, Stellungnahme des Publikums zu den Vorgängen, wie auch zur Art der Darstellung ermöglicht. Kritik bedeutet unterscheiden, was sagen die Kritiker des Unterscheidungsvermögens? Über die Bedeutung der Twitteratur wurde gerätselt: “Miniaturen? Anekdoten? Essays? Witze? Parabeln? Fabeln? Texte? Aphorismen oder gar Denksprüche, Apophthegmen? Gebete, vielleicht Weisheitsliteratur?” Wir setzen uns davon ab, oft Gehörtes zu wiederholen, dies kann zwar für den Buchmarkt von Vorteil sein, denn Leser bevorzugen bekanntlich Texte, die ihnen noch mal schöner erzählen, was sie eh schon wissen. Deshalb hat auch das Lesen des Lieblingsfeuilletons eher etwas Rituelles, Gottesdienstartiges, als dass es einen auf neue Gedanken stößt. Das Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) verabschiedet sich vom klassischen Autorenbegriff. Die Herausforderungen der kommenden Gesellschaft sind zu komplex, um von einem einzelnen definiert, aufbereitet und auch noch niedergeschrieben zu werden. Das Internet ermöglicht uns, eine Welt der Bezüge herzustellen, daher rufen wir auf KUNO die Klassiker der Kurzformen in Erinnerung und kombinierten sie in diesem Jahr mit aktuellen Themen und Autoren. Ein Autor er ist heute nicht mehr der Gatekeeper mit dem Geheimwissen von einst. Daher knüpfen wir in diesem Online-Magazin wortreich soziale Netzwerke mit Lebenden und Toten. Das Netz hat die Literatur aus den Krallen der Kritiker befreit und die Geschmackspolizei entmachtet. Hypertext bietet eine Erweiterung: Online-Sein heißt Verflüchtigung, und im Glauben, alles zu erfassen, kann selbst der interessierte Leser doch nur seine Ohnmacht angesichts der Zeichenschwemme eingestehen . Der semantisch entrissene Text tritt als Fließtext in Konkurrenz zu anderen Texten und Bildern, die immer auch auf den eigentlichen Text als Diskursprodukt zurückwirke n. Auch die Textintention ändert sich durch die mediale Verschiebung, sodass die Netz-Flüchtigkeit zur Text-Flüchtigkeit wird. Natürlich kennt auch die Welt jenseits der Kunst eine vergleichbare Dichte von Information, vor allem im Internet, wo das Enzyklopädische in kollaborativer Anstrengung zu neuem Leben erweckt wird. Wir bei KUNO glauben, daß die Öffnung der Archive das große Zeichen unserer Zeit ist. Wie geht man damit um, dass man mit einem Mal durch das Internet einen direkten Zugang zu allen jemals erschienenen Arbeiten bietet? Wie geht man mit dieser Vielfalt um? In welchem Verhältnis stehen Neuerscheinungen zu den Avantgarden der Vergangenheit? Was soll das Literatur machen, wenn alle Tabus gebrochen, alle Grenzen überschritten sind? Die Aufgabe von Twitteratur: Mit ihrer Interaktivität löst einen Traum der Moderne ein. Émile Zola hatte 1880 in seiner programmatischen Schrift “Der Experimentalroman” sein naturalistisches Schreibprojekt als Laborversuch skizziert: “Man nehme einen biologisch in spezifischer Weise determinierten Helden und setze ihn in ein wissenschaftlich genau abgestecktes Milieu. Die Geschichte, die sich aus dem Zusammenspiel der Faktoren ergeben werde, dürfe als wissenschaftliche Erkenntnis von den Handlungsoptionen menschlicher Akteure gelten.” KUNO versteht als Ort der Gesellschaft in der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren läßt, soll der Ort werden, an dem die subjektlose Revolution der nächsten, digitalen und vernetzten Gesellschaft reflektiert wird. In dem die Themen behandelt werden, die die Menschen und die Gesellschaft bewegen und zwar mit maximaler formaler Freiheit. Die Themen, die die Menschen zum Lesen bewegen. Dieses Thema bearbeiteten Autoren auf unterschiedliche Weise. Beantwortet ist die Frage, ob wir der Literaturgeschichte entkommen können, noch lange nicht. Die Literatur ist im Fluss, hier die Edition Das Labor, dort die Allesverfügbarkeit und auch Allesproduzierbarkeit durch das Internet – für mich ist das kein Gegensatz, sondern der Beweis für das Langlebige, Überzeitliche der Poesie. Die Literatur muss versuchen, einen größeren Überblick zu bekommen und sich in Gegenwelten zu bewegen. Diese Forderung richtet sich an die Schriftsteller, von denen ich glaube, daß sie eigentlich den gesellschaftlichen Auftrag haben, stellvertretend für die Menschen, die sich nicht mehr in diese Dinge hineinbewegen können, in Gegenwelten, in Entwürfen, in den großen Texten zu spielen und das ganz ernst zu nehmen und das nicht als eine – und das wird es immer mehr – als eine eitle persönliche und die eigenen Obsessionen befriedigende Geschichte gesehen wird, sondern als eine hohe Begabung. Im Zusammenhang mit Öffentlichkeit tritt immer die Frage nach Repräsentation zutage. Man kann eben auch heute nicht einfach nur Kunst machen, Musik, Literatur. Plötzlich taucht das Phänomen der Professionalität auf, Selbstdarstellung, Verkauf – alles im Grunde kunstferne Fähigkeiten. Und, ganz wichtig, plötzlich dürfen keine Fehler mehr gemacht werden, dabei gehören die Fehler zwingend zur Kunst. Die Edition Das Labor stellt in dieser Twitteratur-Anthologie unterschiedliche Statements von und über Anja Wurm, Franz Kafka, Ulrich Bergmann, Karl Kraus, HEL, Karl Feldkamp, Jesko Hagen, Michel de Montaigne, A.J. Weigoni, Sophie Reyer, Tamara Kudryavtseva, Tom de Toys, Francisca Ricinski, Joanna Lisiak, Angelika Janz, Michael Gratz, Holger Benkel, sowie Haimo Hieronymus, Peter Meilchen und Denis Ullrich vor. Als Appendix finden Sie in dieser Taschenbuchausgabe die Würdigungen des seit 2001 verliehenen Künstlerpreises Das Hungertuch, sowie ein Nachwort von A.J. Weigoni. Die Autoren bestehen in ihren Ausführungen darauf, daß auch eine alte Kunstform die neue Wirklichkeit entlarvend aufschließen kann. Matthias Hagedorn Twitteratur, erweiterte
Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. |
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