McLuhan weiter denken – Sprache, Technik, Menschwerdung

zu Herbert Marschall McLuhans 100stem Geburtstag

Sprachliche Insuffizienz

Technik – im Sinne der griechischen Techné als Kunst, Kunstfertigkeit, Handwerk beschreibt unser Verhältnis zur Welt als Relation. Wir sind es, die wir in dieser vertrackten Relation namens Technik drinstecken, nicht als irgendein abstrakter Begriff eines einsamen Ich, das sich der überwältigenden Vielgestaltigkeit der Welt gegenübersieht, so wie das in unserer auf die alten Griechen zurückgehenden Ontologie immer wieder dargestellt wurde. Vielmehr ist es ein konkretes Wir, das in der Technik steckt, wo in einer Art streitender Gemeinsamkeit die alte Beziehung des einsamen Ichs zur Welt für jedes menschliche Individuum mit je individueller Färbung und Formung und daher immer neu wiederholt und somit in einer Vielheit aufgehoben ist.

Unsere modernen westlichen indogermanischen Sprachen sind es, die die Wirklichkeit und Vielgestaltigkeit dieser Relation geradezu systematisch vor uns zu verbergen scheinen, in dem sie uns Sätze und ein Sprechen abverlangen, die beide allzeit dem Subjekt-Objekt-Schema zu genügen haben. Hier bemerken wir, dass Sprache allein nicht oder nicht mehr ausreicht, um Sachlagen und Relationen adäquat darstellen und vermitteln zu können.

Der Medienphilosoph Vilém Flusser kritisierte dies einmal in einem Interview am Beispiel der Tätigkeit von Hirten. Denkt man diese Hirten-Technik vom menschlichen Subjekt aus, ergibt sich eine Weltsicht, die als Konstruktivismus bezeichnet wird und die bei uns in Deutschland insbesondere in pädagogischen Kontexten weit verbreitet ist. Wir konstruieren unsere Welt, sagt der radikale Konstruktivismus, ergo folgert Flusser, muss es für die Konstruktivisten heißen: Hirten weiden Schafe. Der Mensch steht ganz auf der aktiven Seite des Satzes.
Im Gegenzug würden ding-fixierte Positivisten, die Objektivität in allgemeingültigen Sätzen anstreben und Subjektivität sehr gern aus der Wissenschaft und überhaupt aus allem anderen heraushalten wollen, die auf den Waren-Fetisch bezogene passivische Form bevorzugen und sagen: Schafe werden von Hirten geweidet. Das sind die einzigen direkten Möglichkeiten des Ausdrucks in unserer Sprache.

Flusser schlägt nun vor, um unserer Erkenntnissituation bezogen auf die auszudrückenden Relationen gerecht zu werden, den Fokus der Betrachtung gewissermaßen zu verschieben und zu sagen: Es gibt ein Weiden von Hirten und Schafen, also gibt es Hirten und Schafe, die in einem Weideverhältnis zueinander stehen. Dieses Verhältnis, so Flusser, sei eher als mathematische Funktion F(x,y) ausdrückbar, denn als Subjekt-Objekt-Satz. Der linguistische Diskurs würde also der Konkretheit des Weidens nicht mehr gerecht.
Flusser selbst verweist desweiteren darauf, dass dieses Ich „nie allein da sein“ könne, und dass es immer ein Du gebe, woraus ein seltsames Wir entstünde, das nicht genau dasselbe ist wie die erste Person Plural, sondern eher so etwas wie „die vierte Person Einzahl“. Dieses Wir, so Flusser, sei „das Gegenteil des Es“ [1], der Welt als Ansammlung von Dingen.

Die Konkretheit der Weideverhältnisse ist jedoch in der Regel noch viel komplexer. Fürgewöhnlich ist der Hirte nicht einmal während des Weidens allein mit den Schafen, sondern Teil eines Wir, in das seine tierischen Kollegen, seine Hütehunde, mit einbezogen sind. Dies besagt, dass wir konsequenterweise das Wir auch über den rein menschlichen Bereich hinaus ausgedehnt denken können, dass „Leben an sich“ in einem weiteren Sinn in ein „Wir in der Welt“ mit einbezogen werden muss. Ein solcher Schritt beinhaltet jedoch eine weitere Entthronung des Menschen – letztlich den Tod des Humanismus.

Das Entstehen des Relationenfeldes Technik – Menschwerdung

In dieselbe Richtung zeigt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy, indem er zunächst auf „die Zwecklosigkeit der Zwecke“ hinweist, die am Anfang aller unserer Technik steht.[2] Dort steht ganz im griechischen Wortsinn der techné die Kunst. Denn „schon im Paläolithikum produzierten die Leute massenweise Farbpigmente und transportierten sie über Hunderte von Kilometern. Wir Menschen waren von Anfang an verrückt.“  Kunst – und damit Technik – kommt aus einer Zwecklosigkeit, sagt Nancy. Sie erzeugt ihren Zweck selbst. Dies steht im strengen Gegnsatz zu einer im 20. Jahrhundert sehr populären Auffassung, die Technik als Mittel des Menschen sieht, einen Anpassungsmangel gegenüber den optimal an ihre Umgebung angepassten Tieren zu kompensieren. Technik als Notwendigkeit, als Zweck des Mängelwesens Mensch, seine Mängel künstlich auszugleichen. [3]

Einen weiteren Erkenntnisbaustein bringt der erst durch Dieter Claessens und dann durch Peter Sloterdijk wiederentdeckte jüdische Anthropologe und Arzt Paul Alsberg ins Spiel. Er führt in seinem 1922 erstmals  erschienenen Werk „Das Menschheitsrätsel“ den Begriff der Körperausschaltung [4] ein und liefert damit neben Anpassung einen notwendigen zweiten Begriff, mit dessen Hilfe nun an eine Weichenstellung innerhalb der menschlichen Evolution gedacht werden kann.

Wiederum Vilém Flusser gab uns das Bild des äffischen Baumbewohners, der durch das Auseinandertreten der Bäume im ostafrikanischen Becken beim Hangeln plötzlich vom Baum fiel und auf seinen zwei Beinen landete.[5] Wir wissen nicht, warum  dieser frühe Primat sich aufrichtete, vielleicht um über das hohe Steppengras hinweg seine Feinde und Fressfeinde schneller entdecken zu können.  Als Konsequenz jedoch hatte er die Hände frei. Ein Moment, den wir zunächst – was die Hände betrifft – als zweckfrei bezeichnen können. Die Vorderläufe, die bis dahin steten Kontakt mit dem Erdboden, mit Baumästen hielten, sind ihres Zweckes im Wortsinn ab-handen gekommen. Für Flusser ist dieser Fall vom Baum der Ur-sprung, der Fall aus dem Paradies, das Sich-Öffnen eines Möglichkeitsraums, den wir vielleicht mit Alsberg als den Beginn eines anderen Weges der Evolution betrachten können, dem Weg der Körperausschaltung. Dies stellt zunächst einen Verlust dar, die vorderen Gliedmaßen verlieren den Kontakt zur Welt. Infolgedessen wird versucht, diesen Kontakt wieder herzustellen.

Eine erste, einfache keineswegs vollständige Antwort auf die metaphysische Frage Nancys, „wie es möglich ist,  dass […]  ein Seiendes wie der Mensch herausgekommen ist, der der Techniker par excellence ist.“ [6]
Wenn wir überhaupt von einem Anfang sprechen können, lag er möglicherweise darin, dass unsere Hominiden-Ahnen die Hände frei hatten und sodann den Weg der Menschwerdung beschritten, ein Weg, der direkt in dieses Relationenfeld Technik führt, es im Beschreiten des Weges erzeugt und im geschichtlichen Prozess ausweitet.

Lassen wir noch einmal Nancy zu Wort kommen, der mit Wittgenstein sagt: „Das Bedeutende ist, dass wir hier sind.“ In einer Welt, „die aus Nichts und für Nichts gegeben ist, aber zugleich wirklich gegeben ist, und wir sind Teil der Gegebenheit“[7].

Halten wir also zunächst zwei Aspekte fest, erstens den der Technik als uns beinhaltendes Relationenfeld und zweitens den des Wir.
Und – in einem gewissen Sinn – haben wir immer noch die Hände frei. Das heißt, dass wir immer noch im Ur-sprung sind. Daher haben wir eine ganze Welt auszubauen, aber vor dem Hintergund des hier Ausgeführten nicht mehr, so Nancy, „in der Weise, wie wir das bis hierher getan haben.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Nick H.

[1] Flusser, Vilém; Interview mit Florian Rötzer, München 1991
[2] Nancy, Jean-Luc; Destruktion als Erinnernung oder Struktion der Techné, Vortrag am Bochumer Kolloquium Medienwissenschaften, 08.12.2008, time code 01:15:00
[3] Gehlen, Arnold; Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Berlin 1940.
[4] Alsberg, Paul; Der Ausbruch aus dem Gefängnis – zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, Bearbeitete Neuauflage von ‚Das Menschheitsrätsel‘ von Paul Alsberg; Hrsg.: Dieter Claessens, Gießen, 1979
[5] Flusser, Vilém; Vom Subjekt zum Projekt – Menschwerdung, Frankfurt 1998, S. 24ff
[6] Nancy, Jean-Luc; a.a.O. timecode 01:04:00ff
[7] Nancy, Jean-Luc; a.a.O. timecode 00:50:00ff

6 Gedanken zu „McLuhan weiter denken – Sprache, Technik, Menschwerdung

  • 28. März 2012 um 01:11 Uhr
    Permalink

    Lieber JP,

    Die Philosophie und umliegende Ortschaften scheinen mir doch schon etwas weiter:

    Mag sein, dass ich Deine eigenen Gedanken nicht scheiden kann von denen, die die Nacherzählung derer Deiner Referenzleute beinhalten, aber das läge dann mindestens genauso an Deiner eigenen Darstellung des Ganzen.

    In jedem Fall referierst Du Flussers Kritik an einer reinen Subjekt-Objekt-Beziehung und dessen Gedankenl einer Ableitung des Wir, und scheinst das in jede Verästelung der ersten Natur hinein für möglich zu halten.

    Wenn Du darin also eine „Enthronung des Menschen in seinem Herrschaftsanspruch“ sehen wolltest, dann würde ich Dir im Sinne von Marxens Gedanken vom Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen folgen könnnen. Du aber sprichtst von der“ Enthronung des Humanismus“, der im linken Sinne durchaus und gerade das Ich als nur im Wir konstituierbar bestimmt.

    Wenn dieser Zustand im herrschenden System auch nur ein Traum ist, so ist er dies im Sinne des Bloch`schen Tagtraumes. Ich verweise auf die ersten drei Sätze seiner „Tübinger Einleitung in die Philosophie“:

    „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“

    LG
    ut

  • 27. März 2012 um 01:48 Uhr
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    Ach mein lieber UT!

    Schon interessant, was Du so glaubst, was ich mir alles nicht selbst ausgedacht haben soll. Als wenn die Beziehung der Thesen der genannten Autoren, z.B. Flusser, Alsberg und Nancy sich so von selbst ergibt und längst Bestandteil unserer philosophischen Kultur sei.
    Und, das ist schon so eine Sache mit dem Humanismus als übergeordnetes Prinzip einer Bestimmung des Menschen, oder?

    Der Humanismus basiert auf der klassischen Ontologie, die gar kein Wir, sondern nur Subjekt und Objekt kennt. Und schon gar nicht das Wir mit nichtmenschlichen, gar tierischen Individuen. Ein einsames Bestimmungsprinzip also, monolithisch, starr und letztlich eurozentristisch, Ausdruck eines überkommenen abendländischen Hegemoniewillens.
    Und dennoch menschengemacht, als Versuch der Formulierung eines übergeordneten Prinzips zur Selbstbestimmung dessen, was der Mensch sei. Was für eine Hybris. Aber es gibt immer noch genügend Leute, die bei dem Wort Humanismus einem Wortfetischismus anheim fallen.

    LG, Nick H. aka JP

  • 26. März 2012 um 23:33 Uhr
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    Lieber JP,

    den so ziemlichen einzigen Satz, den Du Dir in Deinem Blobeitrag selbst ausgedacht hast – sonst ist alles nur Referat – nämlich

    „Dies besagt, dass wir konsequenterweise das Wir auch über den rein menschlichen Bereich hinaus ausgedehnt denken können, dass “Leben an sich” in einem weiteren Sinn in ein “Wir in der Welt” mit einbezogen werden muss. Ein solcher Schritt beinhaltet jedoch eine weitere Entthronung des Menschen – letztlich den Tod des Humanismus.“

    macht aus Flussers Definition des „Wir“, der „Wir-Werdung“ ohne jede eigene Begründung einen ziemlichen Unsinn, der in der bombastischen Behauptung vom „Tod des Humanismus“ endet.

    Warum sollte bei dem eben dem Mensnschen möglichen Schritt vom Ich zum Du, dass ein Wir werde, das Humanum abhanden kommen, wenn der Mensch dabei im Einklang mit der ersten Natur, damit auch mit sich selbst handelte?

    Dass der Mensch die Freiheit hat, dabei auch eine falsche Entscheidung zu treffen, macht ihn nicht zum Nicht-Menschen.

    Gegenteilige Rede fällt mindestens hinter die Aufklärung zurück

    mfg
    ut

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  • 24. Juli 2011 um 11:24 Uhr
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    Der Bezug zu McLuhans Geburtstag erschließt sich nicht sofort. Vielleicht wären 2 oder 3 Sätze zu seinen Aussagen über Kommunikation nützlich gewesen – das könnten ja auch weiterführende Gedanken sein.

  • 21. Juli 2011 um 13:04 Uhr
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    Eine gelungene Vorstellung, dass die Hände zweckfrei sein könnten – die Vorstellung suggeriert ungemein, dass die Hände einen Zweck haben: ich denke mir Mal einen Zweck. Die abgehackten Hände bezwecken Angst vor dem Stehlen.

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