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Das Hungertuch

Erstmals verliehen
am 16. Dezember 2001 in Düsseldorf!

Hungertuch-Startseite

Die Laudatio auf die Preisträger von Dr. Enrik Lauer

 

Peter Meilchen
aus Arnsberg
erhält in Anerkennung seines Lebenswerks
das Hungertuch für Bildende Kunst 2001

 

Wer als Betrachter auf eine einfache Antwort hofft, wird vor Peter Meilchens Arbeiten kapitulieren müssen. In der Perpetuierung des Veränderlichen ist die Zeitlichkeit beschlossen – und mit ihr natürlich die Vergänglichkeit, das Abschnurren der Zeit, wie es in Meilchens Werk vorgeführt wird.

"Was kann ein fotografisches Abbild leisten? Wie viel Innenleben kann es nach außen kehren?" Solchen Fragen hat sich Meilchen Zeit seines Lebens gestellt. Das Photo hört auf, die Wahrhaftigkeit des Dargestellten zu behaupten. Es ist kein Beweis mehr. Es geht um das Bild, nicht um die Wirklichkeit. So sind bei seinen Arbeiten eigenartige Verschiebungen entstanden, die doch aber auch eine gewisse Faszination auslösen. Diesen Effekt hat Roland Barthes mit dem "punctum" für das Betrachten von Photographien beschrieben: Der Reiz liegt oft in den unbeabsichtigten Nebensachen, einem Blick, einem Detail, das nicht ins Bild paßt und gerade deshalb besticht.

"Was die Natur der Photographie begründet", schreibt Barthes, "ist die Pose. Dabei ist die reale Dauer dieser Pose nicht von Belang; selbst während einer Millionstel Sekunde hat es immer noch eine Pose gegeben." – Im Wissen um die Pose versucht Meilchen erst gar nicht, Inszeniertes zu kaschieren.

Dieser Artist läßt sich Zeit, um von der Zeit eingeholt zu werden, indem er sich dem reinen Schauen hingibt. Sein Geheimnis bleibt es, wie er aus der gelassenen Betrachtung Funken hervorzaubert, wie aus Beiläufigkeit Farben entstehen. Es ist schwer zu sagen, was die Bilder von Meilchen zu Resonanzräumen macht; ihr Echo hallt lange nach.

Meilchens Kunst ist die literarische Negativ– und Doppelbelichtung. Gestochen scharf wirken seine imaginären Erinnerungsbilder aus Linz am Rhein, doch pulst in ihnen auch der Schrecken. Seine skeptisch–ironische Weltsicht einerseits, sein poetisches Engagement anderseits bringen viele Werke hervor, die verschiedene Positionen beziehen. Sowohl als bildender Künstler, wie auch als Autor ist Meilchen ein Beobachtungsvirtuose, der viele Preziosen zu bieten hat, Wahrnehmungen, die vielleicht nicht unbedingt lebenswichtig sind, aber gerade in ihrer Fokussierung des Nebensächlichen dem Leser Aha–Erlebnisse und Wiedererkennungseffekte verschaffen. Er nimmt sich und seinen Figuren kein Blatt vor den Mund, die Brutalitäten in Wort und Bild können uneingeschränkt defilieren. Auch das gehört spätestens seit Rabelais zur Lust am Grotesken, dieses destruktiv–schöpferische Sich–gehen–Lassen, die verbale Ausschweifung. Reich an Adjektiven, an Partizipien und an sich windenden, immer in neue Ecken spähenden Sätzen sind diese ausgefeilten Stücke.

Vor allem Farbeindrücke nehmen darin breiten Raum ein. Zwischen Schwarz und Grün bewegt sich eine "Beobachtung eines Unsichtbaren".

Die Rückkehr ins Rheinland steht bei "Schimpfen" im Zeichen von Gelbtönen, die so schnell vom Satt–Schönen ins Erdige umschlagen. Und natürlich geht es bei "Texte", die so intensiv und bilderreich das Ineinandergreifen von gegenwärtigen und vergangenen Sinneswahrnehmungen ausleuchtet, auch um die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren.

Wenn Meilchen spazieren geht, begegnet ihm ein Übermaß an Welt. Das mußte er erst bewältigen – mit Sprache, mit Sätzen und Satzfragmenten, in denen die Welt weiter mäandert, vibriert und manchmal auch herausbrüllt. Er porträtiert in seinem Werk eine untergehende Welt – und überwand sie. Opulenz, Würde und Gesellschaftsanalyse verbindet er wie kein anderer.

Wenn wir Romantik als Autonomie des Imaginären verstehen, dann handelt es sich hier durchaus um romantische "Texte", die sich aus der Spannung zwischen Realität und Imagination, Besitzen und Begehren ergeben. Es sind Texte ohne Gedächtnis, allein von Erinnerungen an Bilder, Gerüche, Gefühle getragen und auf der Suche nach einer zu erzählenden Geschichte. Das ist keine instrumentale Sprache, die ihren Gedanken schon umschlossen hält und dadurch auch für nichts Neues und Überraschendes mehr zur Verfügung stehen kann, sondern eine Sprache des Suchens und Unterwegsseins, der Ahnungen und einer immensen Lust am Entdecken. Wer von seinem Leben erzählt, erzählt immer eine Erfolgsgeschichte. Wer erzählt, lebt. Schon das ist ein Triumph. Wer erzählt, ist der geworden, der erzählen kann. Wer erzählt, ist nicht allein. Er gehört in eine Welt, die seine Welt geworden ist. Ganz auf die Ablagerungen der eigenen Biographie setzend und ohne Attitüde benennt Meilchen so die Quelle seiner reichen und doch nie vagen "Texte".

Exemplarisch läßt sich Meilchens Arbeit an einem Multimediaprojekt verdeutlichen. "Schland" ist der Versuch, den Blick gleichsam zu konservieren und mit der Kraft der Vergewisserung die Seele des Augenblicks festzuhalten. Diese multimediale Arbeit beschreibt einen akustischen Raum in einem räumlichen Behältnis, dem "neuen" DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Schland folgt dem poetischen Kernsatz: "Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige Wahrheiten verunstaltet wurde." Schland ist nicht nur ein Acker in Herdringen, auf dem Milchproduzenten umherlaufen, Schland ist überall. Es geht (ganz im Sinne Poes: "Man sieht es und sieht doch hindurch") um den Blick, das Sehen, die Kurzsichtigkeit. In seinem Spiel mit den unterschiedlichen Oberflächen und Texturen, in der Kontrastierung der scheinbar unvermittelten Landschaft bei Herdringen, den mehrfach gebrochenen Ausblicken auf das Sauerland sind diese Fotos – nicht nur im ironischen Kommentar des zusammengekniffenen Photografenauges, immer auch Reflexionen über das Medium Photographie.

Meilchen präsentiert mit Schland ein Tier, dessen Faszinationspotenzial gering scheint, dem aber ein entscheidender Anteil an der Sesshaftwerdung des Menschen zugesprochen werden kann. Daß Kühe, die gütigen Ammen der Menschheit sind, wissen wir seit dem alten Testament, die Gründe dafür, daß der Kuh eher das Image von Behäbigkeit anhaftet, vollzieht Meilchen in seinem Projekt nach, indem er zeigt, wie ursprünglich biologische Konstitutionsmerkmale oder historische Notwendigkeiten mit symbolischem Gehalt gefüllt werden. Er präsentiert die körperliche Ruhe der Kuh, die sie zum Sinnbild des Stoischen hat werden lassen, mit ihrer Eigenschaft als Beutetier. Für das ist es in freier Wildbahn überlebensnotwendig, weder Panik noch Schmerz zu zeigen, um nicht die Aufmerksamkeit des Raubtiers auf sich zu lenken. Ähnlich: ihre Augen. Sie sind dafür geschaffen, ein maximales Sichtfeld zu haben, um Angreifer früh erkennen zu können. Uns sind sie indes vor allem Ausdruck der psychischen wie physischen Lethargie der Kuh. Wie tief gerade das Bild der Kuh als Indikator von Normalität im kulturellen Gedächtnis verankert ist, wird besonders an jenen Untergangsvisionen augenscheinlich, in denen die Kuh zum Vorboten des Unheils wird, das bald auch den Menschen erreichen wird. Was mit den Kühen in der biblischen Apokalypse–Darstellung beginnt, setzt sich fort in Weltuntergangsfilmen wie "Twister", in denen die durch die Luft fliegende oder schwebende Kuh zum untrüglichen Zeichen dafür wird, daß die Welt aus den Fugen geraten ist. Meilchens Trick besteht darin, daß es nicht um die Wahrheit über die Kuh geht, sondern darum, gerade durch die verschiedenen Projektionen etwas über die Menschen und ihre Zeit selbst zu erfahren.

Im Gegensatz zum oft beliebigen High–Tech–Bilderschaschlik wurde das Ausgangsmaterial von Schland mit einem scheinbar antiquierten Bildträger gedreht: Super 8 S/W–Material. Mit seiner Hinwendung zum Zelloloid formuliert Meilchen das Bedürfnis der Rückkehr zu einem Nullpunkt alles Bildnerischen. Die Urbilder verkörpern die geistige Welt des Neuanfangs, gleichzeitig die Auflösung alles Figürlichen. Die Nachbearbeitung mit Tipp–Ex, Tinte, Farbstiften und das partielle Zerkratzen der Filmoberfläche kommentiert und verfremdet den Film zugleich. Daß sich Meilchen als ein Maler mit einer Photokamera versteht, sieht man den Wischeffekten und den unmöglichen Perspektiven seiner Bilder an. Sein Material wirkt dadurch frisch und vital in der Verbindung der Photographie mit der Malerei. Das doppelte Potenzial der Photographie, Dokumente zu erzeugen und Bildkunst zu schaffen, zu einer Grauzone der Überschneidungen zwischen den Genres. Dies irritiert all diejenigen, die Kunst und Photographie trennen möchten, und rührt an das Tabu, daß Bilder authentisch sein müssen, aber nicht schön sein dürfen.

Meilchen hinterfragt das Klischee, Photographie sei eine objektive Darstellung, gleichsam ein Ersatz für die Realität. Im 19. und auch noch in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts haben die Mehrzahl der Menschen, das, was auf Photographien abgebildet war, tatsächlich geglaubt. Bloß spielt das längst keine Rolle mehr. Kein Mensch denkt doch heutzutage noch, daß es sich bei Photographie um ein objektives Medium handelt.

Am Anfang seiner Photographie steht der Apparat, der die Topographie der Amnesie verortet. Der Rest ist bewußter Widerstand gegen die Geschwindigkeit des Vergessens, welche den Inhalt des Gedächtnisses bestimmt. Photographie läßt den Augenblick des Sehens wie Lots Weib erstarren und verewigt die tägliche Katastrophe als Idylle. Auf dem Papier ist jedes Photo der forensische Beweis eines Verbrechens, das den Dingen des Lebens ihre Autonomie raubt. Es gibt Photos, die den Blick schärfen, Dinge sichtbar machen, die das eigene Auge so bislang nicht gesehen hat. Seit geraumer Zeit hat sich auf diese Weise Photographie einen Platz inmitten der 'alten' Künste erobert. Gleichzeitig sind Photos so allgegenwärtig geworden wie Zuckertütchen zum Espresso. Sie liegen überall herum, sie süßen unseren Blick in jeder Sekunde. Dergestalt entstehen: Modephotos. Kriegsphotos. Mitleidsphotos. Tiere. Terror. Stars. Sex. Seit die Photos elektronisch geworden sind, kreisen riesige Bilderhaufen um die Erde, ständig aufblitzend und abregnend.

In seiner kombinatorischen Bildregie zapft Meilchen verschiedenste Quellen an; die Fremdheit ist in der Kunst ein kostbares Gut, das es erlaubt, die Wahrnehmung des Alltäglichen zu brechen und ihr die nötige Distanz zur Gewohnheit einzuhauchen. Seine Bilder haben eine spezifische Signatur und einen speziellen Ort. Es ist die aufgelöste Atmosphäre der untergegangenen BRD, und doch formulieren die Bilder den Einspruch, daß wir auch angesichts ihrer Melancholie gar nicht anders können, als uns den Rätseln des bösen Märchens, das man Leben nennt, immer wieder zu stellen. Es ist diese doppelte Botschaft, die Meilchens Photographien die ungeheure Spannung verleiht – zart und grimmig zugleich.

Dem Augen–Blick in seinem wörtlichen, wie auch übertragenen Sinn kommt im Schaffen Meilchens eine entscheidende Bedeutung zu. Sowohl das mit dem Sinnesorgan Auge aufgenommene Bild, als auch die kurze Dauer seiner Wahrnehmung spielen eine wichtige Rolle. Auf diese Weise erhält sein Werk gerade durch seine Weltzugewandtheit jene Beimischung von Melancholie, die für eine wahrheitsgemässe Beschreibung der Wirklichkeit unerläßlich ist. Weil die photografischen Bilder nicht bewegt sind wie unsere unmittelbare Wahrnehmung der Welt, können Repräsentation und Mimesis nicht die angemessenen Dimensionen ihrer Beurteilung sein. Eher lebt Photographie von dem Begehren, die Welt zu besitzen, und steht deswegen auch in einem komplizierteren Verhältnis zu den Werten öffentlicher Aufklärung und ethischer Sensibilisierung, als man es gemeinhin annimmt.

Meilchen ist ein Leser, Privatgelehrter, Autor, immer hart am paradoxen Kern von Werkimmanenz und Anthropologie. Aber was er zu zeigen hat, ist nicht erdacht. Er weiß, daß Verständnis und Bedeutung eines Kunstwerks sich in der Art und Weise der Platzierung im Raum zeigen müssen. Während viele Artisten in teleologischen Phrasen gefangen sind und glauben, Künstler würden "Grenzen überschreiten", hat er erkannt, daß und wie sich künstlerische Werke aufeinander beziehen: geistig. Seine Photographie fixiert den Augenblick, als würde sie ihn einfrieren. Alles ist hier auf den Moment konzentriert und berechnet, man bleibt immer außerhalb, diesseits des Spiegels. Was in der Dunkelkammer verborgen ist, wird an das Tageslicht geholt. Wer in einem Labor war und die Geburt eines Lichtbilds zwischen Essenzen, Dämpfen und den Schemen der Laborwelt herbeigeführt hat, der weiß, was für ihn verloren ist, wenn er es nicht bewußt kultiviert: die Dunkelheit, die Langsamkeit, das Prozeßhafte, die Chemikalien, der Gestank und das lange Warten auf das Bild. Meilchen sucht den ungewohnten Ausschnitt, findet das Detail, die Momente einer heilsamen Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch. Er nutzt den Photoapparat nicht um zu knipsen, sondern ein Bild zu machen.

Als Künstler führt Meilchen dem Betrachter mit seinen Bildern immer wieder Wunder und Macht seines Mediums vor. Das Wunder, daß Photographie Weltfragmente so inszenieren kann, daß sie sich als Puzzleteile in ein mögliches Ganzes fügen, und so einen Eindruck einer sichtbaren Realität geben, die wir selbst nie kennen gelernt haben. Und die Macht der Photographie, die uns zeigt, wie es gewesen ist – obwohl es nie so war. Nichts als die Photographie selbst spricht: über die Atmosphäre der Zeit, über den Werkprozess, über den Künstler, welcher das Vergehen der Zeit selbst als sein Material entdeckt hat. Meilchen arbeitetet meist nicht für einen Auftraggeber, sondern als passionierter Begleiter, die sich am Ort des Geschehens einfindet. Träumen ist das wahre Wachsein. Und das Fantastische ist das Wirkliche. Im Medium der Photographie produziert dies Paradoxon nicht nur Bilder sui generis, sondern hat auch die Möglichkeit der Verbreitung in Magazinen und Zeitschriften. Durch das lange Warten auf seine Sichtbarkeit verdichteten sich im analogen Bild wesentlich mehr Momente, und außerdem erhöhte die zeitliche Distanz auch seine Autorität: Denn wenn wir das Bild endlich in Händen hielten, kam uns seine Aussage über einen Moment oft wesentlich präziser vor als unsere Erinnerung daran. Der seit den Anfängen der Moderne beklagte Verlust des richtigen, weil einzig denkbaren Blicks hat sich mit der digitalen Photographie also nochmals verdeutlicht.

Das digitale Bild drückt immer etwas anderes aus: Selbst wenn es offensichtlich ganz unverstellt ein Stück Realität abbildet – immer folgt ihm der Gedanke, daß es auch anders gewesen sein könnte, daß man es vielleicht anders darstellen müßte. Meilchens Bilder halten fest, was nicht festzuhalten ist: die Erscheinung einer Landschaft, eines Gegenstands, eines Menschen. In seinen Bildern zeigt sich der gestalterische Wille das Chaotische der Welt erfolgreich zu bannen. Der Geist, der sie bestimmt, stammt aus Zeiten der analogen Erzeugung bildnerischer Wunder.

Indem seine Photographie den Zeitfluss unterbricht, vollzieht sie eine Inventarisierung der Sterblichkeit. Seine Bilder springen ins Auge. Auch wenn die Mittel bekannt und so beschaffen sind, daß digitale Laboranten wohl die Nase rümpfen müssen: Die Ergebnisse treten als ganz individuelle Entscheide, als einzigartige Schöpfungen auf. Es sind bildnerische Lösungen, Formulierungen mit dem Alphabet der analogen Photographie. Am zutreffendsten ist für sie das Eigenschaftswort packend. Seine Schland–Stücke ergreifen uns. Ein Fingerdruck genügt, um dem Augenblick eine postume Ironie zu verleihen.

Das Motiv des "Tieferhängens" versteht Meilchen ganz wörtlich: Das Kunstwerk soll von der Höhe, in der es sich in der deutschen idealistischen und romantischen Tradition der Kunstbetrachtung befunden hat, abgenommen und auf der Höhe des Betrachters wieder angebracht werden. Die in der Rezeption durch die hochhängenden Bilder eingeübte und durch viele Kunstkommentare weitergegebene Machtgeste, daß der Kunst per se höhere Autorität zukomme, erkennen sie nicht an. Im Zug der Autonomwerdung von Kunst setzte nicht einfach eine Befreiung von Regeln, sondern eine Verschiebung ein: Die Regelpoetiken konnten sich zwar nicht mehr halten, stattdessen aber wurde die Rezeption von Kunst geregelt. Der Künstler wurde in seinem Schaffen frei, der Betrachter dagegen hatte sich unter dessen Genius zu stellen.

Es egal, ob die Formulierung einer Landschaft im klassischen Tafelbild oder im Computer geschieht. Das Problem der Bildfindung, ist beide Male das gleiche. Bezieht man Überlegungen zur traditionellen Theorie der inventio mit in die Betrachtungen ein, so muß angesichts der besprochenen Arbeit ein anderes überraschen. Meilchens photografisches Auge tastet sich tief in die Landschaft vor, die Bilder sprechen von jener Distanznahme als Form der Annäherung, die weniger der Wirklichkeit verpflichtet ist als einer überzeitlichen Neuordnung der perspektivisch zusammengezurrten Gegend. Seine Arbeit kommt der Bildwahrheit am nächsten, insofern er gar nicht erst vorgibt, Realität zu repräsentieren. Beim seinen Bildern weiß man immer, daß sie gemacht sind. In einem Strom medialer Informationen sind diese Bilder eine Art Haltestelle. Im Rahmen einer Fehlinterpretation der Poetik von Horaz hatte man durch die gesamte Neuzeit unter der potestas audendi, der Kraft zum Wagnis, die Möglichkeit mit eingeschlossen, Ungekanntes und Ungesehenes im Bild darzustellen. Ebenfalls aus der Antike war bekannt, daß die Naturnachahmung jenes hervorbringe, was aus der Anschauung bekannt sei, die Phantasie aber jenes, was bis dahin noch nie gesehen worden sei. Kunstschaffen wird dann zu wahrer Kunst, wenn es sich in dem Maß von der Natur löst, wie es eine Entstellung zur Realität erforderlich macht. Kunst ist mithin nicht Nachahmung der Natur, sondern deren getreue Abbildung durch Überzeichnung. Es fragt sich angesichts solcher Differenzierungen, ob die mimetische Kraft eines neuen Mediums wie des Computers sich darin erschöpft, eine zwar fingierte und dadurch besonders idyllische Landschaft hervorzubringen, die aber in jedem ihrer Bestandteile schon visuell geläufig ist. Ist das Wiedererkennen, das seit Aristoteles als Grundlage für das ästhetische Vergnügen bei der Bildbetrachtung gilt, auch hier das höchste Ziel?

In den Anfängen der Photographie erschienen auf den Bildern mitunter seltsame Geister. Wie Abgesandte aus dem Reich einer doppelt belichteten Wirklichkeit verstärkten sie das Grausen, das dieser Technik in ihrem Beginn noch eigen war. Viel ist seitdem geschehen, um die Gespenster zu bannen und der sichtbaren Realität die Bildhoheit einzuräumen. Doch die Ungewissheit, daß man nicht genau vorausplanen konnte, was auf einer Photographie schließlich zu sehen sein würde, ist erst mit den digitalen Kameras ganz verschwunden. Mit ihr entschwand die Angewiesenheit der Abbildung auf die Wirklichkeit überhaupt. Was bedeutet es, wenn die Spanne, in der das Negativ der Realität in der Dunkelkammer sich zu einem Bild entwickelte, völlig verloren geht?

Weil das Gesehene entzifferbar ist, kann es weitergeschrieben werden. Jedes Bild ein Trompe–l'Œil, ein Palimpsest. Die Bilder, die wir uns von Bildern zu machen gewohnt sind, sind selten eindeutig. Wir haben gelernt, Kunstwerke als eine Art Geheimnis zu betrachten, deren wahrer Sinn sich hinter der Oberfläche der Zeichen verbirgt. Nicht nur die Welt, sondern auch die Bilder heischen nach Erklärung, so scheint es. Was aber, wenn das Geheimnis zum Rätsel schrumpft und die Oberfläche sich im Vexierspiel der Täuschung ergeht?

Meilchens Idee der Photographie beruht auf dem gestalterischen Grundsatz, wonach das Know–how – die Beherrschung der Mittel – wertlos ist ohne Know–why, ohne das Interesse an seinem Motiv. Auf dem Weg über unsere Netzhaut verändert sich ein Bild, und was es in uns auslöst, wenn es auf unser inneres Auge trifft, kann weit davon entfernt sein, was es in Wirklichkeit zur Anschauung bringt. Denn ähnlich wie Proust mit Büchern ergeht es uns mit Bildern. Sie rühren uns an, weil wir uns in ihnen wieder erkennen. Was wir dann sehen, ist eine Fortsetzung des Bildes mit narrativen Mitteln. Wie viel Ratio erträgt der Mensch, das ist die alte und neue Frage. Zwischen der Aufforderung einer Nötigung der Natur und der Warnung vor Hirngespinsten oszilliert selbst Kant. Der Grat ist schmal, das Thema hochsensibel, zutiefst nicht nur in der Erkenntnis, sondern auch in der Erfahrung angesiedelt. Das ist eine nicht unbedingt sichere Basis, jedoch die unausweichliche Bedingung des künstlerischen Tuns. Im Netz findet sich ein anderes Leuchten in den Bildern, eine visuelle Kultur der Schnappschüsse. Die Organisation eines Wahrnehmungsfeldes mündet in eine Strategie der Wahrnehmung. Das Zerstreute zwingt zu konzentrierter Aufmerksamkeit: Es gibt keine Bilder ohne definiertes Ziel. Die Qualität der Authentifikation eines Ereignisses, eine klare Unterscheidung von Realität und Fiktion wird durch mediales Pathos verunmöglicht. Die Oberfläche der Welt verändert sich stark, es sind neue Blickwinkel nötig, um sie zu sehen.

Das Verhältnis kehrt sich um: Die Realität wird zum Abbild der Bilder. Wenn diese Photographie lebensecht erscheint, dann sollte man sich überlegen, was es bedeutet, hier und jetzt zu leben.

Photographie ist die Malerei des 21. Jahrhunderts geworden. Meilchens Bilder verdichten und bündeln, offenbaren und dechiffrieren. Er zeigt uns, daß er es nicht nur mit den Formaten des Abstrakten Expressionismus, sondern auch mit der Figurenchoreografie eines Rembrandt oder Tintoretto aufnehmen kann. Er gibt den Experten neue Aufgaben. Meilchen betreibt Photographie als Nachdenken über die Grundfragen des Mediums selbst: Es geht um das Verhältnis der Photographie zur Zeit und zur Realität. Während um ihn herum die Bilder dem digitalen Code verfallen, bleibt er der Entwicklerlösung treu: ein nostalgiefreier Bewahrer der Moderne. Meilchen ist verschärft daran interessiert, alle Medien in den Dienst der Idee zu stellen. Unter den Schichten gibt es lauter kleine Geschichten zu entdecken. Ich mag diese Idee, daß da etwas unter der Oberfläche ist.

Erst wenn wir diese begrifflich bisher kaum erschlossene Logik der Bilder verstehen, verstehen wir, daß es auch ein Denken des Auges gibt und die Bilder mit ihrem dichten Schweigen längst über unseren visuellen Zugang zur Welt entschieden haben.

Kunstmachen selbst produziert Entscheidungsprozesse, und die kann man versuchen zu verstehen und zu eigenen Kriterien des Betrachtens in Beziehung setzen. Künstler sind deshalb so empfindsame Menschen, weil sie nicht irgendein Produkt in die Welt setzt, sondern sich ganz und gar selbst in ihr Werk begeben. Es ist immer ein schmaler Grat zwischen Kritik an einem Werk und Kritik an einem Menschen. Es klafft eine riesige Lücke zwischen dem spezialisierten Avantgardediskurs und einem an komplizierteren Dingen null interessierten Populärdiskurs, der fast ausschließlich über Gesichter, Auktionszahlen und das Lifestyledrumherum läuft. Deshalb der Versuch, ein paar Schneisen ins Kunstfeld zu schlagen, eine Art Navigationsinstrument, nicht mehr und nicht weniger.

Meilchen geht mit seiner Kamera so dicht an die Dinge dieser Welt heran, daß diese ihren Anspruch aufgeben, Dinge dieser Welt zu sein – und zum Bild werden können. Sein 'Sehen' ist kein Begaffen, sondern existenziell vollzogen. Dringt man bei jeder Wiederholung tiefer in diese Bilder ein? Oder sind es seine Bilder, die tiefer in uns dringen?

In Werkstattgalerien wie "Der Bogen" in Arnsberg, wird noch hart am Material experimentiert, hier zirkuliert das Wissen frei, weil der wechselseitige Respekt der Artisten über Chancen und Risiken entscheidet. Man weiß, wem man vertrauen kann und wem nicht, man setzt auf Kreise, die weitere Kreise ziehen, hilft sich gegenseitig und organisiert sich in Projekten. Alle Künstler, die ich kennen gelernt habe, arbeiten für den Verkauf und die Galerien, für das Museum, aber Meilchen steht für eine andere Idee von Kunst.

Mit der Erkenntnis, daß in jeder scheinbar noch so objektiven Darstellung immer auch subjektive Wahrnehmung steckt, läßt sich niemand mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Daß die Frage nach der Wiedergabe von Realität noch immer ein interessanter Ausgangspunkt für photografische Unternehmungen sein kann, zeigt Meilchen. Bei aller Medienreflexivität und dem Bewußtsein für historisches Gepäck scheint er sich seinen persönlichen Vorlieben gern hinzugeben. Genau das macht den Reiz dieser Arbeiten aus. Er eignet sich die bildnerischen Verfahren seiner Vorgänger an, um Irritationen einzufügen, die wie ein mitunter sehr humorvoller Metatext funktionieren. Diese Umwandlung führte bei der analogen Photographie von der photographierten Realität ins digitalisierte Bild und befragt damit die Relevanz des Mediums. Das ist das Unvergleichliche an Meilchens Kunst: Sie erträgt nicht nur die Vieldeutigkeit, ja sogar den Widersinn. Sie setzt die andere Möglichkeit der Deutung geradezu voraus. Man braucht sich nicht auf die eine und allein gültige Botschaft festzulegen. Seine Bilder sprechen zum Betrachter in vielen Sprachen. Erst wenn wir fähig werden, die zahlreichen und ganz anders lautenden Botschaften zu entschlüsseln, die das Kunstwerk bei umsichtigem Befragen aussendet, begreifen wir das Wesentliche. Vieles im Leben ist eindeutig und unmissverständlich. Damit haben wir uns letztlich abzufinden.

Kunstraum Düsseldorf, Dezember 2001 (Überarbeitet von M.H.)