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Das Hungertuch

2011

Hungertuch-Startseite

Die Laudatio auf die Preisträger von Dr. Enrik Lauer

 

Joachim Paul
aus Neuss
erhält in Anerkennung seines künstlerischen Werks
das Hungertuch 2011

 

Wer dem Wort zugetan ist – und damit der Sprache, dem Geist und der Vernunft der darf mit Fug und Recht Buchstabenmensch genannt werden. Von einem Homme de lettres erwartet man ebenso wie vom Scharfrichter, daß er sich ständig entschuldigt. Dieser muß Abbitte leisten, weil er zu tödlich ist, jener, weil er nicht tödlich genug ist. Joachim Paul setzt sich bewußt mit seinen Essays zwischen die Stühle, weil er gegen den intellektuellen Mainstream bürstet. Er weist damit den Verdacht zurück, seine Essays seien zu klein und zu nebensächlich, eine seltsame, längst veraltete Form des Journalismus.

Falls ich richtig gezählt habe, sind bei der Gattung „Essay“ drei Haupttypen auszumachen, alle gleichermaßen in jener Tradition, die Michel de Montaigne einstmals begründete. Zum einen eine Mischung aus Rezension und Reportage, dann den Essay über entlegene Dinge, und zu guter Letzt nennt den Erinnerungsessay. Dem Essay schreibt man als literarisch–philosophischer Form folgende Kennzeichen zu: Unverwechselbarkeit, Persönlichkeit, eine bewegliche Freiheit des Geistes, die Liebe zur offenen Form, der überraschende Blickwinkel, die Neigung zum Vorläufigen, aber auch Pointierten, eine gewisse unternehmungslustige Heiterkeit umreißen positiv das essayistische Temperament, wie es sich skeptisch, auch kritisch zum Systematischen, Scholastischen, Dogmatischen verhält. Philosophie als strenge Wissenschaft ist dem Essayisten ein Gelächter, die Attitüde des Wahrheitsbesitzes, überhaupt alles Fixierte, Gebundene ist verpönt; Zweifel ist ihm die primäre Tugend intellektueller Redlichkeit, Langeweile die Sünde wider den Geist.

Pauls Essays sind kein langer Roman, auch keine wissenschaftliche Abhandlung, im Idealfall aber verbindet er die Qualitäten der Gattungen. In seinen Essays geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.
Was Pauls Essays die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er das Material unterwirft. Wir haben nicht viel Übung mit dieser Art des Schreibens, die Buchhändler wissen nicht, in welches Regal sie das Buch stellen sollen; und die Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer geistigen Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem essayistischen Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber offenbar doch etwas Exemplarisches meint. Es gilt die metaphorischen Stecknadeln im Weltnetz zu finden.

Versuchsplattform für Pauls Schreiben ist der www.vordenker.de. Gegründet wurde dieses Forum von ihm in der Mediensteinzeit 1996. Zuverlässig versammeln sich dort Dichter und Denker. Paul erforscht Gebiete, die über den Rand der Buchstaben und Texte hinausreichen. Sie dehnen sich in gewisser Weise indes sogar über die Grenzen von Geist und Vernunft hinaus aus. In der Tradition Montaignes versteht er den Essay als Versuch, gibt diesem aber den naturwissenschaftlichen Sinn des Experiments, der experimentellen Versuchsanordnung und zugleich die existenzielle Bedeutung des Lebensexperiments und vertieft beides so ins Abgründige, daß aus dem Versuch sowohl die Versuchung wie der Versucher und das Versucherische sprechen. Welche labyrinthischen Gedankengänge bei diesem Auswahl– und Transformationsprozess durchlaufen werden, wie schnell ein brauchbarer Gedanke zu Abfall und Nebensächliches fruchttragend werden kann, beschreibt Paul in seinen Essays.

Matthias Hagedorn, Werkstattgalerie Der Bogen, Februar 2012