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Das Hungertuch

2007

Hungertuch-Startseite

Die Laudatio auf die Preisträger von Dr. Enrik Lauer

 

A.J. Weigoni
aus Budapest
erhält in Anerkennung seines lyrischen Werks
das Hungertuch für Literatur 2007

 

A.J. Weigoni erlag der Faszination des Mediums Radio in seinen Kindertagen, als der Rundfunk zu einem Zauberinstrument des Wortes wurde, zur akustischen Probebühne der Poesie, zum Atem der Vernunft. Er saß vor einem Rundfunkempfänger mit „Tigerauge“ wie vor einer Kultstätte und vergaß, als er vor dem Lautsprecher saß, die Apparaturen und Stationen. Das Medium Radio erlebte er als zauberhaft und seine Unmittelbarkeit als bestechend. Wenn er den Empfang optimieren wollte, mußte er nur geradewegs ins magische Auge des Empfangsgeräts schauen, das aufging oder sich schloß, wie eine sogenannte Abstimmanzeigeröhre, welche die Stärke des Signals veranschaulichte. Der Himmel war nicht nur der Himmel der Erde, sondern auch das Firmament der Kunst.
Schriftsteller versuchen oft, aus den ersten Lebensjahren eine Hölle zu machen und eine Kindheit zu konstruieren, die zu ihrem Selbstbild paßt. Auch Rilkes Kindheit war längst nicht so schlimm, wie der Mythos behauptet, den er später schuf. Und doch ist es die Kindheit, die Weigonis lebenslanges Aufbegehren gegen die Autoritäten eingepflanzt hat, die Zeit, aus der sich sein Schreiben speist, wie aus einer lebenslangen Trotzphase. Die Zeit ist zu kurz, um an Biographischem aufzuarbeiten.

Als er sich dem Schreiben widmete, ahnte Weigoni nicht, welche Zähigkeit er würde aufbringen müssen, um den Glauben an sich nicht zu verlieren. Jahrelang kamen seine Manuskripte regelmäßig zurück, er aber schrieb unverdrossen weiter, schrieb Gedichte, Hörspiele und Prosatexte. Seine Arbeiten gelten als ‚schwierig’, als anspielungsreich und subtil, nicht eben Eigenschaften, die im verflachenden Literaturbetrieb angesagt sind.

Weigoni ist immer die langen Wege gegangen, seine kritische Stoßrichtung braucht einen etwas entfernteren Standpunkt, um ihre Wirkung voll zu entfalten. Er hat seinen Beruf in jahrzehntelanger Anstrengung erlernt, was ihm gelungen ist und was mißglückt, das weiß er besser als beamtete Besserwisser. Dieses System kann ohne seine Reservate ästhetischer Zähigkeit, Widerständigkeit und Wachheit nicht überleben. Seine geistige Heimat ist dort, wo das denkerische Wort poetisch durchtränkt ist und das poetische Wort durchdacht ist. Wenn den Figuren–Texten der Antike noch mystische Motive unterstellt werden können, ist für die meisten Texte des Barock wahrscheinlich der menschliche Spieltrieb verantwortlich, selbst die so genannten ‚konkreten’ und ‚visuellen’ Poesien erschließen sich so am ehesten. Seitdem ist eine Generation vergangen, doch wer könnte behaupten, die Mehrzahl der Vertreter deutscher Hochsprache seien weniger ehrenwert, bürgerlich–bieder, angepaßt und grundsolide?

Nach den abseitigen Ausnahmegestalten muß man lange suchen, sie werden entweder vom Markt aufgesogen oder verschwinden lautlos in den Ritzen der Ewigkeit. Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern, sein Schaffen erzeugt eine Poesie, die von der Rezeption das Äußerste an Selbstpreisgabe verlangt. Oft wird im Literaturbetrieb übersehen, daß gerade aus solcher Herausforderung die Subjektivität des– oder derjenigen, der oder die sich auf diese Kunstwerke eingelassen hat, sich auf Dauer verändert – die Wahrnehmungsfähigkeit, die Weltsicht, das Zulassen von Gefühlen. Weigoni sieht sein Schaffen immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen, denkt nach über die kulturellen Aufladungen beziehungsweise Vorwegbestimmungen des lyrischen Materials – Tonalität, Körperlichkeit, Struktur und Aura.

Die Sehnsucht nach Deutung und Umdeutung der Begriffe bleibt bei dem 'VerDichter' Weigoni groß. Er trägt seine Gedichte nicht einfach vor, er gestaltet und verwirklicht sie.

Weigoni gehört zu den wenigen Lyrikern, die man einfach gehört haben muss, weil es dem Vortragskünstler gelingt, die Wirkung seiner Werke über die Verschriftlichung hinaus zu steigern. Die Verve seines Vortrags, die expressive Kraft seiner Sprache, sein ungenialisches Outfit, das alles paßt nicht in die deutsche Lyriklandschaft, deren Vertreter gemeinhin als moderate Erben Benns, Celans oder Bachmanns gehandelt werden. Weigoni vermeidet Fehler, die bundesrepublikanische Schriftsteller machen und die ihre Arbeiten oft schal beschatten. Er verbarrikadiert sich weder wie Arno Schmidt als Solipsist in der Heide, noch stilisiert er sich zum großen Einzelnen, der sich im Kampf gegen den Stumpfsinn der Vielen in seiner Kunst aufreibt, wie es Rolf Dieter Brinkmann zum Ende tat.

Für Weigoni ist das Buch eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen gilt. Auf der Bühne verkörpert dieser Rezitator eine absolute künstlerische Hingabe und eine unaufgeregte Unbedingtheit. »Letternmusik im Gaumentheater« ist ein Platz für den artistischen Bau autarker Sprachkonstrukte außerhalb der alltäglichen Rede und normierter Sprachregularien. Weigonis Leidenschaft ist das kunstvolle und traditionsbewußte Zerlegen und Neukomponieren von Sprache. Bis in die atomaren Bestandteile der Sprache, bis in die Morpheme und Phoneme hineingehen der Zerlegungs– wie auch der Gestaltungswille in diesen Gedichten. Nie geht es in seinen Gedichten darum, Sprachzertrümmerungen um jeden Preis zu organisieren oder gar serielle Permutationen vorzuführen. Wenn er spezifische Techniken lyrischer Raffung, Komprimierung und schroffer Fügung durchprobiert, geschieht dies, um die sinnliche Materialität des Textkörpers erfahrbar zu machen. Seine Sprache ist eine Sprache, die sich immer wieder selbst überprüft. Seine Gedichte erinnern daran, was Poesie ursprünglich war: Gesang, Melodie und Rhythmus, Reim und Versmaß, Litanei und Mythos.

Was bei »Dichterloh«, einem Kompositum in vier Akten auf Anhieb verführt und besticht, ist seine Spreche: ihre Melodie, ihr Rhythmus, ihr weiter Atem. Die Stimmhaftigkeit des Schreibens und der Wunsch, es sprechend zu machen, bilden in Weigonis Werk ein zentrales Phantasma. Als "Sprechsteller" bricht er die Sprache auf, dehnt sie ins Geräuschhafte und treibt sie durch seine assoziative Fantasie ins Expressive.

Weigoni nutzt die Sprache als akustisches Präzisionsinstrument. Bei ihm lösen sich die Wörter ein Stückweit von ihrer mimetisch–realistischen Abbildfunktion und tragen auf unterschiedliche Weise dazu bei, das Vertraute fremd zu machen. Zu seinen Reizmitteln gehören zwischen Schrift und Rede wechselnde Tonspuren, eine intensiv atmende Syntax und Metrik, Klangbrüche und kunstvolle Enjambements, die der Akzentuierung eines einzelnen Worts, einer Silbe oder eines Buchstabens dienen. Dann entwickeln die Verse eine Spannkraft und eine vertikale Drift, die Zeilen treten hinter der Wirkung des Gedichtganzen zurück, und mit Zeilenbrüchen wird der Gedichtkörper kunstvoll gestaut. Seine Stimme gibt das Fließen und die Beweglichkeit des Körpers wieder. Sie beschwört Energien, für die es keine Worte gibt, emotionale Schattenreiche. Der Körper lügt nicht, die Stimme auch nicht. Man kann die emotionale Unehrlichkeit hören, wenn jemand die Stimme manipuliert, nur um einen Effekt zu erzielen. Weigoni manipuliert niemanden. Ein Reiz seiner Arbeit besteht in der Unverkrampftheit eines Erforschung, der die Einfachheit des Urzeitlichen besitzt; ihn zu verstehen, braucht es Offenheit und ein wenig Neugier. Dieser Lyriker lebt in osmotischer Beziehung zur Sprache, die er als etwas Lebendiges und Tödliches auffaßt. Sein Kompositum kann, anders als ein Bild, nicht als Ganzes wahrgenommen werden, sondern nur nach und nach. Der Modebegriff Identität ist nirgends so gründlich hinterfragt worden wie in diesen Gedichten. Seit Arno Schmidt hat niemand das Konstrukt des Ichs derart mitleidslos beobachtet.

Die so genannten Neuen Medien sind ein genuiner Resonanzboden. Auch Weigoni weiß um die negative Qualifikation, die eintritt, wenn einer fähig ist, in Unerklärlichkeiten zu sein, in Zweifeln, ohne das ärgerliche Ausstrecken nach Faktum und Vernunft. Er geht das subtile Bündnis von Wort und Ton ein und erweist sich als 'VerDichter', der die Sprache im Körper verankert und sich dagegen verwahrt, daß man seine lyrischen Konzentrate im Verstehensprozess wieder verdünnen muß. Hier ist Texterschließung im höchsten Sinne des Wortes gefordert. Diese Lyrik ist Sprache, die sich nichts vorschreiben läßt. In seiner
permanenten Bewegung des Ausweichens zeigt Weigoni Haltung gegen die Vereinnahmung des Poeten als intellektuellem Kommentator des eigenen oder eines fremden Werks, gar des Zeitgeschehens. Er sieht den Schriftsteller mitten im Geschehen, wo es keinen privilegierten Beobachterstandort, sondern nur situative Auskunft gibt. Mainstream im herkömmlichen Sinn war Weigoni nie, aber in seiner abgelegenen Furche ist er gefragt und immer wieder gehört worden.
Die meisten Autoren sind Angestellte des Literatur–Betriebs, sie interpretieren lediglich Literatur, statt Poesie zu schaffen. Weigoni bleibt dem Literaturbetrieb fern; nicht aus Abneigung, sondern weil er sich selbst genügt. Er zählt zu jenen Glücklichen, die in ihrem Inneren so viel Stoff vorfinden, daß ihm jegliche Sehnsucht nach Aktion, Handlung und Abenteuer ihnen absurd erscheint. Weigoni ist ein Außenseiter im Gefälligkeitszirkus der deutschsprachigen Literatur, er fühlt sich wohl in dieser Rolle, er schafft sich seine Freiräume, und
er nutzt sie aus.

Als Denkfallensteller im Namen der Poesie bringt er seine desillusionierende Poesie mit allegorischer Schärfe zum Ausdruck. Seine Gedichte sind ein Speicher an Erlebtem und Gelesenem. Und dieses Wissen ist in jeder Zeile anwesend. Seine Poeme sind ein Strom von klaren, auch vertrauten Wörtern, assoziativ verbunden, sie werden zu geschichteten Bildern.

Weigonis »Gedichte« haben als Experimentierfeld des Geistes eine analytische Genauigkeit, die man sonst eher in Essays findet; diese Poesie ist ein Akt des Denkens. Seine Verse sind Denkbilder, die sich dem vorschnellen Zugriff entziehen. Es ist diese leichthändige Souveränität, die unbändige Freude am Gedankenspiel, die dem Hörer Vergnügen bereitet; ein gelungener Beweis dafür, daß Denken Spaß machen kann. Philosophie und Poesie treten in eine fruchtbare Konstellation, wenn die eine nicht versucht auszusprechen, was die andere ohnehin sagt.

Lyrik ist eine Gattung der Literatur. Poesie ist die Melodie des Lebens. Weigonis Gedichte sind Sprache gewordene Wahrnehmung, die völlig ohne das lyrische Ich auskommen; der Wahrnehmende hat sich gleichsam aufgelöst in seine Wahrnehmungen. Diese Poeme sind nicht alles, was der Fall ist und wir erkennen können, vielleicht sind sie reicher als das, was wir erahnen können. Diese Poesie steht auf grundsätzliche Weise offen; jede Bestimmtheit, die ihr abgewonnen wird, bringt eine neue Unbestimmtheit mit sich. Für diesen Lyriker fallen mithin die Grenzen der Sprache mit den Grenzen der Welt nicht zusammen. Steinböcke gehen barfuß den Berg hinauf – so sollten Schriftsteller sein.

Im digitalen Zeitalter geht der Schrift der Sinn und damit die Sinnlichkeit immer mehr verloren; so scheint es. Weigonis Verse kann man beim Lesen gegen das Licht halten, damit das Wasserzeichen der Poesie zum Vorschein kommt. Ungeschütztheit ist eine Kategorie, die er für seine Lyrik hochhält. Diese Ungeschütztheit bewirkt auch, daß er als Hüter seiner selbst sie vor dem Anders– und Mißverständnis kaum bewahren kann. Weigoni bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten "Literaturclip", den die Menschheit kennt: Dem Gedicht!

Matthias Hagedorn, Galerie Andreas Brüning, Januar 2008