A.J. Weigoni
aus Budapest
erhält in Anerkennung seines lyrischen Werks
das Hungertuch für Literatur 2007
A.J. Weigoni erlag der Faszination des
Mediums Radio in seinen Kindertagen, als der Rundfunk zu einem
Zauberinstrument des Wortes wurde, zur akustischen Probebühne der Poesie,
zum Atem der Vernunft. Er saß vor einem Rundfunkempfänger mit „Tigerauge“
wie vor einer Kultstätte und vergaß, als er vor dem Lautsprecher saß, die
Apparaturen und Stationen. Das Medium Radio erlebte er als zauberhaft und
seine Unmittelbarkeit als bestechend. Wenn er den Empfang optimieren
wollte, mußte er nur geradewegs ins magische Auge des Empfangsgeräts
schauen, das aufging oder sich schloß, wie eine sogenannte
Abstimmanzeigeröhre, welche die Stärke des Signals veranschaulichte. Der
Himmel war nicht nur der Himmel der Erde,
sondern auch das Firmament der Kunst.
Schriftsteller versuchen oft, aus den ersten Lebensjahren eine Hölle zu
machen und eine Kindheit zu konstruieren, die zu ihrem Selbstbild paßt.
Auch Rilkes Kindheit war längst nicht so schlimm, wie der Mythos
behauptet, den er später schuf. Und doch ist es die Kindheit, die Weigonis
lebenslanges Aufbegehren gegen die Autoritäten eingepflanzt hat, die Zeit,
aus der sich sein Schreiben speist, wie aus einer lebenslangen Trotzphase.
Die Zeit ist zu kurz, um an Biographischem aufzuarbeiten.
Als er sich dem Schreiben widmete, ahnte Weigoni nicht, welche Zähigkeit
er würde aufbringen müssen, um den Glauben an sich nicht zu verlieren.
Jahrelang kamen seine Manuskripte regelmäßig zurück, er aber schrieb
unverdrossen weiter, schrieb Gedichte, Hörspiele und Prosatexte. Seine
Arbeiten gelten als ‚schwierig’, als anspielungsreich und subtil, nicht
eben Eigenschaften, die im verflachenden Literaturbetrieb angesagt sind.
Weigoni ist immer die langen Wege gegangen, seine kritische Stoßrichtung
braucht einen etwas entfernteren Standpunkt, um ihre Wirkung voll zu
entfalten. Er hat seinen Beruf in jahrzehntelanger Anstrengung erlernt,
was ihm gelungen ist und was mißglückt, das weiß er besser als beamtete
Besserwisser. Dieses System kann ohne seine Reservate ästhetischer
Zähigkeit, Widerständigkeit und Wachheit nicht überleben. Seine geistige
Heimat ist dort, wo das denkerische Wort poetisch durchtränkt ist und das
poetische Wort durchdacht ist. Wenn den Figuren–Texten der Antike noch
mystische Motive unterstellt werden können, ist für die meisten Texte des
Barock wahrscheinlich der menschliche Spieltrieb verantwortlich, selbst
die so genannten ‚konkreten’ und ‚visuellen’ Poesien erschließen sich so
am ehesten. Seitdem ist eine Generation vergangen, doch wer könnte
behaupten, die Mehrzahl der Vertreter deutscher Hochsprache seien weniger
ehrenwert, bürgerlich–bieder, angepaßt und grundsolide?
Nach den abseitigen Ausnahmegestalten muß man lange suchen, sie werden
entweder vom Markt aufgesogen oder verschwinden lautlos in den Ritzen der
Ewigkeit. Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern, sein
Schaffen erzeugt eine Poesie, die von der Rezeption das Äußerste an
Selbstpreisgabe verlangt. Oft wird im Literaturbetrieb übersehen, daß
gerade aus solcher Herausforderung die Subjektivität des– oder derjenigen,
der oder die sich auf diese Kunstwerke eingelassen hat, sich auf Dauer
verändert – die Wahrnehmungsfähigkeit, die Weltsicht, das Zulassen von
Gefühlen. Weigoni sieht sein Schaffen immer in gesellschaftlichen
Zusammenhängen, denkt nach über die kulturellen Aufladungen
beziehungsweise Vorwegbestimmungen des lyrischen Materials
– Tonalität, Körperlichkeit, Struktur und Aura.
Die Sehnsucht nach Deutung und Umdeutung der Begriffe bleibt bei dem
'VerDichter' Weigoni groß. Er trägt seine Gedichte nicht einfach vor,
er gestaltet und verwirklicht sie.
Weigoni gehört zu den wenigen Lyrikern, die man einfach gehört haben muss,
weil es dem Vortragskünstler gelingt, die Wirkung seiner Werke über die
Verschriftlichung hinaus zu steigern. Die Verve seines Vortrags, die
expressive Kraft seiner Sprache, sein ungenialisches Outfit, das alles
paßt nicht in die deutsche Lyriklandschaft, deren Vertreter gemeinhin als
moderate Erben Benns, Celans oder Bachmanns gehandelt werden. Weigoni
vermeidet Fehler, die bundesrepublikanische Schriftsteller machen und die
ihre Arbeiten oft schal beschatten. Er verbarrikadiert sich weder wie Arno
Schmidt als Solipsist in der Heide, noch stilisiert er sich zum großen
Einzelnen, der sich im Kampf gegen den Stumpfsinn der Vielen in seiner
Kunst aufreibt, wie es Rolf Dieter Brinkmann zum Ende tat.
Für Weigoni ist das Buch eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache
aufzuführen gilt. Auf der Bühne verkörpert dieser Rezitator
eine absolute künstlerische Hingabe und eine unaufgeregte Unbedingtheit.
»Letternmusik im Gaumentheater« ist ein Platz für den artistischen Bau
autarker Sprachkonstrukte außerhalb der alltäglichen
Rede und normierter Sprachregularien. Weigonis Leidenschaft ist das
kunstvolle und traditionsbewußte Zerlegen und Neukomponieren von Sprache.
Bis in die atomaren Bestandteile der Sprache, bis in die Morpheme und
Phoneme hineingehen der Zerlegungs– wie auch der Gestaltungswille in
diesen Gedichten. Nie geht es in seinen Gedichten darum,
Sprachzertrümmerungen um jeden Preis zu organisieren oder gar serielle
Permutationen vorzuführen. Wenn er spezifische Techniken lyrischer
Raffung, Komprimierung und schroffer Fügung durchprobiert, geschieht dies,
um die sinnliche Materialität des Textkörpers erfahrbar zu machen. Seine
Sprache ist eine Sprache, die sich immer wieder selbst überprüft. Seine
Gedichte erinnern daran, was Poesie ursprünglich war: Gesang, Melodie und
Rhythmus, Reim und Versmaß, Litanei und Mythos.
Was bei »Dichterloh«, einem Kompositum in vier Akten auf Anhieb verführt
und besticht, ist seine Spreche: ihre Melodie, ihr Rhythmus, ihr weiter
Atem. Die Stimmhaftigkeit des Schreibens und der Wunsch, es sprechend zu
machen, bilden in Weigonis Werk ein zentrales Phantasma. Als
"Sprechsteller" bricht er die Sprache auf, dehnt sie ins Geräuschhafte und
treibt sie durch seine assoziative Fantasie ins Expressive.
Weigoni nutzt die Sprache als akustisches Präzisionsinstrument. Bei ihm
lösen sich die Wörter ein Stückweit von ihrer mimetisch–realistischen
Abbildfunktion und tragen auf unterschiedliche Weise dazu bei, das
Vertraute fremd zu machen. Zu seinen Reizmitteln gehören zwischen Schrift
und Rede wechselnde Tonspuren, eine intensiv atmende Syntax und Metrik,
Klangbrüche und kunstvolle Enjambements, die der Akzentuierung eines
einzelnen Worts, einer Silbe oder eines Buchstabens dienen. Dann
entwickeln die Verse eine Spannkraft und eine vertikale Drift, die Zeilen
treten hinter der Wirkung des Gedichtganzen zurück, und mit Zeilenbrüchen
wird der Gedichtkörper kunstvoll gestaut. Seine Stimme gibt das Fließen
und die Beweglichkeit des Körpers wieder. Sie beschwört Energien, für die
es keine Worte gibt, emotionale Schattenreiche. Der Körper lügt nicht, die
Stimme auch nicht. Man kann die emotionale Unehrlichkeit hören, wenn
jemand die Stimme manipuliert, nur um einen Effekt zu erzielen. Weigoni
manipuliert niemanden. Ein Reiz seiner Arbeit besteht in der
Unverkrampftheit eines Erforschung, der die Einfachheit des Urzeitlichen
besitzt; ihn zu verstehen, braucht es Offenheit und ein wenig Neugier.
Dieser Lyriker lebt in osmotischer Beziehung zur Sprache, die er als etwas
Lebendiges und Tödliches auffaßt. Sein Kompositum kann, anders als ein
Bild, nicht als Ganzes wahrgenommen werden, sondern nur nach und nach. Der
Modebegriff Identität ist nirgends so gründlich hinterfragt worden wie in
diesen Gedichten. Seit Arno Schmidt hat niemand das Konstrukt des Ichs
derart mitleidslos beobachtet.
Die so genannten Neuen Medien sind ein genuiner Resonanzboden. Auch
Weigoni weiß um die negative Qualifikation, die eintritt, wenn einer fähig
ist, in Unerklärlichkeiten zu sein, in Zweifeln, ohne das ärgerliche
Ausstrecken nach Faktum und Vernunft. Er geht das subtile Bündnis von Wort
und Ton ein und erweist sich als 'VerDichter', der die Sprache im Körper
verankert und sich dagegen verwahrt, daß man seine lyrischen Konzentrate
im Verstehensprozess wieder verdünnen muß. Hier ist Texterschließung im
höchsten Sinne des Wortes gefordert. Diese Lyrik ist Sprache, die sich
nichts vorschreiben läßt. In seiner
permanenten Bewegung des Ausweichens zeigt Weigoni Haltung gegen die
Vereinnahmung des Poeten als intellektuellem Kommentator des eigenen oder
eines fremden Werks, gar des Zeitgeschehens. Er sieht den Schriftsteller
mitten im Geschehen, wo es keinen privilegierten Beobachterstandort,
sondern nur situative Auskunft gibt. Mainstream im herkömmlichen Sinn war
Weigoni nie, aber in seiner abgelegenen Furche
ist er gefragt und immer wieder gehört worden.
Die meisten Autoren sind Angestellte des Literatur–Betriebs, sie
interpretieren lediglich Literatur, statt Poesie zu schaffen. Weigoni
bleibt dem Literaturbetrieb fern; nicht aus Abneigung, sondern weil er
sich selbst genügt. Er zählt zu jenen Glücklichen, die in ihrem Inneren so
viel Stoff vorfinden, daß ihm jegliche Sehnsucht nach Aktion, Handlung und
Abenteuer ihnen absurd erscheint. Weigoni ist ein Außenseiter im
Gefälligkeitszirkus der deutschsprachigen Literatur, er fühlt sich wohl in
dieser Rolle, er schafft sich seine Freiräume, und
er nutzt sie aus.
Als Denkfallensteller im Namen der Poesie bringt er seine
desillusionierende Poesie mit allegorischer Schärfe zum Ausdruck. Seine
Gedichte sind ein Speicher an Erlebtem und Gelesenem. Und dieses Wissen
ist in jeder Zeile anwesend. Seine Poeme sind ein Strom von klaren, auch
vertrauten Wörtern, assoziativ verbunden, sie werden zu
geschichteten Bildern.
Weigonis »Gedichte« haben als Experimentierfeld des Geistes eine
analytische Genauigkeit, die man sonst eher in Essays findet; diese Poesie
ist ein Akt des Denkens. Seine Verse sind Denkbilder, die sich dem
vorschnellen Zugriff entziehen. Es ist diese leichthändige Souveränität,
die unbändige Freude am Gedankenspiel, die dem Hörer Vergnügen bereitet;
ein gelungener Beweis dafür, daß Denken Spaß machen kann. Philosophie und
Poesie treten in eine fruchtbare Konstellation, wenn die eine nicht
versucht auszusprechen, was die andere ohnehin sagt.
Lyrik ist eine Gattung der Literatur. Poesie ist die Melodie des Lebens.
Weigonis Gedichte sind Sprache gewordene Wahrnehmung, die völlig ohne das
lyrische Ich auskommen; der Wahrnehmende hat sich gleichsam aufgelöst in
seine Wahrnehmungen. Diese Poeme sind nicht alles, was der Fall ist und
wir erkennen können, vielleicht sind sie reicher als das, was wir erahnen
können. Diese Poesie steht auf grundsätzliche Weise offen; jede
Bestimmtheit, die ihr abgewonnen wird, bringt eine neue Unbestimmtheit mit
sich. Für diesen Lyriker fallen mithin die Grenzen der Sprache mit den
Grenzen der Welt nicht zusammen. Steinböcke gehen barfuß den Berg hinauf –
so sollten Schriftsteller sein.
Im digitalen Zeitalter geht der Schrift der Sinn und damit die
Sinnlichkeit immer mehr verloren; so scheint es. Weigonis Verse kann man
beim Lesen gegen das Licht halten, damit das Wasserzeichen der Poesie zum
Vorschein kommt. Ungeschütztheit ist eine Kategorie, die er für seine
Lyrik hochhält. Diese Ungeschütztheit bewirkt auch, daß er als Hüter
seiner selbst sie vor dem Anders– und Mißverständnis kaum bewahren kann.
Weigoni bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und
sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im
ältesten "Literaturclip", den die Menschheit kennt: Dem Gedicht!
Matthias Hagedorn, Galerie Andreas Brüning, Januar 2008
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