"Ein Virtuelles Unternehmen ist eine Kooperationsform rechtlich
unabhängiger Unternehmen .. und/oder Einzelpersonen .. auf der Basis eines gemeinsamen
Geschäftsverständnisses. Die kooperierenden Einheiten .. wirken bei der
Leistungserstellung .. wie ein einheitliches Unternehmen. Dabei wird auf die
Institutionalisierung zentraler Managementfunktionen .. durch die Nutzung geeigneter
Informations- und Kommunikationstechnologien weitgehend verzichtet." (1)
"Zehntausende erwachsene Berliner sind
Analphabeten : sie können nicht oder nur völlig unzureichend lesen und schreiben. Nach
einer Studie der UNESCO .. sind bis zu fünf Prozent der hier lebenden Menschen nicht in
der Lage, Formulare allein auszufüllen oder die Zeitung zu lesen.." (2)
Die vorliegende Studie versteht sich als
wirtschaftswissenschaftlicher Essay. Ihre Bereitstellung im Web soll uns Hinweise liefern,
ob potentielle Leser interdisziplinärer Entwürfe, die sich an Geistes- wie an
Wirtschaftswissenschaftler richten, den Verlagsort "Netz" bereits aufsuchen. -
Weitere Fragen verbinden sich damit : ist dieser Text durch sein Erscheinen im Internet
"publiziert" ? Wird das Netz durch die zählbaren Zugriffe von Lesern, und ggf.
Ihre Mails, zum legitimen Markt ? - Historische Vergleiche ( nehmen wir die Entstehung des
Briefromans als literarischer Form im 18. Jhdt. ) helfen wenig, machen das Fragen nur
interessanter.
Also : viel Spaß mit diesem Text !
PROLEGOMENA ZU EINER
GATTUNGSPOETIK DER AKTE
Die Erfolgsgeschichte des modernen
Industrieunternehmens bestand bis vor kurzem darin, Abläufe der Fertigung
in Einzelschritte zu zerlegen, die dabei aufgefundenen redundanten Passagen
zu eliminieren und die verbleibenden zu automatisieren. Das Nicht-Beachten
kommunikativer Zusammenhänge, ja deren absichtliches Zerreißen war lange
Zeit überaus erfolgreich : im Fertigungsbereich - an der bekannteren Front
- war ausreichendes Rationalisierungspotential vorhanden. - Es entbehrt
deshalb nicht der Ironie, wenn künftige Rationalisierung und Optimierung,
auch in der Fertigungsindustrie, sich inzwischen gezwungen sieht, aus
ureigensten, ökonomischen Beweggründen nicht nur ein Konzept ihrer
kommunikativen Gegenwelt zu entwerfen, sondern sich schrittweise deren Logik
anzunähern. Die Hilflosigkeit, mit der sich die große Mehrzahl der
Betriebe diesem Thema nähert, verstehe ich als Indiz, daß die unter dem
Zeichen der Naturbeherrschung angetretene Moderne in einem ihrer
Kernbereiche unter selbstgezogenen Grenzen zu leiden beginnt.
Baecker (3)
beschreibt die derzeit von vielen Unternehmen vorgenommene Restrukturierung
als zielgerichteten Versuch der Wiedereinführung von Irritation und
Irrationalität, von systematischer Ungewißheit von Entscheidungen in die
laufenden Prozesse, und er leitet daraus einen erweiterten Formbegriff des
modernen Unternehmens ab : war "das Unternehmen" ursprünglich ein
vom Unternehmer unternommenes, von Erfolg gekröntes Wagnis, so bleibt es
seiner Idee am nächsten verbunden, wenn es in jedem Moment auch sein Ende
denken, und sich damit neu gründen kann.(4)
- Von dieser Maxime sind Unternehmen im Sozialstaat weit entfernt, sie sind
längst Vehikel der Besitzstandswahrung geworden : wenn
"Entscheider" eine Chance sehen, mit einer bestehenden
Organisationsform weiterzuleben, handeln sie gerne so, daß sich die Anzahl
der Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten möglichst lange für niemanden
vergrößert, und sie sind sich der Zustimmung ihres Biotops gewiß.
Inzwischen entsteht allerdings für viele Unternehmen
der Fertigungsindustrie in Hochlohnländern akuter Handlungsbedarf - ein
Zustand, der in der Vergangenheit regelmäßig die Frage entstehen ließ,
welcher Part des schon vielfach optimierten Fertigungsprozesses als
nächster verzichtbar wäre. Im Unterschied zu früheren Rationalisierungen
lautet diesmal jedoch die Antwort grundsätzlich anders : jetzt steht die
Logik des Handelns, früher die Grundlage der Entscheidung für oder gegen
einen selektierten Prozeßschritt, selbst zur Disposition.
Relevante Verbesserungen von Fertigungsabläufen und
ihrer vor- und nachgelagerten logistischen Schritte lassen sich nur noch
erreichen, wenn die Prozesse der Gewinnung, des Austauschs und der
Speicherung von Informationen - insgesamt also die erfolgreiche
Kommunikation zwischen Menschen - in den Vordergrund treten. - Ein Kunde,
der nach einer Bohrmaschine fragt, gibt damit zu verstehen, daß er -
spezifische - Löcher kaufen will, wird allerdings meist so nicht verstanden
- meist "sagt" er es auch nicht, er fragt eben, wie üblich, nach
einer Bohrmaschine. Wird ihm nur die verkauft, ist eine - beiderseitige -
Enttäuschung ziemlich gewiß. - Die Irritation, die durch das Wagnis eines
potentiell fehlschlagenden Verstehens von Kaufwünschen am point of sale
entsteht, wurde bisher möglichst vermieden, und muß künftig aber gerade
angestrebt, und wenn nötig Schritt um Schritt in den Fertigungsprozeß, bis
zu dessen Start, rückverlagert werden. Solche Umwertungen fundamentaler
Werte und Handlungsmuster nennt man gewöhnlich Paradigmenwechsel, und das
Spannende daran besteht weniger in der Bestimmung eines hinzutretenden
Faktors, der das Umschlagen in ein neues Fließgleichgewicht herbeigeführt
hat, sondern vielmehr in dem Versuch, den Blick auf die "unmarked
states" (5) - auf den Umstand, daß
Löcher gemeint sind, wenn von Bohrmaschinen die Rede ist - zu richten ; auf
die bisher gebundenen Energien, an deren Form es nichts mehr zu verstehen
gab, weil sie "reibungslos funktionierten", und die nun in eine
ungebundene Gestalt umspringen.
Das Verlangen, ein Unternehmen so gegen den Strich zu
bürsten, konnte bislang als undurchführbar und offensichtlich unsinnig
abgewiesen werden ; inzwischen existiert jedoch - und dies ist der
gegenwärtig hinzutretende Faktor - in der Gestalt firmenweiter
Büro-Kommunikationsnetze von innen, und globaler Übermittlungsdienste wie
des Internet von außen, prinzipiell die Möglichkeit, solche Abstimmungs-,
Prüf- und Entscheidungsmechanismen bis hin zur gänzlichen Virtualisierung
des Unternehmenskorpus zu optimieren. Damit wird der Primat des
Entscheidens, der in seiner überkommenen Form - als Ursache einer Folge
kausal interpretierter Wirkungen - nahtlos in die Gewißheit überleiten
sollte, weitere Entscheidungen nicht mehr fällen zu müssen, überführt in
die Reflexion seiner Nah- und Ferneinflüsse im Unternehmen, in die
eigentümliche Bewegung des kontinuierlichen Abwägens.
Das Unternehmen erhält, sofern es dies will, die
wiederholbare Chance, nicht B sagen zu müssen, wenn - oder sogar : weil - A
falsch war.
Nun setzt die Verwirklichung
derart hoch gesteckter Ziele allerdings voraus, daß die in firmenweiten und
firmenübergreifenden Vernetzungen tätigen Mitarbeiter auch die erforderliche Eignung
mitbringen. - Auch wäre zu bestimmen, was für diese Zwecke überhaupt erlernt werden
muß, und welche Voraussetzungen als allgemein gegeben betrachtet werden können. -
Gewöhnlich wird vorausgesetzt, daß jeder Erwachsene, schon gar jeder im Arbeitsprozeß
Tätige, hinreichende Erfahrung im Umgang mit Texten hat. Erst durch den
"flächendeckenden Selbstläufer" Büro-Kommunikation gerät in den Blick, daß
dies keinesfalls gegeben ist. Das Selbstverständnis entwickelter Industriestaaten lebte
gerne mit der Annahme, daß seit der Einführung der Allgemeinen Schulpflicht, und mit der
Entwicklung normierter Hochsprachen, die ausnahmslose Alphabetisierung aller Erwachsenen
"für immer" durch- und umgesetzt war. Inzwischen wird bekannter, daß diese
Alphabetisierung niemals realisiert war und inzwischen - auch in Deutschland -
verlustreiche Rückzugsgefechte führt. - Fünf Prozent erwachsene Analphabeten bedeuten :
mehrere Millionen der arbeitenden Bevölkerung bringen nicht einmal die
Einstiegsvoraussetzungen mit, um sich mit den Anforderungen an die Virtualisierung der
Beschäftigungsstruktur auch nur auseinandersetzen zu können.
Zwischen diesen beiden, eingangs durch Zitate belegten
Polen bewegt sich die derzeitige Auseinandersetzung um die künftige Form der
Arbeitsorganisation. Dies ist allerdings nach meiner Beobachtung den meisten Entscheidern
in den Unternehmen noch nicht deutlich - ihre betriebswirtschaftliche ( also
nichtliterarische ! ) Vorbildung prädestiniert sie auch nicht dafür.
Um die Schwierigkeiten,
sowohl bei der Herstellung von Hard- und Software, wie bei der Schulung und Betreuung von
BK-Systemen besser verstehen zu können, soll zunächst beschrieben werden, welche
mentalen Anforderungen ein kommunikationsabbildendes System an seine Benutzer stellt.
Die Erfahrungen mit implementierten BK-Systemen lassen
inzwischen die Feststellung zu, daß hier zwei aufeinander aufbauende, in der Geschichte
der Industriegesellschaft bisher nicht existierende Aufgaben zu lösen sind :
1. Jeder Anwender ist gehalten, seine
alltägliche Arbeit, die bisher verbal und/oder papiergebunden unterstützt wurde, in
einem unbekannten Medium zu reorganisieren. Da das Organisationsziel die Eliminierung von
Medienbrüchen anstrebt, sollten möglichst viele, tendenziell "alle"
Arbeitsabläufe im elektronischen Medium abbildbar sein. - Selbst den günstigen Fall
vorausgesetzt, daß dem Mitarbeiter die inhaltliche Seite seiner Tätigkeit leicht von der
Hand geht : in der Regel wurde von ihm noch nie verlangt, sich Klarheit über die Struktur
seines Tuns zu verschaffen, um auf dieser Grundlage überhaupt erst zu handeln. Bisher
genügte es, gelegentlich zwar wechselnde, aber generell monokausal definierte
Arbeitsabläufe zu erlernen und zuverlässig auszuführen, und in Zweifelsfällen durfte
der Mitarbeiter sich auf die hierarchisch-bürokratische Struktur berufen. Sie gab ihm in
Sachfragen recht, solange er nicht gegen sie handelte.
Ohne vorausschauende Anleitung wird der
Anwender zunächst versuchen, seinen bisherigen Arbeitsaufbau - Kennzeichnung von
Terminen, Wiedervorlagen, Abkürzungen - im neuen Medium "Eins zu Eins" zu
wiederholen. Nun kann das Kommunikationsmedium der Vielzahl von Anwendern immer nur einen
gemeinsamen Nenner bieten, der die Gestaltungsmöglichkeiten durch technische Vorgaben
normiert ( 8.3-Regel zur Dateibezeichnung, Formatierung etc. ) und damit praktisch alle
Anwender mehr oder weniger frustriert.
Die neue Technologie erfordert also, daß jeder Anwender - und das heißt : tendenziell
jeder Mitarbeiter des Unternehmens - sich darüber aufklärt, was er wann in welcher Weise
tut - sie verlangt, daß er mündig werden will.
2. Der darauf aufbauende Schritt ist noch
um einiges schwieriger : auf die neue Selbstorganisation muß die Herausbildung
regelgemäßer Verfahrensweisen zum Austausch von Informationen folgen; nur dann können
die von einem Anwender erzeugten und verwalteten Daten zu sinnvollen, benutzbaren
Arbeitsgrundlagen für weitere Anwender werden.
Dies bedeutet, daß jeder Anwender sich
zusätzlich überlegen muß, in welcher Weise er handeln könnte, und bald unter dem
Diktat knapper Zeit handeln muß, um sein Kommunikations- und damit Arbeitsziel zu
erreichen. BK-Systeme bieten inzwischen den Anwendern vielfältige Optionen der Gestaltung
an : möglich sind etwa elektronische Nachrichten an beliebige einzelne Anwender und
Anwendergruppen, inhouse und weltweit ; die Bereitstellung von Dokumenten in
abteilungsweiten und firmenweiten Dokumentablagen, einschließlich der Festlegung der
jeweiligen Zugriffsprivilegien ; die Entwicklung von Textbausteinen und Befehlsfolgen für
einen, viele oder "alle" Anwender der Organisation ; die Entscheidung über die
update- und Verfallsdaten von Dokumenten ; das Einräumen differenzierter Zugriffe auf
eigene oder fremde Terminkalender, bzw. eingehende Post im Vertretungsfall ; die Teilnahme
an Diskussionsforen im Netz, die Eröffnung und Gestaltung elektronischer Konferenzen usw.
In der Praxis führt dieser zweite
Schritt bei vielen Anwendern zu der Erkenntnis, daß sie den ersten Schritt - die
Selbstorganisation -, der in der Regel zunächst "naiv" geschah, einer
gründlichen Revision unterziehen müssen. Die Selbstorganisation von Anwendern unter den
Bedingungen der papiergebundenen und verbal strukturierten Vergangenheit - ein
Nebeneinander vieler Kommunikationsinseln - ähnelte einer Ansammlung von Privatsprachen,
aus dem persönlichen Lebensbereich der Anwender in ihre Arbeitswelt hineingetragen. -
Dies machte den Start in ein selbstverständliches Arbeiten unter den Bedingungen des
neuen Mediums leichter. Andererseits wird nun aber auch deutlich, daß viele Aspekte
dieser Privatsprachen kaum kommunizierbar sind ; häufig wäre die Verbreitung dem
Anwender auch peinlich, weil er sich unverstellter gab, als ihm unter Zeugen lieb ist.
Den Anwendern wird in der Regel, unter
dem ständigen Druck des Arbeitsprozesses, nach einem längeren Prozeß des Abwägens
deutlich, daß es sinnvoller ist, bereits die erste Stufe - die Struktur der
Selbstorganisation - auf ihre Verwendbarkeit in kommunikativen Abläufen zu entwerfen. Die
Erfahrung zeigt, daß es den meisten Anwendern sogar selbstverständlich wird, auch den
Teil ihrer Daten, die selten für kommunikative Prozesse benötigt werden, an den
Prinzipien allgemeiner Verständlichkeit zu orientieren. - Diese komplexen Abstimmungen
mit sich selbst, mit einer gewissen Anzahl von Kommunikationspartnern - und von Anfang an
zugleich mit den eigentlichen Arbeitsinhalten - findet, das sollte nicht vergessen werden,
unter dem Druck statt, daß der Arbeitsplatz im Fall eines Mißerfolgs in Gefahr geraten
kann.
Damit ist jedoch nur unzureichend
beschrieben, was an der Konzeption der Neuen Medien, angewendet auf die
Arbeitsorganisation von Unternehmen, grundsätzlich neu ist.
Firmenweite BK-Systeme erlauben nicht
nur, sondern verlangen die fortschreitende Übernahme von Verantwortung, und damit das
Fällen von Entscheidungen ohne ständige Rücksprache. Die Qualität eines Unternehmens -
seine Schnelligkeit, seine Ansprechbarkeit an allen Schnittstellen, und damit sein
Markterfolg - wird entscheidend davon bestimmt, wie viele Mitarbeiter welches Quantum an
Entscheidungsfreude, also an unternehmerischen Qualitäten an den Tag legen.
Eine grundlegende Schwierigkeit der
Industriesoziologie besteht darin, daß - anders als in der traditionellen Forschung - die
in Firmen gewonnenen Erkenntnisse nur selten ( und dann zu PR-Zwecken ) publiziert werden,
weil es dem informierten Management sowohl an der nötigen Zeit zur Ausarbeitung, als auch
am spezifischen Erkenntnis- und Darstellungsinteresse fehlt ; im übrigen verdient diese
Gruppe ihr Geld gerade damit, daß sie solches Wissen zurückhält und nur für sich
benutzt.
Umgekehrt müssen Externe ihre Untersuchungen großenteils auf Marktstudien, Management-
und Organisationstheorien usw., auf Informationen aus zweiter Hand stützen, haben also
keine fortgesetzte eigene Anschauung der Abläufe in Firmen von innen, und kein sicheres
Korrektiv zur Prüfung von Informationen, die von interessegeleiteten, und nicht von
erkenntnisorientierten Informanten herrührt. - Deshalb soll in der vorliegenden Studie
versucht werden, aus meiner zehnjährigen, fortgesetzten Erfahrung mit der Einführung,
Schulung und Betreuung von BK-Systemen Schlüsse auf die kognitive Form des
kommunizierenden Unternehmens abzuleiten. Sie macht sich damit angreifbar, weil aus einer
Fallstudie auf Allgemeines geschlossen wird ; weil solche Fallstudien meines Wissens
bisher aber nicht zur Verfügung stehen ( und Generalisierungen im I+K-Bereich nach
wenigen Jahren hinsichtlich ihrer konkreten Aussagen veralten ), wird diese hier
ausgebreitet.
In einem Rekurs
auf die Bedingungen der Schriftlichkeit (6) und die
Implikationen der Durchsetzung des Buchdrucks (7) soll der
Bogen zu den Konsequenzen für die kommunikationsgeleitete Reorganisation von
Industrieunternehmen mittels der Lerntheorie (8) unter den
Prämissen der genetischen Erkenntnistheorie (9) geschlagen
werden - eine Absicht, die auf so knappem Raum eben nur als Essay berechtigt sein kann.
Die angemessene Ausführung scheitert bisher an der knappen Ressource Zeit ; die
vorliegenden Zeilen können also nur die Richtung bezeichnen, die von einer stringenten
Argumentation eingeschlagen werden müßte.
Auf diese Skizze hinleitend, soll nun
der, von Baecker analysierte, Begriff der Entscheidung als Konstitutiv des
Industrieunternehmens zunächst näher betrachtet werden.
DIE AKTE IST DIE AKTE IST DIE AKTE
"Daß man nicht weiß,
wie man anfangen soll, wird dadurch wettgemacht, daß man trotzdem anfängt und die
unbestimmte Kontingenz des Anfangs in eine bestimmte Kontingenz des Weitermachens
überführt. Daß man auch nicht hätte anfangen können, überführt man in die
Möglichkeit, anders weiterzumachen. " (10) - Diese
Beschreibung der Unternehmensgründung beschreibt auch recht gut die Situation eines
Mitarbeiters, der zum ersten Mal vor die Aufgabe gestellt ist, ein Dokument mit einer
prägnanten Ablageinformation, die nach Jahren noch aussagekräftig sein soll, oder eine
elektronische Nachricht mit einem Betreff, der dem/den Empfänger/n unmittelbar
verständlich ist, zu versehen. In der Regel wird hier um Anleitung und Hilfe gebeten.
Noch deutlicher : viele, auch erfahrene, langjährige Mitarbeiter sind nicht in der Lage,
den Inhalt eines kurzen Textes im elektronischen Medium zusammenzufassen, weder für sich
selbst, und noch weniger für Andere, oft ja persönlich Unbekannte. Beliebt ist dann -
unter dem Druck, handeln zu müssen - im Betreff einer Nachricht der hilflose Eintrag
"Brief". Demselben Anwender käme es wohl nicht in den Sinn, auf ein Couvert,
das er der "gelben Post", oder der Hauspost übergibt, als einzige Kennzeichnung
zu schreiben : "Dies ist eine Nachricht". - Thematisiert der Betreuer diesen
Umstand, und versteht er es nicht, das Fehlverhalten zu verallgemeinern oder - am besten -
mit schlechtem Beispiel demonstrativ in der Schulung voranzugehen, so wird er es schwer
haben, die Akzeptanz des Systems nicht zu verspielen : denn den Mitarbeitern ist, als
erwachsenen Menschen, sehr wohl bewußt, daß sie sich "unter Niveau geschlagen
geben", und sie würden durch die Bewertung der Schulung und des Systems eine
Demütigung angemessen beantworten.
Weitere beliebte Betreffs sind : "bekannt" ;
"siehe unten" ; "z.K." , womit ungefähr soviel gesagt ist wie :
"Ich weiß, was ich geschrieben
habe" ( bekannt)
"Im Umschlag ist was drin" (
s.u. )
"Der Text ist zum Lesen da" (
zur Kenntnisnahme )
Solche offensichtlichen Schwierigkeiten
mit der sinnvollen Deklaration von Dokumenten wirken nur solange belustigend, bis nach
einiger - schlechter - Praxis eine Vielzahl von Anwendern in ihrer elektronischen Ablage
dringend benötigte Dokumente nicht mehr findet. Da wesentliche Arbeitsprozesse von der
zeitkritischen Abarbeitung abhängen, entsteht daraus schnell ein
unternehmensstrategisches Problem.
Hilfreich für den Betreuer ist die Überlegung, daß auch andere komplexe Regelsysteme,
die von einer Vielzahl von Anwendern in neuerer Zeit zu lernen waren, längere Zeit bis
zur Internalisierung brauchten. Auch heute ist es noch nicht jedem Teilnehmer im
Straßenverkehr klar, daß er beim Abbiegen nicht etwa deshalb blinkt, um sich seiner
eigenen Absicht zu vergewissern, sondern daß solche Zeichen für andere
Verkehrsteilnehmer gedacht sind und von diesen verstanden werden sollen, obwohl diese, und
damit ihr individuelles Reaktionsmuster, ihm unbekannt sind und bleiben.
Der Gestaltungsspielraum zwischen
Äußerung und Nachricht ist kein naturwüchsiges, sondern ein kulturelles Phänomen und
ebenso gegensätzlich, aber auch komplementär wie die Begriffe der Produktions- und
Rezeptionsästhetik auf einem scheinbar gänzlich andersartigen Gebiet, der
Literaturwissenschaft. - Dieser Vergleich soll zunächst den einfachen Umstand
verdeutlichen - zu dessen Reflexion in Industrieunternehmen allerdings bisher weder Anlaß
noch Raum war -, daß jedem Text ein Ausdrucks- und Darstellungsinteresse zugrundeliegt,
und/oder erst im Kopf des Lesers entsteht. Diese notwendige Differenz muß aber
zuallererst wahrgenommen und akzeptiert sein: es muß verstanden werden, daß es sie
grundsätzlich gibt, und daß ihr Verständnis umso wichtiger wird, je weniger der
Erzeuger des Textes darauf reflektiert hat ; daß jeder Gestaltung eines Textes immer
eine, mehr oder weniger klare, Entscheidung mitgegeben ist, unter welchen Koordinaten des
kognitiven Horizonts die eigentliche Botschaft der Nachricht zu finden ist.
Es käme also für innovative Unternehmen
darauf an, in den hermeneutischen Zirkel von Kommunikation firmenweit einzusteigen !
Nun zeichnete
allerdings das Büro, als Magazin aller möglichen, zulässigen Botschaften in
Unternehmen, durch seine ganze Geschichte hindurch aus, daß es solche Differenzierungen
möglichst unterschiedlos in sich versammelte : "Örtlichkeit, Schriftlichkeit und
Hierarchie sind die Einschränkungen, die das abenteuernde Unternehmen in ein
bürokratisches Unternehmen transformieren. .. Die Schrift wurde .. nicht für Leser
erfunden, sondern als Mittel des Denkens, eines Gedächtnisses nämlich, das Zeichen
produziert, die (anders) wiederverwendbar sind." (11) -
Man kann die Bedeutung des Umstands gar nicht überschätzen, daß ein firmenweites
BK-System es jedem Teilnehmer ermöglicht, und ermöglichen muß, nach eigener
Entscheidung jedem anderen Teilnehmer Informationen zukommen zu lassen, ohne an Hierarchie
und Abteilungsgrenzen gebunden zu sein. Produktion und Rezeption von Sinn treten auf nicht
mehr domestizierbare Weise auseinander. - Der Innovationsdruck, der zur Einführung von
BK-Systemen veranlaßt, bezieht seine Überzeugungskraft gerade aus diesen Optionen : wenn
ein firmenweites BK-System existiert und angemessen genutzt wird, dann können beliebige
Anwender zu Projektteams formiert, und nach Projektabschluß zu neuen Teams
zusammengesetzt werden. Es ist nicht nötig, Büros räumlich zu verlegen oder
Abteilungsbezeichnungen zu verändern. Der Zugriff auf beliebige Dokumentbestände kann
ohne Einschränkung gewährt, widerrufen, differenziert .. werden.
Der Charakter der Dokumentation von
Vorgängen in Organisationen war allerdings von Anfang an ein grundsätzlich anderer.
Schriftlichkeit im Büro war beschreibbar als eine nach oben offene Anzahl von Dokumenten,
abgelegt in Ordnern, in Schränken an definierten Orten aufbewahrt, und von definierten
Personen weggeschlossen, um gegebenenfalls auf dem Dienstweg in Form von Akten prozessiert
werden zu können.
Die Leistung der Akte besteht darin, daß, wer ihren Dienstweg
begriffen hat, an ihr nichts weiter verstehen muß : sie ist ".. eine Technik des
Differenzmanagements. Sie spannt die Differenzen auf, die im Laufe der Bearbeitung der
Akte abzuarbeiten sind. .. Es gibt kein Fachwissen, das nicht zu einem Dienstwissen
gemacht werden kann, und kein Dienstwissen, das nicht durch ein Dienstwegwissen
konterkariert werden kann." (12)
Das Paradox der Büro-Kommunikation
besteht nun darin, daß sie diese Leistung der Administration, zu deren besserer
Prozessierung die ersten BK-Systeme Anfang der 80er Jahre in den USA entwickelt wurden,
nur aufrechterhalten und weiterentwickeln kann, indem sie die formalen Voraussetzungen
dieser Leistung zur Disposition stellt :
Büro-Kommunikation hebt die Örtlichkeit
auf, denn ein Dokument, auf das mehr als ein Anwender zugreifen kann, existiert nur mehr
"im Netz" und kann von beliebigen Endgeräten, von beliebigen Standorten aus
angefaßt, gelesen, bearbeitet, ausgedruckt oder gelöscht werden.
Ebenso
relativiert sich die Schriftlichkeit : ein Dokument hat, entsprechende
Bearbeitungsprivilegien vorausgesetzt, keinen Autor und keine definitive Gestalt mehr, ja
es ist im Idealfall nur eine momentane Zustandsbeschreibung eines Prozesses, der keinen
Anfang und kein Ende kennt ; denn jeder Prozeß, und damit jede schriftliche Fixierung
leitet sich aus vorangegangenen Prozessen her, gestaltet selbst ".. einen Abschluß,
der anschließbar ist .."(13), und damit die Gewähr
künftiger Geschäfte wahrscheinlich macht.
Büro-Kommunikation steht für den
Wiedereintritt des kalkulierbaren Wagnisses ins Unternehmen. Allein aus diesem Grund kann
die längere Zeit diskutierte Frage, ob und wann Unternehmen die Entscheidung zur
Einführung von BK-Systemen treffen sollten, nicht nach quantifizierbaren Maßstäben
beantwortet werden.
Es läßt sich zwar relativ einfach feststellen, daß die
elektronische Übermittlung von Dokumenten eine Reduzierung der Transportzeit um fast 100%
zur Folge hat, und auch die Liegezeiten stark zurückgeführt werden können ; Zangl (14) hat dies in seiner Analyse des Fax eingehend untersucht.
Aber der entscheidende Unterschied zwischen dem Fax und durchgängig elektronischen
Systemen besteht darin, daß auch das Fax als klassisches Dokument beginnt, und als
klassisches Dokument endet : seine Örtlichkeit und Schriftlichkeit bleibt von der
Elektronifizierung des Transportwegs unberührt.
Schließlich konterkariert
Büro-Kommunikation das Ordnungsprinzip der Hierarchie : der Einsatz eines BK-Systems ist
nur dann sinnvoll, wenn Dokumente im Regelfall eben nicht mehr vorgelegt, kontrolliert und
abgezeichnet werden müssen, sondern jeder Anwender selbst entscheidet, wann er etwas
schreibt, überarbeitet, abschließt, ausdruckt, versendet ...
BK-Systeme bedeuten - und das hat das innovative Management intuitiv begriffen - eine
wesentliche Erweiterung des unternehmerischen Verhaltens : bisher nur an den äußeren
Schnittstellen der Organisation zu den Kunden, den Banken, der technologischen Entwicklung
der Konkurrenz angesiedelt, können nun analoge, erfolgskritische Entscheidungen an
beliebigen inneren Orten des Unternehmens lanciert werden.
Ebenso intuitiv versuchen andere, in ihrer Macht schwer zu überschätzende Gruppen vor
allem des mittleren Managements, die Einführung von BK-Systemen und die Umstaltung der
Organisation so lange wie möglich hinauszuschieben. Klassische Organigramme könnten zu
einem großen Teil ersatzlos gestrichen werden - und damit die Arbeitsplätze vieler
Gruppenleiter, deren Funktion darin bestand, personifizierter Garant des Dienstwegs zu
sein -, wenn die Arbeitswelt das differenzierte Wagnis einer Wiederaufbereitung ihrer
Organisation besteht.
Jeder Anwender ist also
gehalten, den "cultural gap" zwischen Äußerung und Nachricht nicht nur in
einem Teilbereich, wie schon oft in der Vergangenheit, sondern erneut, und diesmal
umfassend - multimedial - zu erlernen.
Niemand erwartet mehr beim Hören der Stimme eines Gesprächspartners die versteckte
körperliche Anwesenheit des Sprechers im Apparat ; der durchschnittliche Telefonbenutzer
hat längst gelernt, von dieser naturwüchsigen Voraussetzung zu abstrahieren, und daß er
dies tut, wird ihm erst durch das neuartige technische Angebot des Bildtelefons wieder
bewußt.
Ich erinnere mich aber an Erzählungen meiner Familie, daß zu Anfang dieses Jahrhunderts,
in der Frühzeit des Telefons, diese mental zu bewältigende Abstraktion geradezu Panik
erzeugte. Bürokräfte, die vom Land kamen, konnten zunächst nicht dazu gebracht werden,
ein Telefon zu benutzen : sie waren nicht bereit und imstande, der Stimme eine -
vielleicht unbekannte - Person in ihrer Vorstellung hinzuzufügen.
Ein High-Tech-Kommunikationsmedium setzt nun nicht nur
eine einzelne Sinneswahrnehmung virtuell, sondern mehrere zugleich, tendenziell alle, und
es aktualisiert diese in einem beliebigen - vom Anwender zu bestimmenden -
Mischungsverhältnis ; gerade darin besteht ja seine Leistungsfähigkeit.
Ist sich der Anwender - nachdem eine erste Kenntnisnahme stattgefunden hat - einmal über
die Spannweite der bereitgestellten Möglichkeiten im klaren, und läßt er sich ernsthaft
auf das Erlernen ein, dann entstehen typische Fragen, die deutlich machen, daß der
Anwender nun alles Vorstellbare für möglich hält. Solche Fragen sind etwa :
"Erscheint das, was ich gerade eingebe, auf jedem anderen Bildschirm, egal wo dieser
steht ?" oder : "Kann jeder Andere lesen, was ich geschrieben habe ?" und
resultieren meist aus der Angst, ein möglicher Fehler würde sofort publik, und
erfahrungsgemäß gerügt. - Da die wahrheitsgemäße Antwort auf diese Fragen -
glücklicherweise - lautet : Unter gewissen, vom Anwender jedoch bestimmbaren Bedingungen
: Ja, - steht dieser Anwender vor der Anschlußproblematik, was er sinnvollerweise wollen
soll. Die entstehende Unsicherheit, die Furcht, "etwas kaputt zu machen", führt
schließlich häufig dazu, daß alle Selbstverständlichkeiten bisheriger
Handlungszusammenhänge getilgt werden.
Ein Beispiel : Textverarbeitungsysteme
geben, bei gewissen Schreibmarkenpositionen, die Meldezeile aus : "Drücken Sie eine
beliebige Taste." - Ich bin bei Erstanwendern auf die finale Frage gefaßt :
"Welche Taste ist das denn ?"
Gemeinsam
ist allen diesen indizierten Abläufen die konstitutive Figur der Korrektur : legitim
und erforderlich ist, an immer mehr Arbeitsplätzen, nicht mehr die Anweisung und ihre
Befolgung, sondern das Aufspannen eines Horizonts an Möglichkeiten, deren Prüfung und
Abweisung aller, bis auf genau eine, deren operationale Schließung aber durch den
anschließenden Prozeßschritt bereits wieder falsifizierbar wird : "Die
Frühgeschichte des Unternehmens ist nicht abgeschlossen. Sie ist nicht abzuschließen.
Sie wiederholt sich .. mit jeder unternehmerischen Entscheidung. Es ist immer noch Zeit
für Heldensagen. Allerdings wandelt sich der Stoff, aus dem sie gewebt sind .. "(15) - Dieser Stoff ist die kognitive Verfassung einer beliebig
großen Gruppe durchschnittlicher Anwender, also eines Querschnitts der arbeitenden
Bevölkerung.
Damit aber nähert sich das
angemessene Verhalten in der Arbeitswelt einem Prinzip an, das bisher aus der Arbeitswelt
grundsätzlich ausgeschlossen, in der jeweils privaten Lebenswelt zugelassen, jedoch nicht
bewußt war ; das aber begründendes Motiv und zentraler Prozeß in der Kunst war und ist
: der Einsicht nämlich, daß jedes Handeln, jedes Entscheiden ein Innen konstituiert, dem
ein dadurch geschaffenes Außen zunächst konstitutiv verborgen ist. - Die
Erfolgsgeschichte der modernen Industriegesellschaft ist die Entdeckung, Konstituierung
und Optimierung eines Innen, das immer radikaler jede Form naturwüchsigen Verhaltens nach
außen verbannte und die Legitimität der Kommunikation dieses Sachverhalts lange Zeit
fernhalten konnte.
Die
fortschreitende Optimierung administrativer Prozesse, durch den Einsatz von
Büro-Kommunikationssystemen und ihrer firmenübergreifenden Entsprechungen wie des
Internet, hat zur Folge, daß in die Akte selbst, das Zentrum des
Nicht-mehr-Verstehen-müssens, das aus ihr Ausgeschlossene - die Kommunikation - unter den
Namen Kundenorientierung, workflow, Virtualisierung wieder eingeführt wird.
Unternehmenskultur manifestierte sich
bisher gern in der stromlinienförmigen Befolgung von Kernsätzen, in der Regel vom
Unternehmensgründer oder seinen Nachfolgern verfaßt, und geeignet, das erste,
unternehmenskonstituierende Abenteuer nachträglich zu rechtfertigen ; die Kultur sich
selbst virtualisierender, also über die Figur der Korrektur verfaßter Unternehmen
besteht dagegen in der Gemeinsamkeit des Unterlassens von Handlungen, die im aufgespannten
Horizont zwar möglich sind, aber aus guten Gründen, die ein beliebiger Mitarbeiter
definiert und seine Arbeitsgruppe verantwortet, verworfen werden.
Jeder Anwender eines BK-Systems hat die Möglichkeit, Texte beliebigen Inhalts einer
beliebigen Gruppe von Mitarbeitern zur Verfügung zu stellen ; er wird diese Möglichkeit
jedoch nicht grenzenlos ausschöpfen, sondern sich für eine spezielle Lösung
entscheiden, deren Angemessenheit sich am Erfolg oder Mißerfolg seines Arbeitsprozesses
zeigen wird.
Diese Wiedereinführung des Wagnisses,
der Figur der Unterscheidung und ihrer Beobachtung in die Organisation verweist jedoch auf
ein fundamentaleres Staunen und ist, nach meiner Erfahrung, nicht befriedigend zu
erklären, wenn die Untersuchung bei der Analyse der Arbeitswelt innehält ; die
fundamentale Fassungslosigkeit so vieler Erstanwender, denen ich begegnet bin, erinnert
viel mehr an das philosophische Staunen, daß überhaupt Etwas, und nicht vielmehr Nichts
sei.
Der Anwender
lernt zunächst vor allem Eines : daß nichts mehr fest gegründet und sicher sei, außer
der Schrift ; was aber ist die Schrift, und was kann daran sicher sein ? - Abgeschnitten
von der Welt, soll er akzeptieren, daß dieses Abgeschnittensein das genaue Gegenteil der
Ohnmacht ist : "Hier ist nichts, und dort ist auch nichts. Und aus Nichts hat Gott
die Welt gemacht." (16) - und also eine kognitive
Fassungskraft und Nervenstärke an den Tag legen, welche in der Vergangenheit nicht zu
seiner Arbeitsplatzbeschreibung gehörte.
Das einleitend vorangestellte Zitat zum
Alphabetisierungsgrad technisch entwickelter Industrienationen sollte den Blick auf den
primären Tatbestand lenken, was in firmenweiten Schulungen schnell zum Thema wird : viele
Mitarbeiter sind nicht in der Lage, das Alphabet, wenn sie es überhaupt kennen, in
angemessener Zeit auf der Tastatur wiederzufinden.
Das wesentlichere Fazit dieser Erhebung
ist allerdings, daß die Trainingsstätten der modernen Zivilisation vor alles Eines nicht
einüben, - und dieses Eine stellen die Kulturen der Schrift in den Mittelpunkt ihres
Bemühens : die Bewertung des Setzens von Unterscheidungen überhaupt, der
unausweichlichen "Urschuld", der, wenn überhaupt, nur durch eine Logik des
Wiedereintritts, durch einen aufhebenden Akt des "involved spectator" begegnet
werden kann.
Diese Übung war traditionell Gegenstand
der Religion und der Philosophie, und hat, seit der objektiven Wirklichkeit die
intelligiblen Welten ausgetrieben wurden, in der Moderne seine Heimstatt in der Kunst, am
sprechendsten in der Literatur und ihrer Wissenschaft gefunden. - Dort bleibt sie in ihrer
emphatischen Bedeutung Spiel ; in der Industrie erhält sie allerdings, solange wir nicht
zum Zeitvertreib arbeiten gehen, durch die Notwendigkeit der Reproduktion einen
existentiellen Hintergrund.
Was läge also näher, als die
postindustrielle Arbeitswelt versuchsweise als Sprache, als Literatur am Nullpunkt ihres
Entstehens aufzufassen ?
"DIE KUNST
DES SCHRIFTSTELLERS BESTEHT DARIN, DIE WÖRTER NACH UND NACH DAZU ZU BRINGEN, SICH
FÜR SEINE BÜCHER ZU INTERESSIEREN" (17)
Der Erstanwender weiß nicht, was er
schreiben soll, er weiß nicht, wie er dieses Dokument für sich und andere bezeichnet,
welchen anderen Anwendern er es heute und in Zukunft zur Verfügung stellen wird ; er
weiß nicht, in welchen Ordner das Dokument abzulegen ist, in welches Fach dieser Ordner
gehört. Aber er allein muß alles dies entscheiden, und will doch nur durch das Angebot
seiner Arbeitskraft etwas Geld verdienen .. : "Deine
Einsamkeit/ist ein Alphabet von Eichhörnchen/zum Gebrauch der Wälder " zitiert
Derrida aus "Je bâtis ma demeure" (18), die
kognitive Haltung des Dichters vor dem ihm zuwachsenden Wort beschreibend, und er fährt
fort : "Die ganze historische Unruhe, die ganze poetische Unruhe .. ruht sie nicht
auf dem friedlichen und stillschweigenden Grund einer Nicht-Frage ? .. Die Nicht-Frage,
von der wir sprechen, ist die unangefochtene Gewißheit, daß das Sein eine Grammatik ist
; und die Welt ein durchgängiges Kryptogramm, das mit Hilfe einer Einschreibung oder
einer poetischen Entzifferung konstituiert werden muß ; daß das Buch ursprünglich ist,
dem Buch angehört, ehe es ist und ehe es zur Welt kommt, und nur geboren werden kann,
indem es das Buch anläuft, nur sterben kann, indem es im Hinblick auf das Buch scheitert
; und daß das gelassene Ufer des Buches immer Ankunft ist." (19)
In der Macht des Buchs - solange es nur
eines, und dessen Exegesen gab - erhielt sich die Provokation der Verschriftlichung der
Wirklichkeit, das Setzen von Zeichen, die Verwandlung ihrer Gegenstände in das
Bezeichnete, und deren Kybernetik lebendig : es blieb ja so vieles außerhalb des Buchs
existent, was ihm widersprach .. Seine Weiterentwicklung bis zur Akte, dieser Endlösung
des Verstehens, ist die Geschichte einer Engführung der Sinne, die sich heute als
MultiMedia wiederentdecken, einer eschatologischen Reduzierung aller Wahrnehmungen auf die
Abbildbarkeit durch die Schrift.
Giesecke hat an der sozialen Gemeinschaft
des 15. und 16. Jahrhunderts untersucht, welchen Einfluß die Erfindung und Verbreitung
des Buchdrucks als Schlüsseltechnologie auf die Konzeption des "gültigen
Wissens", auf die Selbstbilder der Menschen und die daraus resultierende Verhaltenssteuerung hatte. - Die hier interessierende
Implikation jener gesellschaftlichen Entscheidung, gültige Information müsse durch das
Nadelöhr der Typographie passen, ließ alles Wissen, das an die orale,
gestaltwahrnehmende oder skriptographische Übermittlung gebunden war, langsam in
Vergessenheit, oder ins gesellschaftliche Abseits geraten. Das domestizierte Auge, dem
linearen Informationsangebot folgend, wurde zum prämiierten sozialen Organ. - Die
emotionale Aufladung der entstehenden Literatur der Neuzeit und ihre emanzipatorische
Rolle ist überhaupt erst zu verstehen, wenn bewußt bleibt, welchem Darstellungsdruck
durch die zurückgestuften Sinne die Typographie seither unterlag. - Es war nur
konsequent, daß die klassische Moderne - verfolgbar z.B. in der Geschichte der modernen
Lyrik - über Baudelaire, Mallarmé bis Dada die Schriftlichkeit synästhetisch auflud
und, weil die Technologien zur Umsetzung noch fehlten, schließlich sprengte (20). Dort noch aporetisch, bieten die heute verfügbaren
MultiMediasysteme an, die ausdifferenzierten Sinne Schritt um Schritt wieder in die
Geschichte der Informationsabbildung eintreten zu lassen, und setzen sich derzeit mittels
umfassender Vernetzung an die Spitze der wisenschaftlich-technologischen Gestaltung der
Zivilisation.
Diese kurzen Verweise, die hier nicht
weiter ausgeführt werden können, sollten deutlich machen, daß der lernende Anwender in
erster Linie nicht vor technischen, sondern vor kognitiven Problemen steht. Er hatte
gelernt, sich unter fragloser Benutzung seines Wissens von der Welt neuartiger technischer
Hilfsmittel zu bedienen. Er konnte und mußte bisher aber noch nicht lernen, die
Voraussetzungen dieses fraglosen Wissens, also die Gestalt seines eigenen kommunikativen
Verhaltens explizit zu machen, diesem Wissen eine reproduzierbare und handhabbare Gestalt
zu geben und diese Gestalt schließlich den Bedingungen eines vom Markt bereitgestellten
Kommunikationsmediums einzupassen. Diese Aufgabe provoziert den durchschnittlichen
Anwender in Bereichen, die er bisher als persönliche Fluchtburg betrachten konnte, und er
reagiert darauf, wie er vielleicht auf die Anforderung reagieren würde, seine Schlaf-
oder Frühstücksgewohnheiten einer allgemein kommunizierbaren Norm zu unterwerfen : mit
Vermeidung und Verweigerung.
Dies ist besonders mißlich, weil
gelingende Kommunikation nicht zu haben ist, wenn die Beteiligten nicht kommunizieren
wollen. Nun bedroht dies allerdings den Unternehmenserfolg.
In der betrieblichen Praxis führte die
Feststellung einer solchen Bedrohung zu der vom Management im Schlaf beherrschten Reaktion
: "Austausch des schadhaften Teils". - Dieses "schadhafte Teil" kann
der einzelne Anwender sein ( Ergebnis : Wiederholung des Lernvorgangs mit einem neuen
Mitarbeiter ), oder der zuständige Verantwortliche ( Ergebnis : Wiederholung der
Einführungsphase mit einem neuen Konzept ), oder die benutzte Hard- und Software. Hier
könnte das Ergebnis jedoch heißen : Ende der Existenz des Betriebs ; denn die Kosten
für Büro-Kommunikationssysteme sind inzwischen derart hoch, daß ein Betrieb bei der
Einführung eines BK-Systems zum Erfolg verdammt ist.
Daß der Fehler in einem unbegriffenen
"schadhaften Ganzen", einer unzureichenden Konzeption des Unternehmens liegen
könnte, ist eine Vorstellung, mit der bisher erst wenige, mit Informationsmanagement
betraute Führungskräfte etwas anfangen können. Sie verwandeln sich damit ohne Verzug
aus einem Teil der Lösung in einen Teil des Problems.
Die Praxis zeigt nach einigen Jahren
Laufzeit eines BK-Systems oft folgendes Bild : um eine Investitionsruine herum bilden sich
neue, nirgends dokumentierte Kommunikationsformen ; die Anwender umgehen entweder das
BK-System, indem sie es offen ablehnen oder aber nur rudimentär, als innerbetriebliches
Alibi benutzen. Oder sie überholen es, indem versierte DV-Nutzer demonstrative
Nutzungsformen entwickeln, was die durchgängige Akzeptanz bei der Masse der
durchschnittlichen Anwender noch sicherer verhindert.
Hier enden nach meiner Erfahrung, die mir
von Organisatoren vieler Firmen bestätigt wird, die Möglichkeiten traditionellen
betriebswirtschaftlichen Vorgehens ; und hier setzen die Möglichkeiten
kommunikationstheoretischer Analyse ein.
Ich möchte drei Thesen zur
Diskussion stellen, die verdeutlichen sollen, welche kommunikations- und
handlungstheoretischen Implikationen durch die Erfindung und Verbreitung elektronischer
Multi-user-Medien entstehen.
Erste These :
Die Nutzung von Kommunikationsmedien
zieht eine qualitativ neuartige Alphabetisierung für breite Teile der Bevölkerung nach
sich.
Die Geschichte der Medienrevolutionen
kennt bisher die Übergänge von der oralen Tradierung über die Verschriftlichung von
Information bis zu den Speicher- und Verbreitungsformen des Buchdrucks. Jede Stufe
bedeutete das Erlernen einer Kodierungsform, die zunächst, wie dies besonders für den
letzten Umbruch, den Buchdruck, gut nachvollziehbar ist, als artifizielle Hoch- und
Spezialsprache entwickelt wurde und einen langwierigen Standardisierungsprozeß
erforderlich machte.
Dieser Prozeß verlangte, das Weglassen der Wahrnehmungen verschiedener Sinne (z.B. der
taktilen) zu legitimieren und durchzusetzen. Kein durchschnittlicher Leser wird es heute
als Mangel eines Textes betrachten, daß er, etwa beim Lesen der Beschreibung eines
dreidimensionalen Gegenstands, auf das Anfassen und Befühlen dieses Gegenstands
verzichten muß. Er hat im Gegenteil gelernt, die taktile Wahrnehmung einer verbalen
Beschreibung aus seiner Lebenserfahrung hinzuzufügen, und würde es unverständlich
finden, wenn ihm zusätzlich der konkrete Gegenstand zur Begutachtung vorgelegt würde.
Zur Alphabetisierung im Zusammenhang mit
der Verbreitung des Buchdrucks gehörte nicht nur das Erlernen einer Schrift und die
Identifizierung von Lauten und grafischen Symbolen, sondern mehr noch die kognitive
Fähigkeit, auf Ausschnitte des naturwüchsigen Lebenszusammenhangs verzichten zu können,
da dieses neu bereitstehende Medium sie nicht abbilden konnte. Die Verschriftlichung aller
Information und Kommunikation ist seitdem so selbstverständlich geworden, daß bereits
die Feststellung, die Abbildung durch Sprache und Schrift sei nicht notwendigerweise der
einzig mögliche sinnvolle Code, mit Unverständnis begegnet wird.
Ein elektronisches Kommunikationsmedium
versucht sich nun nicht nur, wie der Buchdruck, an der Kodierung von Information, sondern
an der Nachbildung von Handlungszusammenhängen ; d.h., eine sinnvolle Nachricht muß alle
erforderlichen Daten enthalten, die ein zweiter, n-ter Anwender benötigt, um eine daran
anschließende, sinnvolle Handlung ausführen zu können. - Die heute anstehende
Alphabetisierung steht also vor der Aufgabe, Handlungsanweisungen allgemeingültig
kodieren zu können. Dies kann erst dann erfolgreich sein, wenn Hersteller wie Anwender
sich Klarheit darüber verschafft haben, welche kognitiven Prozesse gelingende
Kommunikation begleiten.
Daß heute auf den Markt gebrachte
BK-Systeme diesen Anforderungen nicht genügen, ist tägliche leidvolle Erfahrung vieler
Millionen von Anwendern. Dies läßt sich nicht nur damit erklären, daß Hersteller
niemals das derzeit beste mögliche Produkt anbieten, sondern jeweils ein Produkt, dessen
Verbesserungen gerade ausreichen, um eine Kaufentscheidung nahezulegen. Die Gestaltung von
Icons, Menüabfolgen, Befehlskürzeln, Meldezeilen, Hilfetexten, Handbüchern .. läßt
aber nach meiner Einschätzung nur einen Schluß zu : die anwenderfreundliche
Benutzeroberfläche gibt es nicht nur bisher noch nicht, sondern es existiert auch kein
zusammenhängendes Wissen über ihre potentielle Form. - Ein ganz
entscheidender Grund dafür liegt darin, daß Benutzeroberflächen ebenso gestaltet werden
wie in früheren Zeiten eine Anweisung erlassen wurde - vorgegeben und beschrieben wird
meist nur ein "marked state" (21), unmittelbar
gefolgt vom nächsten. Erwarten würde der Anwender einen Hinweis, welchen "unmarked
state" er erzeugt, wenn er die indizierte Operation durchführt. Da er darüber meist
nichts erfährt, auch - wie der Käufer der Bohrmaschine - nicht gelernt hat, daß er nach
Löchern fragen müßte, tappt er von nun an im Dunkeln, begleitet nur von seinem
Grundgefühl, daß ihm etwas Wesentliches fehle - dem Prinzip des unbedingten Wagnisses
gerade da folgend, wo er das bedingte Risiko erwarten darf.
Zweite These :
Kommunikation als durchgängiges
Organisationsprinzip bringt es mit sich, daß die traditionellen Abteilungs- und
Machtverhältnisse nicht mehr wie bisher aufrechtzuerhalten sind.
Ich erinnere mich gern an den Fall eines
Abteilungsleiters, der für eine einzurichtende abteilungsweite Ablage nur den ihm
unterstellten Sekretärinnen und Sachbearbeitern Zugriffsrechte einrichten ließ. Etwas
später stellte er fest, daß er damit sich selbst von jeder Informations- und
Handlungsmöglichkeit ausgeschlossen hatte. - Er stand nun vor der Wahl, entweder auf die
Nutzung der neuen Technologie zu verzichten oder aber die Struktur seiner
Arbeitsorganisation zu überdenken; und da ihm der generelle Nutzen der Einrichtung
deutlich war, entschied er sich für die zweite Alternative.
Solche Vorgänge tragen zum sozialen
Lernen einzelner Abteilungen erheblich bei, da sie keinem der Betroffenen verborgen
bleiben, und beeinflussen schließlich die Unternehmenskultur, bis hin zum
unternehmerischen Selbstverständnis.
Zwei Beispiele sollen dafür stehen, wie
die derzeit diskutierte Entwicklung ganzer Lieferanten-Kunden-Ketten, mit der fernen
Perspektive der umfassenden Kreislaufwirtschaft, nicht nur die innerbetriebliche
Hierarchie, sondern schrittweise auch das traditionelle Verständnis des Unternehmens als
"marked state" auflöst :
- Ein Schritt
auf dem Weg, sich selber transparent zu werden, kann in der - CD-basierten und/oder im
Netz verfügbaren - Konzeption und Herstellung einer Image-Selbstbeschreibung für die
Welt da draußen sein : jede denkbare Schnittstelle mit Kunden im Unternehmen muß bei der
vorhergehenden Analyse aufgefunden, und dazu angehalten werden, die Frage zu beantworten,
wie sie selbst von außen, von ihren Kunden gesehen werden will. Vor allem ist sie
anschließend gefordert, sich im Hinblick auf diese kognitive Wahrnehmung kommunikativ zu
restrukturieren - Die Erfahrung mit der kürzlich abgeschlossenen Ausarbeitung einer
solchen Image-CD (22) zeigte, daß bereits der Versuch, ein
solches Bild zu entwerfen, zu hochinteressanten Interessekonflikten zwischen den
innovativen und den beharrenden Kräften im Unternehmen führt. Andererseits trägt dieses
Produkt zur Beschreibbarkeit der wertschöpfenden Prozeßketten des
wiederaufbereiteten Unternehmens für potentielle Kunden erheblich bei, und
die Möglichkeit, an jeder beliebigen Stelle eines Kommunikationspartner angeboten zu
bekommen, der über EMail, Fax, Telefon sofort erreichbar ist, ermöglicht ganz neue
Geschäftsmöglichkeiten.
- Plattformen
wie etwa die "Electronic Mall Bodensee" dienen "als virtuelles Forum für
Wirtschaft und Gesellschaft .. Über diese Plattform können Waren und Dienstleistungen
von jedermann jederzeit angeboten und nachgefragt werden. Zugleich bietet das
"Bodensee-Netz" einen Platz des Zusammentreffens und des Informationsaustausches
für Teilnehmer der Region untereinander, aber auch mit beliebigen Partnern
weltweit." (23)
Solche - sind es Dienstleistungen ? Sind
es Produkte ? - virtuellen Orte können auch anderen Unternehmen Hilfestellung bieten, die
mit ihrer traditionellen Asymmetrie zwischen Innen und Außen nicht mehr glücklich sind,
und deshalb sich der Aufgabe stellen, zu Beobachtern ihrer selbst zu werden.
Dritte These :
Es zeigt sich, daß "natürliche
Sprachen" - d.h. selbstverständlich gewordene, artifizielle Allgemeincodes - für
die Abbildung differenzierter kommunikativer, d.h. handlungsbezogener Sachverhalte
unzureichend sind.
Um auch nur die "Gegenstände"
handlungsorientierter Sachverhalte - etwa im Menübereich der Elektronischen Post -
hinreichend zu bezeichnen, fehlen nicht nur z.T. die Begriffe ; schwerer wiegt, daß
Festlegungen wie "Nachricht", "Schriftstück", "Dokument",
"Beigefügter Text", "Mitteilung" usw. in Menüs, Meldezeilen,
Hilfetexten, Handbüchern mit ständig wechselnden Begriffsinhalten verwendet werden.
Ganze Übersetzergruppen ( meist liegt ein englischsprachiger Text zugrunde, dessen
ursprüngliche terminologische Qualität zusätzlich dahingestellt sei ) verlassen sich
auf ihr Sprachgefühl, bzw. ihre Erfahrung mit technischen Übersetzungen von Produkten,
und erzeugen auf kürzestem Weg ein begriffliches, also Handlungschaos. Durchgängige
Codes existieren nicht einmal für die unterschiedlichen sprachlichen Festlegungen einer
einzigen Firma, geschweige denn Beschreibungen, die innerhalb einer natürlichen Sprache
insgesamt gebraucht werden. - Für weitere Phänomene ( z.B. einen vom "System"
- also keiner natürlichen Person - ausgelösten Standardbrief ) existieren überhaupt
keine natursprachlichen Einträge.
Die DV-Fachsprache eignet sich als Basis
einer künftigen, kommunikationsabbildenden lingua franca noch weniger ; sie bewegt sich
meist nahe an den Kürzeln für programmtechnische Sachverhalte, und ihr fehlen sowohl die
Begriffe für den betrieblichen Arbeitsablauf, wie für lebensweltliche Zusammenhänge. -
Derzeit steht der Organisator noch häufig vor dem Umstand, daß DV-Sprache von ihren, mit
kirchenlateinischer Arroganz auftretenden, Vertretern zur Durchdrückung von
Partikularinteressen mitbraucht wird. Ein Gesprächsversuch zwischen "der DV"
und Anwendern findet selten statt, ist dann oft unfreiwillig hochkomisch, endet fast immer
unfruchtbar und zieht nachhaltige beiderseitige Verstimmung nach sich, weil den
Gesprächspartnern die Kategorien zur Beschreibung des Mißlingens abgehen.
Die Aufgabe einer durchgängigen
terminologischen und normierenden Systematisierung der nebeneinander existierenden
Benennungs- und Bezeichnungssysteme von Produkten und Dienstleistungen eines Unternehmens
in Entwicklung, Produktion, Marketing, Vertrieb .. und ihrer DV-gestützten gegenseitigen
Übersetzbarkeit - also die stringente sprachliche Gestaltung der "marked
states" dieses Unternehmens ! - wird ebenfalls gerade erst erkannt.
Man darf gespannt sein, ob sich auch hier
vielleicht - wie bei der Kodierung des Hochdeutschen vor 400 Jahren - eine
"Übereinkunft der bewährten Skribenten" durchsetzt - heute würde man dazu
"Industriestandard" sagen.
AUF DER SUCHE NACH EINER ARCHÄOLOGIE DES LERNENS
Zum Abschluß dieser
Annäherung zwei Statements zu den praktischen Konsequenzen : 1. Die bisherigen Ausführungen zum Umgang mit
traditionellen bzw. innovativen Strukturen lassen vor allem eines erkennen : der Umgang
mit Lerninhalten muß revidiert, und professionalisiert werden.
Die neuere Lernpsychologie hat - als
Gegenkonzept eines Lernens, für das der "Nürnberger Trichter", die klassische
Einbahnstraße ( oder vielmehr Sackgasse ) von Anweisen und Befolgen steht - Vorschläge
gemacht, wie ein allgemeines Lernmodell aus der Perspektive der kognitiven Psychologie
speziell in Unternehmen beschaffen sein könnte :
"Im Gegensatz
zum Behaviourismus, der Lernen in Kategorien beobachtbaren Verhaltens beschreibt, richtet
der Informationsverarbeitungs-Ansatz der kognitiven Psychologie sein Interesse gleichsam
nach innen. Für ihn hat Lernen sehr viel mit Denken und den Grundlagen zielgerichteten
Handelns zu tun. In der Betonung der Bedeutung gefühlsbezogener Faktoren wie die der
Motivation, des Lernklimas und sozialer Faktoren des Lernens zeigt sich überdies, daß
der Informationsverarbeitungs-Ansatz ein eher ganzheitliches Lernmodell vertritt. Denken,
Fühlen und Handeln sind im kognitionspsychologischen Lernansatz demnach die fundamentalen
Aneignungsstrategien, die der Lerner entweder als einzelner oder in sozialer Gruppierung
zur Verfügung hat, um Neues zum inneren Besitz werden zu lassen." (24)
- Es kann hier nur darauf hingewiesen
werden, daß die kognitive Figur der Korrektur geeignet wäre, die Relevanz von
Wissensinhalten der Hirnphysiologie, der Denkpsychologie sowie der Gedächtnistheorie bei
der Ausarbeitung einer Pragmatik des kommunikationsorientierten Handelns innerhalb der
Neuen Medien zu bestärken.
2. Das umfassendere Modell, das der
pragmatischen Ausarbeitung der Kognitionspsychologie zugrundeliegt, wurde bereits in den
40er Jahren in der genetischen Erkenntnistheorie Piagets vorgelegt.
Piaget kommt auf der Grundlage seiner
ausgebreiteten Erhebungen, speziell über die zeitliche Abfolge der Entwicklung und
Verknüpfung kognitiver Strukturen bei Kindern in den ersten Lebensjahren, zu folgendem
Schluß :
"Das klarste Resultat der
genetischen Forschungen besteht aber in der Einsicht, daß das rationale Denken in der
Entwicklung des Subjekts einen Ankunftspunkt und nicht etwa einen Ausgangspunkt bildet.
Der reflektierten und begrifflichen Intelligenz geht die praktische und sensomotorische
Intelligenz voran, die selbst die Entwicklung der Wahrnehmung und der Motorik fortsetzt.
Dies ist die fundamentale Tatsache, die eine Revision der Begriffe nötig werden läßt,
die man sich gewöhnlich und illegitimerweise vom erkennenden Subjekt und vom erkannten
Objekt gemacht hat. Man muß das Problem der Grenze zwischen dem Subjekt und dem Objekt
schon bei der Handlung und lange vor dem Auftauchen der reflektierenden Vernunft stellen.
Das erkenntnistheoretische Problem stellt sich bei der Adaptation des Neugeborenen, bei
der Koordination seiner perzeptiven Bewegungen, bei der Manipulation der Gegenstände
seiner Umgebung ... Der Fortschritt der genetischen Untersuchung des Denkens besteht
darin, daß sie die großen Probleme der Vernunft und der Erklärung - wie auch die der
logischen Struktur der Intelligenz - um eine Stufe zurückversetzt, somit vom Bereich der
Reflexion in den Bereich der Handlung, und damit auf ihre Quelle zurückgeht. Wenn ein
Verhalten, das darin besteht, sukzessive den sichtbaren Verschiebungen Rechnung zu tragen,
mit dessen Hilfe das Kind von 10 oder 12 Monaten ein verschwundenes Objekt sucht, auf eine
Reihe von neuen Situationen verallgemeinert und mit andern
Verhalten oder Handlungen koordiniert werden kann, wird dadurch die fundamentale
Konsequenz in volles Licht getaucht, daß ein Schematismus der Handlung existiert (oder
der sensomotorischen Intelligenz ), der den logischen Schematismus des Denkens ankündet
und diesem vom funktionellen Gesichtspunkt aus ähnlich ist ... Alle
erkenntnistheoretischen Fragen der Beziehungen zwischen dem Subjekt und dem Objekt stellen
sich deshalb schon auf der Ebene der Handlung." (25)
Die Übertragung der Erkenntnisse der
genetischen Erkenntnistheorie sowie der kognitiven Lernpsychologie zunächst auf die
Gestaltung von Büro-Kommunikationssystemen, in einem nächsten Schritt auf die
Arbeitsorganisation eines Unternehmens, würde für ein innovatives Konzept entwickelter
Industriegesellschaft überhaupt bedeuten :
die Unternehmensorganisation wäre im Licht einer erkenntnistheoretischen Ergonomie und
ihrer Orientierung an der hirnphysiologischen, lernpsychologischen und ontogenetischen
Beschaffenheit ihrer Anwender zu restrukturieren.
Günter
Schulz im September 1996
Günter Schulz:
Studium der Literaturwissenschaft
Spielfilm "Ente oder Trente"
Koordinator "Literarische Sommeruniversität Castellina in Chianti"
Organisator Bürokommunikation der Krone AG
Laufende interdisziplinäre Projekte in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst
(1) http://www.wi1.uni-erlangen.de, zitiert nach :
io Management Zeitschrift 65 (1996), Nr, 1/2, S. 6
(2) Der Tagesspiegel, 8.9.1996, S.9
(3) Dirk Baecker, Die Form des Unternehmens, Frankfurt/M 1993
(4) Baecker, a.a.O. Seite 71f
(5) Baecker, a.a.O., S. 24 ff
(6) Jaques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main
1976)
(7) Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine
historische Fallstudie über die Durchstzung neuer Informations- und
Kommunikationstechnologien, Frankfurt/Main 1991
(8) K.W. Döring, Praxis der Weiterbildung. Analysen - Reflektionen -
Konzepte. Weinheim 1991
(9) Jean Piaget, Gesammelte Werke, Band 1-10, Stuttgart 1975
(10) Baecker, a.a.O., S. 23
(11) Baecker, a.a.O., S. 80 ff.
(12) Baecker, a.a.O., S. 84
(13) Baecker, a.a.O., S. 70
(14) Hans Zangl, Durchlaufzeiten im Büro, - Prozessorganisation und
Aufgabenintegration als effizienter Weg zur Rationalisierung der Büroarbeit mit neuen
Bürokommunikationstechniken, Berlin 1987
(15), Baecker, a.a.O., S.68
(16) nach einer schwäbischen Anekdote
(17) Edmond Jabès : Je bâtis ma demeure, Paris 1959
(18) Jaques Derrida, La Clef de Voûte
(19) J. Derrida, a.a.O., S. 17 f.
(20) Günter Schulz, Sprachform und Darstellungsinteresse, Berlin 1977,
Masch.schr.
(21) Baecker, a.a.O. S. 231 ff.
(22) Image CD der Krone AG, Herstellung: Interdisziplinäre Arbeitsgruppe
der Firma Krone AG und der Firma Pixelpark, Berlin 1995
(23) Arbeitspapier des IWI/Institut für Wirtschaftsinformatik der
Hochschule St. Gallen, 1995, S. 1
(24) K.W.Döring, a.a.O., S. 90
(25) J. Piaget, Die Entwicklung des Erkennens III, Stuttgart 1975. S. 259
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