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by Larry Steindler
steindler@t-online.de

Verteilte Identitäten:

Sherry Turkle's Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet,
New York, London, Sydney etc. (Simon & Shuster) 1995, 348 Seiten,
(Hln., $25), ISBN 0-684-80353-4

"Surfen im Internet" ist in Europa als eine neue Art der Information und Kommunikation bereits politisches Tagesthema. Immer mehr Menschen nehmen mit Hilfe automatisierter Einwähl- und Rechercheverfahren am Internet anteil. Worin liegt aber der Reiz dieser oft stundenlangen Bildschirmbeschäftigung? Sind es die Spiele- und Chat-group-Aktivitäten, die weit über eine passive Lektüre hinausgehen. Sind es veränderte Prozesse der Kommunikation und der Selbstwahrnehmung, die unser Verhalten viel stärker beeinflussen als wir denken? Oder berührt das Internet sogar Instanzen, die tief in unserem Inneren liegen?

Sherry Turkle, Professorin für Wissenschaftssoziologie am Massachussets Institute for Technology (MIT), entwickelt in ihrem neuen Buch eine Reihe von Thesen. Als gründliche Kennerin verschiedener Internet-Aktivitäten bewegt sie sich auf Grenzwegen zwischen Anthropologie, Psychologie und Sozialwissenschaft. Auch dem Internet-Neuling vermittelt ihre Kulturdiagnose ein Bild von den gesellschaftlichen Konsequenzen und philosophischen Implikationen der globalen Vernetzung. Ihr Beitrag besteht in einer "inner history of Technology", d.h. in Entwicklungsmomenten der Computerkultur, die auch wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte berühren (S. 321ff.). Methodisch hat die Autorin internationale Vergleichsanalysen sowie etwa 1000 Personenbefragungen (fast 300 davon mit Kindern) durchgeführt. Darüber hinaus hat sie Online-Sitzungen protokolliert, die Ergebnisse von Fachkonferenzen und - als klinische Psychotherapeutin - auch klinische Gespräche ausgewertet. Soweit es ihren wissenschafts- und ideengeschichtlichen Interessen entgegenkommt, greift sie auf diese reichhaltigen Forschungsergebnisse zurück und bietet damit eine bislang selten dargelegte, empirisch fundierte Kulturkritik der Informationsgesellschaft.

Seitdem das Internet Millionen von Privatpersonen erreiche und sich Tausende in vielfältigen Spiel- und Aktionsgruppen untereinander austauschen, habe der PC von einem Medium, mit dem sich Denkmodelle "im stillen Kämmerlein" erproben lassen, einen Qualitätssprung gemacht. Unser vertrautes Werkzeug für Texterstellung, Flug- und Schiffsnavigation oder Architektur entpuppe sich nun als Kommunikationsmittel, das ungeahnte Kontaktmöglichkeiten - "virtuelle Welten" - biete. Eine neue "Kultur der Simulation", so Turkle, beeinflusse unsere Vorstellungen über Geist und Körper, Selbstbewußtsein und Maschine (S. 10).

Durch den Methodentransfer in den Wissenschaften, für die der Computer oft wesensbestimmend geworden sei, weichen die Grenzen zwischen dem Wirklichen und dem Virtuellen auf - eine der Hauptthesen des Buches. Das Internet exemplifiziert für die Autorin diese Tendenz auf einer gesellschaftlichen Ebene.

Ihre besondere Aufmerksamkeit wendet Turkle daher den Internet-Rollenspielen zu. Interaktive Funktionen und Real-time-Nutzung erlauben es dabei den Teilnehmern, Geschichten zu erfinden, ihre eigenen "Drehbücher" zu schreiben und sich zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Kontexten und Spiele-Gruppen zu bewegen. Diese Möglichkeiten gehen nach Turkle über die Frage des Computereinsatzes in der Wissenschaft hinaus und betreffen das Individuum: die Identität des Subjekts und Formen der Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Einleitend beschreibt Turkle Typologie und Aktionsformen von Netz-Spielen. Sie macht deutlich, daß sich mit dem Internet Veränderungen des Selbsbezuges eröffnen, die theoretisch durch Philosophen und Analytiker wie Jacques Lacan, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari bereits formuliert worden seien. Diese Theorien problematisierten bereits vor mehr als 20 Jahren die Einheit des Subjekts, die Autonomie des Ich und die entsprechenden philosophischen Traditionen als Ergebnisse bürgerlicher Ideologie von Rationalität.

Nach Turkle habe nun die Wirklichkeit unserer aktuellen Kommunikation im Internet die Theorien der Poststrukturalisten von damals bestätigt. Begeistert revidiert sie dabei ihr zum Teil negatives Bild von der Philosophie und spricht von "computer-mediated experiences bringing philosophy down to earth" (17). Vor diesem Hintergrund erscheint ihr auch der Bedeutungsverlust von Texten im Sinne von Derrida plausibel: Texte erhalten erst im Kontext zu anderen Texten ihre Bedeutung. Dies war natürlich auch bereits vor Derridas Einsichten der Fall und wurde in der Wissenschaft vorausgesetzt. Neu und möglicherweise etwas undurchschaubar erscheinen Turkle aber die veränderten Konsequenzen der Zuschreibung und der Autorisierung. Wer ist Sender, wer Empfänger? Wann entwickelt der "Input" eine Eigendynamik, die wieder auf den Menschen einwirkt und wie nehmen wir diese Art der Wirkung von "Maschinen" wahr?

Die Vermittlung menschlicher Umgangsformen durch Technik und die überragende Rolle des Computers haben für Turkle eine kulturelle Dimension angenommen, die näher zu untersuchen sei. Dabei fungiert der Computer für die Autorin als Testobjekt, das eine theoretische Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine erlaube und zu einem Überdenken bisheriger subjektzentrierter Identitätsvorstellungen herausfordere.

Gegenüber den Anfängen der PC-Technologie zu Beginn der achtziger Jahre seien nach Turkle bereits jetzt deutliche Veränderungen unserer Einschätzung des Computers eingetreten. Er sei mehr als nur "Rechner", mehr als tagtägliches Handwerkzeug. Er unterstütze die Orientierung in Beruf und Alltag und beeinflusse die Urteilsfähigkeit, die Vorstellungen und den Umgang mit anderen Menschen (26), in dieser Generalisierung eine etwas weitgehende These, die aber bezogen auf die Forschungsinteressen der MIT-Forscherin plausibel erscheint.

Nicht nur die Zufallsbekanntschaften in den Chat-groups des Internet beweisen die Zunahme virtueller Handlungsweisen und eine neue Kultur der Simulation, sondern auch die Arbeitsumgebung auf dem PC-Bildschirm selbst. Der PC nehme eine Schnittstellenfunktion ein, die bereits einen eigenen Wert ("Interface-value"; 23f.) darstelle und als eine geistige Form der "verlängerten Hand" eine verführerische Macht ausübe (30ff.).

Unter diesen Aspekt stellt die Autorin auch den ersten Teil ihres Buches ("The Seductions of the Interface"). Die technische Voraussetzung der enormen Auswirkungen des Computers auf unseren Alltag bestehe in objektorientierten Bedieneroberflächen, welche eine Simulation von Tätigkeiten und spielerisches Einüben von Programmfunktionen bieten. Dialoggestützte Programme sprechen die Intuition der Nutzer an. Ähnlich wie in zwischenmenschlichen Arbeitsprozessen "verhandle" der Mensch mit dem Computer darüber, in welcher Weise vorzugehen sei. Turkle unterscheidet dieses "humane" Moment als postmoderne Zugangsweise zum Computer von jener der Moderne, in der noch Analyse und Erklärung maschinen- und prozessinterner Programmfunktionen im Vordergrund der Beziehung zwischen Mensch und Computer gestanden haben (36). Die Autorin zeigt die einzelnen Schritte dieser Entwicklung anhand der Aufeinanderfolge unterschiedlicher PC-Nutzungskonzepte und Marketingstrategien auf und weist den Windows-orientierten Programmen eine Mittelstellung zwischen der zur Analyse auffordernden "DOS-Welt" und der als pure Oberfläche angebotenen, praktisch unhintergehbaren "MAC-Welt" zu.

Der PC sei mittlerweile als Quelle des Lernens und der menschlichen Selbstentfaltung anzusehen. In ihrer Kultursoziologie der Computernutzung zieht die Autorin daraus die übertriebene, aber dennoch bemerkenswerte Konsequenz, daß die Kultur der Simulation die des Messens und Berechnens überwunden habe (41f.). Postmoderne Überlegungen haben nach Turkle den Begriff der "Welt ohne Ursprung" geprägt. Sie teilt diese naive Vorstellung von einer neuen Voraussetzungslosigkeit in der Wissenschaft, wenn sie den Computer zur "Simulationsmaschine" deklariert und ihm die reale Entsprechung dieser als postmodern bezeichneten Theorie zuweist.

Nicht zu beanstanden ist dagegen ihre These, daß der Computer eine Plattform darstelle, auf der neue Erfahrungen spielerisch gewonnen werden. Inwieweit diese Erfahrungen aber, wie Turkle behauptet, zugleich auch "sozial" seien, dürfte im Gegensatz zu ihrer Gesamteinschätzung vom Einzelfall abhängen.

In der neuen Kultur der Simulation trete das Verstehen weniger durch Analyse als durch "Navigation in virtuellen Welten", d.h. Probehandlung, zutage (49). Den gedanklichen Ursprung dieser Alternative findet die Autorin in der traditionellen Unterscheidung zwischen abstraktem und konkretem Denken. Seit Platon sei dem abstrakten Denken ein höherer Status zugewiesen worden als dem durch gegenständliche Erfahrung vermittelten konkreten. Dies komme auch durch die große Bedeutung der Formalisierung und der regelgeleiteten Methoden in den Wissenschaften zum Ausdruck. Mit Hilfe von Piaget und Lévi-Strauss erinnert Turkle jedoch daran, daß auch die abstrakte Art zu denken durchaus auf Lernprozessen beruhe und daher keineswegs unabhängig von Erfahrung sei (55). Insbesondere durch den spielerischen Umgang mit dem Computer habe das Konkrete eine Aufwertung erfahren, die das allgemeine Wissenschaftsverständnis und geschlechtsspezifische Unterscheidungen in Hinblick auf "harte" und "weiche" Forschung verändert habe. Der intuitive, simulierende Umgang mit dem Computer ist für Turkle Modell und Motiv zugleich für lebenspraktische, auf Probehandlung beruhende Problemlösungsstrategien sowie für Objektnähe und Kontextualität in der Theoriebildung (56-58).

Augenfällig wird dies an der von ihr referierten Kontroverse zwischen Physikern und Fachdidaktikern in bezug auf die Rolle des Computers im Experiment. Inwieweit sollen die Studenten noch klassische Experimentalmethoden beherrschen, wenn die Erhebungsdaten heute meistens durch Modellierung am Bildschirm direkt weiterverarbeitet werden? Wie auf anderen Gebieten seien auch hier progressive Ansätze erkennbar, die deutlich für eine simulierende Vorgehensweise eintreten, und solche, die im PC lediglich den Datenverwalter sehen (65f.).

Die Problemdimension vertiefend, zitiert die Autorin mehrere Forschermeinungen zur Realitätsauffassung in der Physik. Welche empirische Basis sollen Studierende kennenlernen? - "Echte" Meßdaten physikalischer Gegenstände oder nur eine durch den Computer "vermittelte" Wirklichkeit? Turkle räumt ein, daß das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Simulation komplex sei. Sie vertritt aber nachdrücklich die These, daß wir bereits in einer Kultur der Simulation leben, in der z.B. auch PC-Spiele keine eindeutigen Lösungsmöglichkeiten bieten, und in der Extrapolation, Hypothesen- und Modellbildung immer mehr zu Alltagsmethoden geworden seien. Auch das politische Handeln beruhe wesentlich auf Modellen, die Annahmen enthalten, welche erst durch die Praxis verifiziert oder falsifiziert werden. Turkles Fazit dieser Überlegungen: "We turn games into reality and reality into games." (72)

Wenn sich nach dieser Hermeneutik Idee und Wirklichkeit einander annähern, d.h. Ausschnitte der Realität zum Modell werden und Spiele durch ihre Simulationskraft Wirklichkeitscharakter erhalten, dann gehört zur Bewußtseinsbildung das Durchschauen der durch die Computernutzung eingeführten Simulationsprozesse. Dieses Anliegen vertritt Turkle - unausgesprochen - in der gesamten Untersuchung.

Sie weist darauf hin, daß sich die Einschätzung des Computers in Hinblick auf "Intelligenz" und menschliche Vermögen, wie z.B. Emotionen, im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr gewandelt habe, und erörtert im zweiten Teil ihres Buches mit dem Titel "Of Dreams and Beasts" Struktur und Entwicklung dieses Simulationsgeschehens. Nach ihren Forschungen entdecken Kinder an Computern durchaus geistige, psychische Eigenschaften, sprechen ihnen allerdings die Lebendigkeit ab (84). Aber auch in der Welt der Erwachsenen seien die früher starren Unterscheidungen zwischen Mensch und Maschine, zwischen dem Selbst und der Umwelt hinfällig geworden (85), nicht zuletzt unter dem Eindruck der Fortschritte auf dem Gebiet der Robotertechnologie, großangelegter Forschungsprogramme zum genetischen Code des Menschen und gezielt wirkender Psychopharmaka . Unsere Gewohnheit, Denkmodelle hervorzubringen, sei in unserer Kultur so ausgeprägt, daß wir die evolutionären Veränderungen des Mensch-Maschine-Verhältnisses noch nicht richtig begriffen haben.

Vor wenigen Jahren noch lebhaft geführte Debatten über die "künstliche Intelligenz" (KI), die von einigen Technoloieskeptikern als Angriff auf eine Wesenseigenschaft und damit auf die Würde des Menschen angesehen worden sei, haben sich inzwischen trotz der enormen Fortschritte auf diesem Gebiet beruhigt. Die weitgehende Akzeptanz intelligenter Artefakte in Form von Computerprogrammen kennzeichne eine Bewußtseinsveränderung, die von Pragmatismus gekennzeichnet sei, aber auch vom Zeitgeist der Simulation, der Computern gleichsam eine soziale Rolle zuweise (88, 101). Dies stehe im Einklang mit dem Charakter der Wissenschaftsgeschichte, neben ihrer Eigenentwicklung zugleich auch den Prozeß der Gewöhnung an geistige Herausforderungen darzustellen.

Die vergangenen Jahrzehnte überschauend, referiert Turkle verschiedene Phasen der Computer-Akzeptanz und geht auf unterschiedliche Computer-Konzeptionen ein. Dabei erörtert sie den Turing-Test, Hubert Dreyfus' und John Searles Einwände ("Chinese room") und stellt u.a. die Weiterentwicklung, theoretische Hintergründe, Nutzerreaktionen in bezug auf KI-Beispiele wie ELIZA (Joseph Weizenbaum), JULIA (Michael Mauldin) sowie DEPRESSION 2.0 (Kenneth und Paul Colby) dar (88ff.). Letztgenanntes Programm als praktische Fortführung des bereits 1966 zu Experimentierzwecken entwickelten und vielbeachteten ELIZA-Systems findet wegen der Schnittstellenproblematik das besondere Interesse der Autorin.

Denn simulierte Therapiesituationen, in denen es um Emotionen geht, veranschaulichen die Problematik der Grenze zwischen Schein und Sein sehr deutlich. Inwieweit liegt z.B. "echte" Kommunikation vor und in welchem Maße und aus welchen Gründen besteht die Neigung, programmierte Maschinenreaktionen als vernünftige Dialoge zu empfinden? Nach Turkles Erkenntnis haben Computernutzer situationsbedingt und wegen der Struktur der Sprache offenbar eine hohe Bereitschaft, die Maschine oder das System als ein Gegenüber, wenn auch nicht als Partner oder Beziehungsträger zu akzeptieren. Diese differenzierte Einschätzung und nüchterne Akzeptanz sei angesichts teilweise mißglückter Dialoge mit DEPRESSION 2.0 und in Erinnerung an frühere Befürchtungen, Computersysteme würden eines Tages allzu menschlich reagieren, beachtlich. Der Gedanke der "intelligenten" Maschine werde mittlerweile nicht als Angriff auf das menschliche Selbstbewußtsein aufgefaßt (123), sondern sei dem genannten pragmatischen Umgang mit der Maschine gewichen.

Die Einsicht, daß die Wirkung der Dialogsysteme größer sei als ihre tatsächliche Leistungsfähigkeit, habe ebenfalls dazu beigetragen, den Computer nicht mehr als Bedrohung des "Ich" zu fürchten. Turkle legt auf den Gedanken der Glaubwürdigkeit, der Plausibilität von Simulationsprozessen und der reinen Wirkung ("emergence") großen Wert und begreift ihn als wesentliche Voraussetzung für die jüngere KI-Forschung. Diese setze in ihren Theorien eine Verwandtschaft zwischen menschlichem und "maschinellem" Verstand voraus (126).

Die Relativierung des Intelligenzbegriffs und der hierarchisch strukturierten, regelgeleiteten Methoden in der KI-Forschung habe diese Entwicklung ebenfalls gefördert (130ff.). Die Bedeutung der kognitiven Psychologie, Biologie und Neurologie für die Modellbildung habe sich dabei vergrößert. Empirienahe "Buttom-up" Simulation von Prozessen, Theorien der Selbstorganisation und durch Fuzzy Logik modelliertes Lernen, eine computersystembezogene Erforschung der menschlichen Hirnfunktionen in den Versuchen, neuronale Netzwerke zu entwerfen, gehören nach Turkle zu den weiteren Schritten der KI-Forschung. Die Autorin referiert diese indeterministischen, am Lebensprozeß orientierten Auffassungen ebenfalls ausführlich, zitiert - durchgängig in der gesamten Arbeit - eine Fülle von Fallbeispielen zur Nutzerreaktion und nennt dabei ebenso Vorläufer dieser Tradition wie Norbert Wiener (150), Warren McCulloch (131/ Anm. 10), John von Neumann ("cellular automaton"; 154) oder John Holland ("genetic algorithm"; 158), wie die Zeitgenossen Hubert Dreyfus, Marvin Minsky, Daniel C. Dennett oder W. Daniel Hillis.

Die verwendeten Beschreibungsmuster verraten nach Turkle eine Annäherung der Denkmodellen, auf welche Weise menschliche Intellektualität und KI-Systeme funktionieren. Sie kennzeichnet diese Gegenwartstendenz mit der unangemessen epochebildenden Metapher "postmodern convergence", die auch in den Einzelwissenschaften in Form verstärkter Zusammenarbeit zum Ausdruck komme (138). Im Alltag stehen die verschiedenen Computersimulationsspiele für diese neuentstandene Verwandtschaft zwischen Mensch und Maschine. Hier ist zu erinnern, daß LaMettrie ("L'homme machine") bereits im 18. Jahrhundert ausdrücklich auf eine solche Verwandtschaft aufmerksam macht. Nicht die Verwandtschaft dürfte neu sein, sondern das Forschungsgebiet, auf dem die Annäherung der Denkmodelle stattfindet.

Turkle kommt es in ihrer Feinanalyse der Computerakzeptanz an dieser Stelle nur auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte an. Das Bild des Menschen habe sich gegenüber der Vorstellung, die wir vom Computer machen, innerhalb kurzer Zeit mehrfach gewandelt, die Grenzbestimmung der "Intelligenz" in der KI-Diskussion zum Kriterium der Lebendigkeit hin verschoben (149ff.). Doch auch in diesem Bereich werden rege Simulationsforschungen getrieben, die bisherige KI-Konzeptionen vom künstlichen Leben in neuem Licht oder - was Turkle nicht sagt - vielleicht auch nicht adäquat erscheinen lassen (152).

Wesentlich für die Autorin sind auch weniger die Forschungsergebnisse selbst, als vielmehr unser Umgang mit ihnen und der Weg, auf dem sie zustandezukommen. So wendet sich die Wissenschaftssoziologin im dritten Teil ihres Buches dem gegenwärtigen Höhepunkt unserer Simulationskultur zu: "On the Internet". Wenn bereits in der KI-Forschung und Robotertechnologie vernetztes Denken, erfahrungsorientierte Modellbildung und indeterministische Konzeptionen vorherrschen, dann treffen derartige Voraussetzungen auf das soziale Experimentierfeld des Internet erst recht zu. Dies gelte insbesondere für unsere Identitätsvorstellungen, deren Flexibilisierung sich am gesellschaftlichen Rollenspiel in Beruf oder an den neuen Idealen dezentraler Organisation und individueller Anpassungsfähigkeit zeige (178ff.).

Turkle berichtet über verschiedene psychologisch aufschlußreiche Beispiele der Internetnutzung, insbesondere über die in Multi User Domänen (MUD) und spart Problemfälle nicht aus. Sie ist dabei der Gefahren durchaus bewußt und vergleicht diese mit mißglückten Therapien labiler oder kontaktgestörter Menschen, sieht im Internet aber Chancen zur Selbsthilfe und zu persönlichem Wachstum (199f., 208). In bezug auf die gesunde Persönlichkeit hält sie das Spiel mit der eigenen Identität und das bewußte Ausprobieren verschiedener Rollen, trotz schädlicher Gewöhnungseffekte, für lehrreich. Selbst in der Adoleszenzphase sei eine emotionale Sicherheit gewährleistet: auch jugendliche Nutzer können den PC jederzeit ausschalten.

Positiv gesprochen, könne eine modifizierte Identität oder Rolle im Internet-Spiel eine förderliche Ergänzung der echten Identität bilden (192). Turkle analysiert u.a. Beispiele, in denen versuchsweise eine fremde Geschlechterrolle übernommen worden sei, und die zeigten, wie gelegentlich neue Handlungsorientierungen und ein größeres Verständis für das jeweils andere Geschlecht gewonnen würden (223). Doch setzt sie bei aller Befürwortung multipler Internet-Identitäten ein integriertes "Ich" voraus, daher auch ihre Vorsicht bezüglich einer therapeutischen Funktion von Rollenspielen. Dennoch dürfte Turkle die soziale Bedeutung der Internet-Spiele im Verhältnis zum "passiven" Recherchieren überschätzen.

Im Sinne ihres Kulturoptimismus hält sie die wissenschaftlich interessante Bedeutung des Internet in den tiefgreifenden technologischen Veränderungen sozialer Umgangsformen, die ihrer Meinung nach ein besonderes Licht auf Probleme der Gesellschaft, des Individuums oder der Werte werfen (232). Die politische Bedeutung liege in der Botschaft der direkten Kommunikation und der Mobilisierung von Interessengruppen (243), aber auch der Chance zur gegenseitigen sozialen Kontrolle. Turkle erinnert an Jeremy Benthams Bild des unsichtbaren Wärters im "Panopticon", in dem die Gefangenen sich selbst kontrollieren, da sie nicht wissen, ob sie beobachtet werden. Ähnlich lerne der Mensch durch das Internet eine Selbstverantwortung, die daraus erwachse, sich aus der Perspektive des Lehrers oder des Therapeuten zu betrachten (247f., 254), eine Vision der Autorin, die umso wichtiger erscheine, je mehr sich unser Bild vom Selbst auflöse.

Als strukturierende und domestizierende "Seite" des Internet ist der Vergleich mit dem Gefängnis angebracht, als emanzipatorische spricht Turkle an anderer Stelle vom einem Schiff, das den Menschen zu mehr Freiheit verhelfen könne und ergänzt durch ihr Bild von einem bestimmten Forschertypus: "Like the anthropologist returning home from a foreign culture, the voyager in virtuality can return to a real world better equipped to understand its artifices." (263)

Turkle weiß, daß auch dies nicht allein durch die Internet-Praxis zu erreichen ist. Denn nur wenige Wirklichkeitserfahrungen beruhen auf Simulation. Gerade die einfache Erfahrung vollzieht sich zunächst weitgehend unvermittelt. Aber bezogen auf die zunehmende Computerakzeptanz in den Industriegesellschaften im allgemeinen und in den Wissenschaften im besonderen erscheinen Turkles Thesen bedenkenswert. Am Ende ihrer Arbeit betont sie selbst die Bedeutung der praktischen Philosophie für die Selbsterkenntnis. - Ihre sozialpsychologischen Befunde, ihre plastische Erörterung einer Fülle der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Programm- und Dialogsysteme, ihre Erläuterungen der dahinterliegenden Forschungsideen und Entwicklungsstrategien machen die Lektüre zu einem lehrreichen Vergnügen und lassen ihre Arbeit unter die großen Werke der KI-Philosophie einreihen.

Larry Steindler im September 1996


Anm. 1

Ohne den etwas abgegriffenen Ausdruck "Multtasking" zu verwenden, beschreibt Turkle die Bedeutung von Windows-Funktionen für simultan stattfindende Rollenspiele: "Windows provide a way for a computer to place you in several contexts at the same time. As a user, you are attentive to only one of the windows on your screen at any given moment, but in a sense you are a presence in all of them at all times." In bezug auf Multitasking ergibt sich aus der Perspektive der benutzten Anwendungen oder der kontaktierten Mitspieler demnach die Folgerung: "Each of these activities takes place in a window; your identity on the computer is the sum of your distributed presence." (S. 13)


Anm. 2

Turkle zitiert anonym einen ihrer Studenten, der sich Derridas Relativierung von Textbotschaften verdeutlicht, indem er diese mit den Hypertext-Markierungen (hypertext-stacks) seines Kommilitonen vergleicht und diese zurückverfolgt. Er rekonstruiert - Derrida würde sagen "dekonstruiert" - so den hermeneutischen Prozeß und zieht den Schluß: "Meanings are arbitrary, as the links in a stack. The cards in a hypertext stack get their meaning in relation to each other. It's like Derrida. The links have a reason but there is no final truth behind them." (17f.)


Anm. 3

Turkle verrät ein Erlebnis, im Internet auf eine fiktive Dr. Sherry gestoßen zu sein. Diese habe Fragebögen ausfüllen lassen und Interviews im Sinne der Forschungen der Autorin durchgeführt, offenbar als Scherz oder Studentenulk. Die Dreistigkeit - durch die Anonymität ermöglicht - gipfelte darin, sich ihres Namens zu bedienen, wenn auch in abgewandelter Form. Die Autorin schildert, daß die anonyme Person bald wieder aus dem Netz verschwunden sei und erklärt, daß ihre Betroffenheit vor allem durch die lebendige Web-Präsenz der in ihrem Namen agierenden Person gesteigert wurde. (15f.)

Hier ist zu betonen: eine Verletzung von Urheber- und Persönlichkeitsrechten ist natürlich auch im Internet verboten. Aber der dort gebotene Freiraum, einerseits aufgrund der ungewohnten Distributionsmöglichkeiten, andererseits als Folge der Anonymität, erfordern verantwortungsbewußte Kommunikationspartner. Turkle behandelt derartige rechtliche oder ethische Fragen nur indirekt, verweist aber häufig auf diese Problemdimension. Ihr kommt es vor allem auf die erkenntnistheoretischen und sozialen Konsequenzen an, die sich aus der Technisierung menschlicher Umgangsformen ergeben.

Wenn jeder, anonym oder mit Namen, alles unter beliebiger Angabe von Quellen im Internet behaupten kann, dann haben die Begriffe von Kontextualität, Bedeutung und geistige Autorschaft nach Turkle eine Veränderung erfahren, die zu einer Revision des Identitätsproblems auffordert.


Anm. 4

Turkle verweist in diesem Zusammenhang auf den Spielbegriff von Claude Lévi-Strauss und behauptet mit ihm, daß Veränderungen der sozialen Wahrnehmung objektbezogen seien und auf der Oberfläche von etwas Tieferliegendem stattfinden. Der Computer ist für sie diesbezüglich mehr als nur Objekt in diesem Sinne, hat aber auch mehr als nur Symbolfunktion, wenn sie sagt: "Cultural appropriation through the manipulation of specific objects is common in the history of ideas." (49)


Anm. 5

Turkle verweist hier auf Bruce Mazlish und seine wissenschaftsgeschichtliche Phasentheorie: The Fourth Discontinuity. The Co-Evolution of Humans and Machines, New Heaven/Conn. (Yale Univ. Press) 1993.


Anm. 6

Mit einem Seitenblick auf Disney-Animationen stellt Turkle fest, daß die Emotionalität von Äußerungen für die Akzeptanz menschenähnlicher Computerreaktionen sehr wichtig sei. Die Glaubwürdigkeit der Dialoge mit JULIA bestehe vor allem im Verhalten der Nutzer, mit dem System so umzugehen, als sei es lebendig. Lebensechtes Verhalten in einem bestimmten Kontext genüge Nutzern also, damit der Computer als glaubwürdiger Gesprächspartner erscheint (97). - "Saying that Julia wants to do something (instead of saying that the program that has been named Julia exhibits behavior that is designed to make it seem as though it wanted to do something) comes easily to Julia's inventor and to the humans who encounter 'her'. Our language seduces us to accept, indeed to exaggerate the 'naturalness' of machine intelligence." (101)


Anm. 7

Turkle stellt die 1987 in einer Konferenz in Los Alamos entwickelten vier Kriterien für die Lebendigkeit "künstlicher Organismen" zusammen. Sie müssen erstens, Darwin entsprechend, eine evolutionäre Entwicklung aufgrund natürlicher Auslese aufweisen. Zu ihrer Tätigkeit und ihrer Reproduktion müssen sie zweitens über einen genetischen Code verfügen. Drittens bedürfen sie einer hohen Komplexität, für die wiederum gilt, daß sie sich durch gewöhnliche lineare Gleichungen nicht abbilden lassen. Viertens müssen sie die Fähigkeit zur Selbstorganisation haben. (152)


Anm. 8

Turkle räumt ein: "But it is also true that, taken by themselves, virtual communities will only sometimes facilitate psychological growth." (208)


 

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Copyright © 1996 Larry Steindler
Last modified: September 12, 1996