2 Der systemtheoretische Ansatz als Weiterentwicklung der Organisationsbetrachtung |
2.1 Ganzheitlichkeit und System
Der bisher dargestellte Überblick über der Organisationsforschung geht von dem "Machbarkeits-Konzept" aus. Der Mensch als wichtiger Bestandteil der Unternehmung wird dabei nur für die Zielerreichung der Unternehmung berücksichtigt. Die tayloristische Betrachtungsweise vom Maschinensystem erfährt allerdings durch die Aussage Taylors "In the past the man has been first; in the future the system must be first" (Taylor 1919, S. 65) eine einschneidene Neuerung.
Die Organisation wird nicht mehr nur als Zusammenschluß organisierter Arbeit und Menschen beschrieben, sondern sie wird einer ganzheitlichen Betrachtungsweise beider bisher getrennten Teilbereiche unterzogen. Diese Ganzheitlichkeit bezieht den Menschen als wichtiges Betrachtungsobjekt ein, so daß in der Entwicklung der Organisationstheorie von der ganzheitlichen Betrachtungsweise bzw. auf Organisationen bezogen von Systemen gesprochen werden kann.
Ackhoff beschrieb in den 60er Jahren die Organisation als ein System, indem er bemerkte:
"Systems are not fundamentally mechanical, chemical, biological, psychological, social, economic, political or ethical. These are merely different ways of looking at such systems." (Vgl. Ackoff 1961, S. 37).
In den achtziger Jahren entwickelte sich im deutschsprachigen Raum auf der Grundlage von Parsons´ "Die eigenständige Bedeutung des Systems" die sg. "Neuere Systemtheorie", mit dessen Entstehung und Verbreitung besonders Niklas Luhmann verbunden ist. Einen wichtigen Stellenwert bekommt Luhmanns Theorie der "Sozialen Systeme".
Ausgangspunkt der "neueren Systemtheorie" ist vor allem die Biologie (von Bertalanffy) und die Kybernetik (Wiener). Dieser Ganzheitlichkeitsbetrachtung der Systemtheorie liegt das Prinzip zugrunde,
"[...] ein gegebenes Erfahrungsobjekt in seinem genuin unversehrten strukturellen Zusammenhang zu betrachten. Charakteristisch für diese Perspektive ist die Aussage: 'Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile'." (Vgl. Grochla 1980, S. 2206.
Der Begriff "Systemtheorie" wird in der Literatur hingegen uneinheitlich verwendet. Oft wird er dabei als Sammelbegriff aller Disziplinen gebraucht, die sich in irgendeiner Weise mit Systemen beschäftigen. Als Ausgangspunkt jeder systemtheoretischen Betrachtung wird die Differenz von System und Umwelt herausgestellt (vgl. Luhmann 1991, S. 35). Hinsichtlich einer Definition des Begriffes "System" werden im soziologischen Bereich als die zentralen Elemente nicht die Menschen gesehen, sondern deren Handlungen. Soziale Systeme bestehen in diesem Zusammenhang nicht aus konkreten Menschen, sondern aus Kommunikation (vgl. Willke 1993, S. 44). Die systemische Sichtweise nach Luhmann und Willke hat demnach in ihrem Kern die Vernetzung von Kommunikation (Entscheidungen) im Blickfeld.
Im folgenden soll aus der ganzheitlichen Sichtweise die Bedeutsamkeit einer systemischen Denkweise vertieft werden. Dazu erscheint es notwendig, Merkmale einer systemtheoretischen Sichtweise herauszuarbeiten.
2.2 Merkmale systemtheoretischen Denkens
Als wichtiges Kennzeichen eines Systems wird der ganzheitliche Zusammenhang von Dingen, Vorgängen und Teilen verstanden, wobei das Wesen der einzelnen Bestandteile vom übergeordneten Ganzen her bestimmt wird. Der aus der Kybernetik stammende Satz "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" beschreibt eine noch ungewohnte Qualität. Das "Ganze" bekommt eine andere (höhere) Qualität als die aggregierten Teile. Die neue Qualität entsteht durch die zahlreichen Kommunikationen zwischen diesen einzelnen Teilen.
Ein System respektive eine Organisation besteht aus einem übergeordneten System (Supersystem), dessen Bestandteile Subsysteme sind, welche wiederum aus Elementen bestehen, die durch Relationen verbunden sind (vgl. Abbildung 2). Die Menge der Relationen zwischen den Elementen ist die Struktur. Die Ordnung bzw. die Struktur der Elemente eines Systems ist i.S. der Systemtheorie seine Organisation. Die Begriffe Organisation und Struktur sind demzufolge identisch.
Abbildung: Allgemeine Darstellung eines Systems
Ein System wird differenziert zwischen einem offenen und einem geschlossenen System: Ein offenes System ist dadurch gekennzeichnet, daß mindestens ein Element des Systems in Wechselwirkungen zu anderen Elementen eines anderen Systems besteht. Dies könnte z.B. eine Interaktion zwischen einem Organisationsmitglied und seiner unmittelbaren Umwelt sein, wobei unter dem Begriff der Umwelt die Gesamtheit der Faktoren verstanden wird, die auf einen Organismus von außen einwirken und ihn beeinflussen. Bei einem in sich geschlossenen System existieren diese Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Systemen nicht. Interaktionen zwischen einem Systemmitglied und seiner Umwelt finden nicht statt.
Zum Supersystem, in das ein organisiertes System eingebettet ist, bestehen wechselseitige Beziehungen (z.B. zu Lieferanten etc.) und Beeinflussungen (Technologien). Organisierte Systeme können deshalb als offene Systeme in Bezug auf ihre Umwelt interpretiert werden. Die Offenheit stellt in der Organisationsforschung einen Fortschritt dar, indem sie nicht als Interaktion von Elementen in einem Subsystem, sondern auch als Offenheit zu anderen Systemen wie z.B. der äußeren Umwelt verstanden wird.
Für die Begründung von systemtheoretischen Betrachtungen bedeutet dies, daß die Offenheit, die Komplexität und die Dynamik betriebswirtschaftlicher Organisationssysteme, die lange Zeit nur statisch betrachtet wurden, nun ganz in den Blickpunkt rücken. Dadurch kommen für die Organisation Möglichkeiten in Betracht, auf ihr dynamisches Umfeld reagieren zu können. Somit sind neben der Offenheit weitere Systemeigenschaften angesprochen (vgl. Hill et al. 1994, S. 21f.). Eine charakterliche Systemeigenschaft ist die erwähnte Komplexität:
"Komplexität bezieht sich auf den Reichtum an Beziehungen innerhalb des Systems sowie zwischen dem System und seiner Umwelt. In sozialen Systemen drückt sich die Komplexität vor allem in der Intensität der Kommunikationsbeziehungen und im Grad der Arbeitsteilung (Spezialisierung) aus." (Vgl. Ebenda, S. 22 f.).
Anschließend wird die Dynamik hervorgehoben. Dynamik bezieht sich auf die Änderung des Systemzustands in seiner Zeitdimension: hohe Dynamiken bedeuten hohe Änderungsraten.
"Das Ausmaß der Dynamik der Systemprozesse hängt zu einem großen Teil von der Dynamik der Umwelt sowie von der Offenheit des Systems gegenüber dieser Umwelt ab." (Vgl. Ebenda, S. 23).
Die Systemtheorie beschreibt in ihren Erklärungsansätzen zusammengefaßt zwei Schwerpunkte: Zum einen wird ein System als ein komplexes System in einer komplexen Umwelt beschrieben, was die Forderung nach Offenheit nach sich zieht. Dem gegenüber werden Systeme auch als in sich geschlossene Systeme beschrieben.
Eine Lernende Organisation (LO) lebt von der Komplexität und der Umweltdynamik, welche den Ausgangspunkt ihrer Handlungen bilden. Lineares Ursache- Wirkungs- Denken kann diese Relationen nicht in hinreichenden Maße beschreiben, da die Beziehungen zwischen System, Subsystemen und Elementen derart zahlreich sind, daß sie durch triviale Analyse- Handlungs- Konzepte nicht mehr erklärt werden können.
Das Denken in Zusammenhängen kann erstens verhindern, daß ein Teil für das Ganze angesehen bzw. von der Veränderung eines Teils linear auf die Veränderung des Ganzen geschlossen wird. Zweitens erkennt die Systemtheorie, daß einerseits zwar alles mit allem "irgendwie" zusammenhängt, andererseits führt dies dazu, nicht danach zu fragen, welche Teile zusammenhängen, sondern wie diese Teile unterschiedlicher Systemebenen zusammenhängen. Ergebnis ist, daß der Zusammenhang zwischen Systemen unterschiedlicher Ebenen nicht einfach, linear und kausal ist, sondern diskontinuierlich, non-linear, konterintuitv (i.S. von nicht erahnbar) und irreversibel (nicht umkehrbar). Das heißt, entgegen den Methoden der Naturwissenschaften gibt es keine klaren isolierbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge.
Ein systemtheoretisches Denken zeigt folgende Zusammenhänge auf:
Merkmale systemischen DenkensSystemdenken ist gekennzeichnet durch: |
|
|
|
|
Quelle: In Anlehnung an: Willke 1993, S. 220-227
Aufgrund der zahlreichen Beziehungen in einer Organisation kann systemorientiertes Denken dazu beitragen, Komplexität zu reduzieren. Ergebnisse werden nicht an wenigen Variablen gemessen, sondern es wird zunächst hinterfragt, welche Variablen, Faktoren und Komponenten überhaupt für das System relevant sind. Mit diesen lassen sich weitere Aussagen über das System insgesamt erfassen.
Teile oder Prozesse eines Systems sollen in Zusammenhang mit ihren unterschiedlichen Realitäten, d.h. der Art und Weise wie sie sich in dem Gesamtsystem darstellen, sowie deren Anteil an Interaktionen im Systemzusammenhang untersucht werden.
Der besondere Reiz des Systemdenkens ist das Phänomen der organisierten Komplexität. Diese Komplexität übertragen auf das organisatorische Lernproblem stellt die Frage, wie in einem komplexen Gebilde (Unternehmung) mitten in einer (ausgeprägten) komplexen Umwelt eine neue Ordnung geschaffen wird.
Die sozialwissenschaftliche Disziplin greift das Problem der Komplexität und der Ordnung gleichermaßen auf. Vor diesem Hintergrund verweist Willke auf ein weiteres Merkmal systemtheoretischen Denkens: Auf die Dringlichkeit des Bruchs mit einer reinen wissenschaftlichen Theorie von einfachen Kausalitäten und Gesetzmäßigkeiten (vgl. Willke 1993, S. 224). Dabei interessieren weniger die Voraussagen künftigen Verhaltens im Detail, sondern die Voraussage von Verhaltensmustern, Funktionszusammenhängen und Entwicklungslinien. "Grundlage einer solchen Theorie kann dann nicht mehr nur die Logik von Ursache-Wirkungs-Kausalitäten sein, sondern darüber hinaus zusätzlich die Logik komplexer Systeme." (Vgl. Ebenda).
Vor diesem Hintergrund stellt die ganzheitliche Betrachtung von internen organisatorischen Zusammenhängen einerseits und die externen Beziehungen andererseits einen breiten Grundstock für die Erklärung Lernender Organisationen. Insbesondere die Reduzierung von Komplexität kann viel für eine Weiterentwicklung einer Unternehmung beitragen, indem Komplexitätsreduzierung hinsichtlich der Schaffung einer neuen Ordnung unabdingbar ist. Der Systemtheoretische Ansatz ist des weiteren eine Weiterentwicklung von der klassischen und der neoklassischen Organisationstheorie, da sie den Menschen mehr als nur im Mittelpunkt der Organisation versteht. Der Mensch ist ein Element des Systems in seinem Umsystem. Er ist also neben seiner Mitgliedschaft in der Unternehmung auch Mitglied der Unternehmensumwelt, d.h. der Gesellschaft. Die vielfältigen Beziehungen des Menschen zu seiner individuellen Umwelt haben auch Einfluß auf sein Wahrnehmungs- und Lernverhalten. Dies muß konsequenterweise rückwirkend auch Einfluß auf das System haben.
Der systemtheoretische Ansatz ist in der Diskussion jedoch nicht unumstritten. Für das Grundverständnis einer LO ist er jedoch hilfreich.
2.3 Systemisches Denken als Grundverständnis einer Lernenden Organisation
Kritiker führen das Argument der Praxisferne bzw. das Problem möglicher Transformationsprozesse an. Die im Laufe der Organisationsentwicklung zu betrachtenden Bereiche in der Organisation und besonders außerhalb der Organisation (=Umwelt) haben sich vervielfacht, so daß eine monodisziplinäre Analyse von Organisationen nur unzulänglich gerecht werden kann. Auch das vorliegende Thema erfordert neben den (schwerpunktmäßigen) betriebswirtschaftlichen Betrachtungen Kenntnisse aus anderen Bereichen (Psychologie, Biologie, Sozialwissenschaft), ohne die eine umfassende Abhandlung des gewählten Themas nicht genügend erscheinen würde.
Willke verdeutlicht die Notwendigkeit einer systemischen Betrachtungsweise (1994, S. 5 f.): Am Beispiel der Entwicklungsgeschichte des Autos wird skizziert, daß vor hundert Jahren die Entwicklung einschließlich der Produktion und das Verkaufen des Autos im Brennpunkt organisatorischen Handels stand. Das Denken in "Maschinenmodellen" herrschte traditionell vor. Die im Maschinenmodell steckende "Wenn-Dann-Logik" und "Um-zu-Mechanik" war aufgrund ihrer breiten Erfolgsquote wichtigste Handlungsmaxime. Im 19. Jahrhundert schien es zu genügen, einfache organisatorische Zusammenhänge durch einfache Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Die Betrachtungsweise dehnte sich aufgrund der Massenproduktion des 20. Jahrhunderts derartig aus, daß es nicht mehr primär darum ging, nur produzieren zu können, sondern die Organisation stand zunehmend vor komplexen Zusammenhängen von natürlichen, technologischen und sozialen Prozessen. Dabei seien die Probleme von nicht beabsichtigten Nebenproduktionseffekten bzw. negativen externen Effekten, z.B. der zunehmenden Umweltbelastung durch verschiedenartige Emissionen in den Vordergrund gestellt.
Wie oben aufgezeigt, stellt der systemische Ansatz auf einer generalisierten Ebene die Aufgaben und die organisatorischen Regeln auf die Umwelt eines sozio-technischen Systems besonders dar.
"Die Systemtheorie (einschließlich der Kybernetik) stellt die Frage, was eigentlich das Gemeinsame an dynamischen, komplexen Ganzheiten ist, die in ihren konkreten Ausprägungen, wie sie von einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen erfaßt werden, ganz unterschiedlich erscheinen, wie sich solche Systeme verhalten und sie 'überleben' können. Auf dieser disziplinübergreifenden Ebene entwickelt sich ein begriffliches Instrumentarium zur Bezeichnung solcher Phänomene und eine 'systemische' Denkweise, die sukzessive zu einer lernbaren 'Systemmethodik' führt." (Vgl. Ulrich, P. et al. 1991, S. 11).
In der Realität existieren verschieden auftretende organisatorische Gebilde, bestehend aus menschlichen und/oder maschinellen Elementen. Zwischen ihnen kann im einzelnen unter "Mensch-Systemen", "Maschine-Systemen" und "Mensch-Maschine-Systemen" unterschieden werden (vgl. Grochla 1976: "Organisationstheorie"). Die "Mensch-Systeme" sind primärer Untersuchungsgegenstand der soziologischen, psychologischen bzw. sozialpsychologischen Disziplinen, während hingegen die "Maschinen-Systeme" primär von den Ingenieurwissenschaften erforscht werden.
Jedes Modell ist Forschungsgegenstand seiner eigenen Disziplin und untersucht mit nur bedarfsweisen Übergängen zu benachbarten oder zur Untersuchung notwendigen Disziplinen ansatzweise interdisziplinär (vgl. Ebenda). Die Analyse von "Mensch-Maschine-Systemen" schlägt dabei diese Brücke, indem sie dieses Modell als kom-plexes Modell versteht und seine Eigenschaften und Verhaltensweisen auf Grund der Vielzahl und der unterschiedlichen Art der es konstituierenden Elemente nicht nur aus der Sicht einer speziellen Disziplin erklären kann.
Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob eine derartig umfassende Organisations-theorie durch Integration von Einzeltheorien oder auf der Basis interdisziplinärer Ansätze konzipiert werden kann. Mit der Beantwortung dieser Frage beschäftigt sich die Kybernetik, Systemforschung bzw. die Systemtheorie. (Vgl. Grochla 1976 und Ulrich, P. et al. 1991).
So zeigt auch das Wandelproblem (vgl. Kap.3) auf, daß Unternehmen als Systeme vom System "Umwelt" abhängig sind. In Anlehnung an den interdisziplinären systemischen Ansatz der Betriebswirtschaftslehre stellen Klimecki et al. In diesem Zusammenhang fest:
"Analog zu Organismen, die sich in beschränktem Maße auf sich ändernde Umweltbedingungen einstellen können, werden Organisationen als offene soziale Systeme hinsichtlich ihrer Interdependenzen und Austauschbeziehungen mit ihrer Umwelt untersucht." (vgl. Klimecki et al. 1991, S.112).
Ausgehend von der Theorie offener sozialer Systeme bezieht Heitger thesenhaft die Merkmale des systemtheoretischen Ansatzes auf Unternehmen (vgl. Heitger 1991, S.118-120). Unternehmen beziehen ihre Identität aus der ständigen Kommunikation und Aushandlungsprozessen mit sich und ihrer Umwelt (Kunden, Lieferanten etc.). Die LO ist durch ihre interne Komplexität gekennzeichnet. Sie ist auf die vielfachen Beziehungen ihres eigenen Handelns angewiesen. Das Problem, welches sich systemtheoretisch stellt, ist die Art und Weise, wie das System Organisation diese Komplexität bewältigt. Als verarbeitendes Komplexitätsgebilde kommt dem System Organisation eine organische Analogie gleich.
2.4 Die Organisation als organisches System
Als Gegenkonzept zur klassischen Organisationstheorie und als Weiterentwicklung eines neoklassischen Ansatzes haben sich auch organismische Systemkonzeptionen profiliert (vgl. Klimecki et al. 1991, S.112). In dessen Weiterentwicklung stellt ein evolutions-theoretisches Konzept den Versuch an, Eigenschaften von biologischen Systemen auf soziale Systeme zu übertragen. Besonders aus der Biologie wird durch Analogien versucht, z.B. die Funktionsweise des Zellorganismus eines Lebewesens auf das betriebswirtschaftliche System zu übertragen. Für eine Beschreibung von LO sind derartige Analogien interessant, wurde das Lernphänomen und die verlaufenden Vorgänge im menschlichen Gehirn primär durch die Biologie untersucht.
Organische Systeme sind durch ihre komplexe, nicht-lineare, selektive und anpassungsfähige Eigenschaften gekennzeichnet (vgl. Wehrmann 1995, S.68 zit. n. French; Bell; Miller und H. Ulrich). Sie entwickeln sich und sind dadurch lebensfähig. Eines ihrer wichtigsten Merkmale ist die Fähigkeit, sich im Gegensatz zu rein geschlossenen Systemen negentropisch verhalten zu können, d.h. aus einer Informationsquelle einen
mittleren Informationsgehalt zu beziehen, aus welchem wiederum Ordnungsgewinne erzielt werden können (vgl. Bertalanffy 1977, S. 39).Der Auffassung folgend, daß Unternehmen entsprechend als organische Systeme aufgefaßt werden können, stützt sich auf Analogien zwischen sozialen und biologischen Organismen, zwischen denen dennoch wichtige Unterschiede bestehen.
Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen einer Organisation und einem Organismus ist darin zu erkennen, daß ein biologischer Organismus sich entsprechend seines genetischen Codes entwickelt, d.h. seinem in ihm einprogrammiert bestimmten Entwicklungsziel verändert. Demzufolge ist sein Lebenszyklus vom Rhythmus und der zeitlichen Ausdehnung her festgelegt, genau wie das Zusammenspiel der einzelnen Systemelemente. Andererseits ist die Entwicklungsrichtung eines sozialen Organismus frei gestaltbar und Reaktionen auf sich verändernde Umweltbedingungen müssen aktiv verarbeitet werden. Das bedeutet auch, daß die einzelnen Systemelemente koordiniert und ihr Zusammenspiel optimiert werden muß. Des weiteren kann der biologische Organismus nur als Ganzes über seinen Willen verfügen, seine Teile sind (handlunsgbezogen) willenlos. Das soziale System hingegen besteht aus Menschen, die selbst über einen Willen und Zielvorstellungen verfügen, die nicht unbedingt mit denen des Gesamtsystems übereinstimmen müssen.
Diese Unterschiede sind besonders im Zusammenhang mit einer evolutionstheoretischen Betrachtung wichtig. Begriffe wie Selbstorganisation, Autopoiese und Selbstreferenz sind bezüglich evolutionstheoretischen Betrachtungen der Organisation konzeptionelle Phänomene (vgl. Klimecki et al. 1991, S.112.), die deutlich machen, daß Veränderungsprozesse nicht einfach von außen gemacht werden können, d.h. das System reagiert nicht mehr auf einen Stimulus aus der Umwelt durch "triviale" Anwendung eines Veränderungsrezeptes. Veränderungen in sozialen Systemen werden aus den Analogien der Veränderungen von biologischen Systemen als Evolution konzipiert (vgl. Semmel 1984, S. 140f.). Das Überleben der Organisation ist dabei das höchste Kriterium, an welchem sich die Ziele und Handlungen der Organisation (des Systems) und (nach Möglichkeit auch) seiner Mitglieder (Subsysteme und Elemente) auszurichten haben. Wachstum der Organisation folgt zugleich dem Postulat des Überlebens, denn Wachstum steigert die Überlebensmöglichkeiten der Organisation (vgl. Gharajedaghi und Ackoff 1985, S. 228-298).
Neoklassische Vorstellungen gehen davon aus, daß die Organisation durch ihre Umwelt determiniert wird. Welche Bedeutung kommt in einem evolutionären Konzept der Umwelt zu? Ihr kommt die Funktion zu, Systeme aus überlebenskritischen Blickwinkeln zu bestimmen bzw. neu zu definieren. Die Umwelt selektiert nach ganz bestimmten Kriterien (Variablen) gewisse soziale Systeme aus, die sich bewährt haben.
"Soziale Systeme sind somit unausweichlich zu einer Anpassung an die spezifischen Bedingungen ihrer Umwelt gezwungen, wobei die Umweltbedingungen als Selektionsfaktoren wirken, denen das soziale System durch sein Systemverhalten genügen muß." (Vgl. Segler 1985, S. 119).
Klimecki et al. (1991, S. 113) fassen zusammen: "[...] Komplexitätsprobleme werden durch Anpassung bewältigt. Sind soziale Systeme dazu nicht in der Lage, werden sie ausselektiert. [...]. Durch den Evolutionsprozeß soll es zu einer immer besseren Anpassung an die Umweltbedingungen kommen, womit die Lebensfähigkeit erhöht wird."
Dieser Sichtweisen folgend wird auf die Schaffung und Nutzung der inneren Logik von Systemen verzichtet: Vielmehr wird als Entwicklungsgrundlage auf das "Machen" bzw. das "Verändern" vertraut. Dieser "Macher-Ansatz" ist für eine LO jedoch kritikwürdig, denn Organisationen i.S. von sozialen Systemen sind nicht nur Maschinen oder triviale Organismen, sondern sie sind durch Menschen (Akteure) politisch und kulturell definierte Institutionen (vgl. Ebenda). Neben den Umweltbedingungen als Selektionsfaktoren und die Komplexitätsreduzierung sind die evolutionären Möglichkeiten zu berücksichtigen. Das heißt, gemäß einer Evolution erfolgt nicht mehr die Anpassung an Umweltbedingungen sondern eher eine innere Aktivität hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den Umwelteinflüssen.
Die Akteure sozialer Systeme sind unter konstanten Umweltbedingungen frei, ihre Ziele und Zwecke selbst zu bestimmen. Menschen können sozialen Systemen neben der Anpassungsauffassung jederzeit auch den Sinn (Systemzweck) des Systems neu bestimmen (vgl. Gharajedaghi und Ackoff 1985, S. 291). Dazu müssen soziale Systeme in die Lage versetzt werden, sich selbst gestalten zu können, um ihre Aufgabe und den damit verbundenen Nutzen zu erbringen. Nützlich kann ein soziales System nur sein, wenn dieses System einem Sinn folgt, welcher von allen auch nachgefragt wird. "Soziale Systeme benötigen deshalb die Fähigkeit, aktiv zu sein, autonom und selbstbestimmt zu handeln." (Vgl. Klimecki et al. 1991, S. 114).
Soziale Systeme sind im Grunde genommen nichts anderes als durch Menschen geschaffene Zusammenkünfte von Handlungen und Strukturen, die, wenn sie ihr Ziel und ihren Zweck und somit ihren Sinn verfehlen sollten, jederzeit wieder aufgelöst bzw. neu gestaltet werden können.
Ein evolutionstheoretisches Konzept faßt die bisherigen Erkenntnisse organischer Systeme zu einem umfassenden interdisziplinären Konzept zusammen. Hiernach stellt es neben der Notwendigkeit der Anpassung des Systems an seine Umwelt zudem die Möglichkeit der Nutzung selbstaktiver Prozesse von und in Systemen in den Vordergrund. Dies ist hilfreich für das Verstehen eines organisationalen Lernens, da Lernen im Grundverständnis nicht aufgelegt werden kann, sondern aus einem aktiven Handeln des Lernsubjektes hervorgeht. Lernen hat demnach auch immer etwas mit Entwicklung zu tun.
Bevor Zusammenhänge näher beschrieben werden, wird im folgenden dargestellt, warum Veränderung und damit verbunden Entwicklung (also Lernen) für die Überlebensfähigkeit einer Organisation eine große Rolle spielt.
© 1997 Gerald Lembke