NEWS
BLOG
SCIENCE
ECONOMICS
ARTS
METAPHON
AUTHOR
INDEX
SITE SEARCH
LINKS
IMPRESSUM
CONTACT
|
Von Pilzen, Menschen,
Dinos und Bakterien, oder:
Was ist das Ziel der Evolution?
von Joachim Paul
Anmerkung: Dieser Aufsatz wurde erstveröffentlicht im
Periodikum des
Medienzentrum Rheinland, im Medienbrief, Ausgabe 03/98, ISSN 1615 - 7257
und ist hier geringfügig überarbeitet wiedergegeben anstatt eines Nachrufs
auf den am 20. Mai seinem Krebsleiden erlegenen
Stephen Jay Gould.
Als außerordentlicher und unbequemer Vor-, Nach-, und
Querdenker präsentierte sich der renommierte US-amerikanische
Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould in einem ausführlichen Interview des
Nachrichtenmagazins „Der Spiegel" (Ausgabe 10/98, S. 190) anläßlich des
Erscheinens der deutschen Ausgabe seines Buches „Illusion Fortschritt" im
Verlag S. Fischer. Die Leserzuschriften des Spiegel fielen dementsprechend
umfangreich aus, von emotionaler Ablehnung bis hin zu kompromißloser
Zustimmung zu den Thesen Goulds. Grund genug, dies hier - im Hinblick auf
den Biologieunterricht sowie die durch Spielbergs Kuscheldinos verursachte
anhaltende Omnipräsenz des Themas „Evolution" in den Medien – noch einmal
kurz aufzugreifen.
Plakativ auf den Punkt gebracht lassen sich Goulds
Thesen etwa wie folgt zusammenfassen: Die biologische Evolution hat kein
Ziel, es sei denn, das der Vielfalt der Lebensformen. Angesichts der
Tatsache, daß gerade die Stammbaumgruppen der „Echten Bakterien" und der
„Archaebakterien" eine ungeheure Artenvielfalt hervorgebracht haben, handelt
es sich also um eine klare Absage an die weit verbreitete Überzeugung, daß
die Evolution die Entwicklung von immer komplexer organisierten mehrzelligen
Organismen begünstigt, bzw. zum Ziel hat. Genau diese Denkweise findet sich
jedoch in so manchen Kinder- und Schulbuchformulierungen implizit wieder,
wie z. B: „Vom Einzeller zum Menschen", in denen der Mensch als die Krone
oder gar als Ziel der Schöpfung begriffen wird.
Demzufolge wirken die Thesen des Evolutionsbiologen
auch auf gemäßigte Gemüter zunächst wie eine kalte Dusche und rufen nicht
selten Zorn hervor, hatte man – trotz Darwin – insgeheim doch immer noch
geglaubt, „gekrönt" zu sein.
Gönnt man sich jedoch einen zweiten Blick auf die
Evolution à la Gould, treten andere umso interessantere Gesichtspunkte
zutage. Zunächst wird die Tatsache auch von ihm nicht bestritten, daß z. B.
das menschliche Gehirn das bisher komplexeste Produkt der Evolution ist. Er
weist vielmehr anhand von Schätzungen heutiger Artenpopulationen und mit den
unbestechlichen Werkzeugen der Statistik wie Verteilung, Verteilungsschiefe
und Variationsbreite nach, daß es keinen „angetriebenen" Trend zu höherer
Komplexität gibt. Trägt man nämlich die Komplexität auf der Abszisse und die
Häufigkeit des Auftretens der Arten auf der Ordinate ab, ergibt sich eine
sogenannte rechtsschiefe Verteilung, die ihr Maximum in der Nähe des linken
Randes mit der geringsten Komplexität besitzt. Das prinzipielle Aussehen
dieser Verteilung, so Gould, habe sich aber seit dem Präkambrium nicht
verändert. Das Maximun liegt immer noch an derselben Stelle nahe des linken
Randes im Bereich der Bakterien. Besäße die Evolution einen „angetriebenen"
Trend, müßte sich das Maximum im Laufe der erdgeschichtlichen Entwicklung
nach rechts verschoben haben zugunsten von Lebewesen mit höherer
Komplexität. Lediglich der rechte Schwanz der Verteilung ist länger
geworden. Nahezu sämtliche mehrzelligen Organismen sind eben „Bewohner"
dieses rechten Schwanzes.
Anhand vieler weiterer Beispiele und mit einer
profunden Argumentation zeigt Gould auf, daß es unser Standort ist, von dem
aus wir die Evolution betrachten, gepaart mit unserem Sehnen nach einem Sinn
in all dem, der zu einem „eingefärbten" Bild der Evolution führt. Diese
Absage an die Adresse des Anthropozentrismus begründet er zusätzlich durch
den falsch verstandenen und interpretierten Charles Darwin, der sich selbst
mehrfach und widersprüchlich zum Thema „Fortschritt" geäußert hat,
Gegenstand einer ganzen Reihe von wissenschaftshistorischen Publikationen.
Nach des Autors Überzeugung kommt hier der „Mensch" Charles Darwin ins
Spiel, der als intellektueller Radikaler sehr wohl gewußt hat, was seine
Theorie beinhaltet, als gesellschaftlich Konservativer jedoch nicht das
Grundprinzip seiner Kultur untergraben wollte, der er sich sehr verbunden
fühlte, und in der er bestens etabliert war.
Für europäische Leser gleichermaßen kurzweilig wie
ungewöhnlich läßt Gould sein Buch mit einer Betrachtung über Baseball
beginnen, Amerikas Volkssport Nr. 1. Dieses Spiel ist für statistische
Modellrechnungen besonders gut geeignet, da -anders als im Fußball -die
Regeln seit 1890 nicht verändert worden sind. Bei amerikanischen Sportfans
viel diskutiert, ist seit 1941 kein Batter (Schlagmann mit Baseballschläger)
mehr über einen jährlichen Trefferdurchschnitt von 40% hinausgekommen.
Begründet wird dies paradoxerweise nicht durch ein historisches „Nachlassen"
der Batter, sondern durch eine deutliche Verbesserung der Spielqualität
insgesamt, z. B. durch besser ausgerüstete Pitcher (Werfer) und Catcher
(Fänger).
Bezogen auf die Evolution heißt dies, daß nur die
Vielfalt des Ökosystems insgesamt als Qualitätssteigerung oder Fortschritt
interpretiert werden kann. Daraus abgeleitet ergibt sich für den
Evolutionsbiologen die menschliche Verantwortung für den Erhalt dieser
Vielfalt, der Mensch als „Gärtner" der Ökosphäre, die ihn hervorgebracht
hat.
Daß wir nicht das Ziel der Evolution gewesen sind,
ist für Gould keine Demütigung, im Gegenteil, wir haben nun die Möglichkeit,
uns selbst Sinn und Ziel zu geben.
Als Konsequenz zieht er eine sehr klare
Trennungslinie zwischen der biologischen Evolution und der kulturellen
Entwicklung des Menschen, die Wirkstrukturen besitzt, die er mit Lamarck und
nicht mit Darwin in Verbindung bringt, ein deutliches und politisches „Nein"
zu allen sozial-und neodarwinistischen Auffassungen: „Der offenkundige
Unterschied zwischen Darwinscher Evolution und kulturellem Wandel liegt
eindeutig in den gewaltigen Möglichkeiten -die die Kultur bietet, während
sie der Natur fehlen -zu schnellen Veränderungen, die sich in einer Richtung
ansammeln. In einem unmeßbar kurzen geologischen Augenblick hat der
kulturelle Wandel die Erdoberfläche so verändert, wie kein natürlicher
Evolutionsvorgang es im darwinistischen Maßstab der unzähligen Generationen
jemals bewerkstelligen könnte."
Ganz allgemein und auch im spezielleren Sinn eines
„auf die Füße gestellten" Charles Darwin bietet Stephen Jay Gould nicht nur
Wissenschaft aus erster Hand in verständlicher Form, sondern auch „Denk- und
Diskutierstoff" für den Kontext Schule. Und in geistes- oder
gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen kann er als beispielhafte Mahnung
dienen, Sprachrahmen und Metaphorik der Naturwissenschaften nicht einfach
blind auf kulturelle und wirtschaftliche Phänomene zu übertragen, so wie
dies nicht nur mit der Evolutionstheorie sondern auch mit der Chaostheorie
geschehen ist.
Quellen:
[1] „Wir sehnen uns nach einem Sinn", Spiegel-Gespräch mit Stephen Jay
Gould,
DER SPIEGEL 10/98, S. 190
[2] Stephen Jay Gould, „Illusion Fortschritt, Die vielfältigen Wege der
Evolution",
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 1998
|