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Authentischtennis

ein Match zwischen Barbara Ester und A.J. Weigoni

BARBARA ESTER: Hätte nicht gedacht, dass wir uns nach den Kollegengesprächen* noch einmal auf diese Art austauschen würden. Was glaubst Du, ist Zlatko authentisch oder ein Authentizitätsdarsteller?

A.J. WEIGONI: Im Benjaminschen Sinn hat er eins sicher nicht, eine Aura. Er ist auch kein Original, nur jemand, der wie viele andere unter dem Zwang steht, sich selbst verwirklichen zu müssen und dabei feststellt, dass da gar nichts ist was eigentlich zur Verwirklichung drängt. Jedem das Seine und allen das Gleiche. Möglicherweise hat die Oberfläche über die Substanz gesiegt, wäre spannend das unter dem Lack hervorzukratzen. Zu den Sachen selbst!

ESTER: Individualität im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit?

WEIGONI: Bei meinem Streifzügen im Netz beobachte ich, das Sexualität zur
symbolischen Arena mutiert. Sex-Appeal wird inszenierten Charakteren zugeschrieben. Sex-Crossing ist im 21. Jahrhundert der Königsweg zu sich selbst. Für Multi-User-Dungeons erhalten Apparaturen eine Aura. "Träume hätten keine Aussenwände.", notierte Walter Benjamin im Passagen-Werk, genauso witterte er, verbalen Inhalt und geistiges Wesen unterscheidend, die Substanz der Sprache in ihrer Innenseite, zu der sich Autor und Leser erst hindurcharbeiten müssten. Glaubst Du, die Figuren in unserem »Massaker«** sind authentisch?

ESTER: Man kann der Sprache der Strasse im 21. Jahrhundert eine künstlerische Form geben und den Figuren Sätze von souveräner Grösse und selbstreferentieller Leere in den Mund legen. Wenn das Leben irrsinnig ist, kann die Literatur nicht vernünftig sein, kann einer unheilen Welt nicht immer bloss die heile vorspielen. Die Protagonisten in »Massaker« drängen sich nicht auf, sie sind Geschöpfe, die durch den Text geistern, schemenhaft teilweise, um dann mit brachialer Gewalt eine Präsenz zu erreichen, die das Erträgliche der Normalität sprengt.

WEIGONI: "Die Sprache durchbrechen, um das Leben zu ergreifen", hat Antonin Artaud gefordert. Zugespitzt gesagt, wird Banalität zunehmend zum Mass des Alltäglichen?

ESTER: Wir müssen im 21. Jahrhundert mit unseren Formulierungen die brutalen Implikationen des Normalen freilegen und mit Sprache immer an die Grenze zum Erträglichen gehen, diese Demarkationslinie jedoch nicht überschritten.

   
 

Matthias Hagedorn über »Massaker«

Barbara Ester und A.J. Weigoni geben der Sprache der Straße im 21.
Jahrhundert eine künstlerische Form. Sie siedeln ihren Gossenroman auf der
Cranger Kirmes in einem hysterischen Trubel an und legen den Figuren Sätze
von souveräner Größe und selbstreferentieller Leere in den Mund. Die
Protagonisten in »Massaker« drängen sich nicht auf. Sie sind Geschöpfe,
die durch den Text geistern, schemenhaft teilweise, um dann mit brachialer
Gewalt eine Präsenz zu erreichen, die das Erträgliche der Normalität
sprengt.

Diese Figuren verunsichern und stehen immer kontrastreich zur bunten
Vielfalt der Kirmes. Bewusst stellen sich Barbara Ester und A.J. Weigoni in
die Tradition der hard-boiled school, die in den 1920-er Jahren mit dem
Black Mask Magazine, einem amerikanischen Groschenheft, ihr Publikum fand.
Sie spitzen auf ihre Weise zu, daß Banalität zunehmend das Maß des
Alltäglichen wird, legen mit ihren Formulierungen die brutalen Implikationen
des Normalen frei.

Ihre Sprache ist immer an der Grenze zum Erträglichen; überschritten wird
diese Grenze nicht. Poesie und Härte, Abscheu und Einfühlsamkeit fassen sie
zu einer ungewohnten Einheit zusammen. Das schafft Aufmerksamkeit, ist
allerdings keine Effekthascherei.

Die Hauptfigur Jacqueline erscheint als klassisches Motiv der
männermordenden Hexe, gefährlich wie Tollkirschen und verführerisch wie
Lulu. Sie ist der Würgeengel des Mannes, zugleich selber dem Untergang
geweiht. Dabei vereinigt Jackie tödliche Naivität, seelische Verwilderung
und heilige Sünde. Barbara Ester und A.J. Weigoni hätten keinen besseren Ort
für sie als die Cranger Kirmes aussuchen können.