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Versuch über den Wunsch zu fliegen

 

Anlässlich des Todes von Günter Schulz (26.05.1950 - 12.05.2007)

von Joachim Paul

 

 

 

Jedes Mal, wenn ein Mensch verstirbt, stirbt auch ein ganzes - dem Rest der Welt nicht zugängliches - Universum an Gedanken, Gefühlen und Möglichkeiten. Ein Standpunkt verschwindet aus unserer Welt.

 

Am 12. Mai 2007 verstarb Günter Schulz nach langer und schwerer Krankheit im Alter von 57 Jahren.

 

Günter Schulz war studierter Literaturwissenschaftler, also ein Mann des Wortes. Aber in dem besten Sinne, dass schon das bewusste Aussprechen eines Wortes eine Tat darstellt. Er pflegte eine gleichermaßen freie und engagiert-gestaltende Beziehung zu unserer deutschen Sprache, die weit über ein rational geprägtes Maß hinausging.

 

Dabei gilt es, Folgendes zu bedenken: Sprachenliebe setzt Menschenliebe voraus.

 

Er selbst würde sich eher als Künstler denn als Wissenschaftler bezeichnet haben, hätte man ihn zu einer Selbsteinordnung aufgefordert. Aber Günter Schulz gab im Grunde nichts auf derartige Kategorien.

 

Nicht nur daher muss jeder Versuch, sein Leben nachzuzeichnen, lediglich Stückwerk bleiben. Denn niemand wird jemals mehr seinen Standpunkt einnehmen können.

 

Lyriker, Literat, Organisator für Bürokommunikation, Marathon-Mann, Essayist, Drehbuchautor und angehender Romancier, Netzwerker und Förderer, das Leben von Günter Schulz hatte schon in seinen Tätigkeiten derartig viele Facetten, dass sich unmittelbar die Frage nach dem „Menschen dahinter“ auftut.

 

Ein Blick auf sein Leben jenseits der bloßen Daten und Fakten zeigt, dass hier ein Suchender zu Werke geht, Erfahrungen, Blickwinkel und Sichtweisen schürft und sammelt, aber vornehmlich nicht, um diese sprachlich zu rahmen, in bloßen Text zu gießen, an die Wand zu hängen oder in die Ecke zu stellen, sondern um sie im eigenen Erfahrungsschatz aktiv miteinander zu verknüpfen, sich selbst reicher zu machen.

Diesen Reichtum konnte jeder spüren, der in Kontakt mit ihm trat, entweder als Angebot oder als Herausforderung oder als beides zugleich. Er ist das, was wir Persönlichkeit nennen.

 

Sein Leben auf die Möglichkeit von Erfahrungen hin auszurichten, hatte frühe Wurzeln. So erzählte er mir, dass er sich als kleiner Junge zum Einschlafen manches Mal auf den Bauch gelegt habe, damit ihm über Nacht Flügel wachsen können.

 

1999 ließ sich für Günter Schulz die lang angestrebte Möglichkeit realisieren, seine Berufstätigkeit aufzugeben. Zusammen mit seiner Ehefrau vollzog er diesen Schritt in Richtung Selbstbestimmtheit.

 

Auf die Frage, was er denn nun eigentlich machen wolle, antwortete er: „Erstmal Nichts. Ich will einfach nur Da sein.“

 

Die Reaktion darauf bei Freunden und Angehörigen war nicht selten Verständnislosigkeit, manchmal sogar schiere Fassungslosigkeit, so auch beim Verfasser dieser Zeilen.

 

Wie kann es sein, das jemand einfach nur Nichts macht?

 

Auch wenn Günter Schulz sich später – aus seinem Da sein heraus – in Tätigkeiten wie der des Romanschreibens und weiteren Projekten selbst entwarf, so bleibt doch die Provokation ausgesprochen: „Ich will einfach nur Da sein.“

 

Aber bei genauerer Betrachtung sehen wir, darin steckt auch ein intimer Wunsch: „Ich möchte die Erfahrung machen, möchte wissen wie es ist, einfach nur Da zu sein und kein wie auch immer geartetes Ziel zu haben oder gar haben zu müssen.“

 

Und dieser Wunsch ist keinesfalls abwegig sondern kann erfühlt und verstanden werden. Der französische Schriftsteller Georges Bataille sagt uns:

 

„Das Grundrecht des Menschen ist, Nichts zu bedeuten. ….

Der Sinn ist es, der verstümmelt und fragmentiert.“


Der Sinn verstümmelt und fragmentiert, zerbricht uns. Folgen wir den Worten des Dichters, dann hat Günter Schulz nach der Möglichkeit gegriffen, „ein ganzer Mensch“ zu sein. Auch dafür haben wir ein Wort: Freiheit.

 

Zum Freisein braucht es Mut, denn Freiheit bedeutet immer auch „Einsicht in Notwendigkeit“. Das verdient unseren höchsten Respekt.

 

Darüber hinaus entspricht es dem ethischen Imperativ Heinz von Foersters: „Handle stets so, dass die Zahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“

 

Denn wer hat mehr Wahlmöglichkeiten als derjenige, der „frei“ ist?

 

„Wahlmöglichkeiten für Dich und Andere!“, hätte Günter Schulz – rufend und den Arm erhoben – hinzugefügt.

 

Die „Anderen“, das waren für Günter Schulz seine „Wahlverwandtschaften“, zuallererst seine Frau, mit der er seinen Wunsch teilte und seine Freundinnen und Freunde, denen er fördernd zur Seite stand.

 

Ende 2005 wurde das Ehepaar Schulz jäh aus seinem Leben und seinen Plänen gerissen durch eine medizinische Diagnose, der an Hoffnungslosigkeit nur wenige andere gleichgestellt werden können. 

Viel zu früh - hat der biologische Teil unserer menschlichen Natur, in dem es weder Platz für Gnade noch Gerechtigkeit gibt, dem Ehepaar Schulz, und allen, in deren Leben Günter Schulz eine Rolle innehatte, keine Wahl gelassen.

Insofern ist es müßig, zu fragen, ob er sein Schicksal annahm. Welche Wahl hatte er denn, außer der, die er letztlich traf, nämlich tapfer zu sein?

Flügel sehen nicht immer aus wie Flügel, und ein Flug ist nicht immer ein Flug des Vogels.

 

Für seine Frau und für uns Hinterbliebene, besonders diejenigen, die die Wahl getroffen haben, dass ihnen nicht der Glaube einer Religion zu Gebote steht, mag tröstend sein, dass wir in Günter Schulz auf ein aufrechtes Leben blicken können und einen Menschen, dem es, wenn auch nur für kurze Zeit, gelungen ist, Schranken zu entrinnen und sich Flügel wachsen zu lassen.

Denjenigen, die Günter Schulz persönlich „kannten“, obliegt die Pflicht, sich an ihn zu erinnern, ihn in sich ein Stück weiterleben zu lassen.

 

Günter Schulz wurde am 21. Mai 2007 auf dem Alten St. Jacobi Friedhof am Herrmannsplatz in Berlin-Neukölln beigesetzt.

 

Günter Schulz im Vordenker:

Vom Ende der Industriegesellschaft
und ihrer Wiedererschaffung als Literatur (Essay)

Siehe Mittwoch (Lyrik)

21er Mai - Lyrik von Günter Schulz und Bilder von Emily Pütter