Eine Aufgabe des Poeten, ein elementarer Grund zur schriftstellerischen
Betätigung ist es, das Vergängliche haltbar zu
machen. Prosa entreißt gedanklich Eingefangenes dem
Zeitstrom, der sonst in das Vergessen führt. Damit erweist
sich die Verschriftung als ein zentrales Element von dem, was man
gemeinhin "Kultur" nennt. Aber alles Erdichtete ist auch etwas
Erfundenes. Wer eine Geschichte wahr nennt, beleidigt Kunst und
Wahrheit zugleich. Weigoni präsentiert hier weit jenseits des
zeitgeistigen Selbstdarstellungsnarzissmus eine Wahrheit, die die
seine, also subjektiv ist, als ein Angebot, dem eine gewisse Demut
innewohnt. Allein das schon hebt heraus.
Tag
der Erstausgabe - Bezugsmöglichkeiten
Hier die Rezension von Constanze Schmidt
Lebensabschnitts-
gefährten
Veduten werden
sträflich unterschätzt. Sie gelten als
kulturloser Leerraum zwischen den Metropolen oder dienen als
Hintergrund für beschauliche Gemälde. Stellt man eine
Mauer in die Landschaft, so ändert sich das Bild. Bereits 1964
empfiehlt Joseph Beuys als künstlerische Bewältigung
der Zonengrenze die Erhöhung der Berliner Mauer um
fünf Zentimeter, die Begründung des
Fluxus-Künstlers lautete: "Bessere Proportion!"
BRD / DDR
Das Titelbild dieses
Epochen- romans zeigt eine Neigung zur Philatelie,
eine Briefmarke, die im Jahr der Mondlandung zum 20. Jahrestag der DDR
erschienen ist, wird mit dem Poststempel vom 9. November 1989
entwertet. Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein endzeitliches Panorama
über die Spätphase der DDR und zugleich dem
Verblassen der alten BRD, das in dieser Binnen- und Draufsicht so noch
nicht beschreiben wurde. Dieses Werk ist auf einer Metaebene eine
geschichts- philosophische Deutung dieses Momentums. Der Text ist
präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate,
sondern skizziert den Denkprozess der Figuren. A.J. Weigoni
hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes,
den Schrecken der ersten Erscheinung des Neuen. Er unterstreicht einen
Anspruch, die historische Totalität dieses Epochenbruchs
abzubilden, und zwar in einer symbolischen, gleichnishaften
Erzählweise. Es ist sehr aufschlussreich zu lesen wie
kurzatmig man bisher die Untergangsgeschichte der DDR und über
das Verlöschen der alten BRD erzählt hat. Als
Geschichte einer Vertreibung aus dem Paradies, wie es Ingo Schulze in
Adam und Evelyn es getan hat - oder als Blick in die realsozialistische
Vorhölle wie Uwe Tellkamp in Der Turm. Die strukturelle
Vielgestaltigkeit der Szenen in Abgeschlossenes Sammelgebiet, die
Wechsel in Stilebene und Erzählform nutzt Weigoni, um auch in
die hinteren Winkel seines Panoramas zu spiegeln und somit auch den
Untergang der alten BRD zu zeigen. In lange und vor allem geduldig
ausgesponnenen Handlungsfäden werden viele verschiedene
Personen miteinander verbunden und streben gemeinsam dem Ende entgegen.
Poesie ist immer auch eine Befragung der identitären Konzepte,
der Wahrnehmungen, der Zuschreibungen, weil genau die Diskurse, die
sich sehr eng um Identität drehen, selbst das Problem sind. Im
Mittelpunkt des weit verzweigten Romans steht das zentrale Dreigestirn
der Lebens- abschnittsgefährten Charlotte, Jane und Moritz
symbolisiert durch den Kapiteltrenner, der sich generiert durch jedes
Kapitel des Romans zieht, beginnend von Adams herzhaftem Biss, bis
hinzu dem, was von der Liebe übrig blieb.
BR/D/DR
Die Écriture von
A.J. Weigoni ist
Enthüllungsarbeit, Trauerarbeit, Arbeit am Denken. Und
letztlich an der Sprache selbst. In Abgeschlossenes Sammelgebiet zeigt
er Entwurzelte, die an der alten Gesellschaftsordnung scheitern. Es ist
die enorme kompositorische Leistung, mit der Weigoni in
25-jähriger Arbeit die Stoffmasse bewältigt hat. Das
Buch ist von epischem Zuschnitt und gleichsam entwirft es ein
großes erzählerisches Spektrum mit den
Schauplätzen Düsseldorf, Berlin, Rügen,
Paris und New York, sowie den unterschiedlichsten
Lebensläufen, die er zudem mit einer Vielzahl literarischer
Mittel darstellt und diese Details zu einer inneren Geschlossenheit
zusammenzufügen. Dazu setzt er geschickt wiederkehrende Motive
und seine Fähigkeit zur differenzierten Schilderung von
Lebensläufen ein. Auf einen Wenderoman will man dieses Buch
nicht reduziert wissen, denn über das Erzählte hinaus
arbeitet Weigoni an einem unausge- sprochenen Projekt einer
Rückgewinnung des Epischen. Er entwirft in diesem Roman den
Kosmos der untergehenden BR/D/DR völlig wieder erkennbar und
völlig neu als Musik aus Gedanken, Worten, Figuren,
Realität und Fantasie. Es ist der Aufbruch aus einer
stillgelegten Zeit, die hier beschrieben wird, und aus der
Kulturversunkenheit herausgerissen wird. Dieser Schriftsteller einwirft
ein spiegelverkehrtes Panorama der verkrusteten BRD, das die Schichten
und Milieus der DDR-Gesellschaft von der Intelligenzija, der
Nomenklatura, den Ausreise- willigen, den Arbeitern bis zu
aufmüpfigen Künstlern und bösartigen
Nachbarn erfasst. Wir finden epische, niemals langweilige
Schilderungen, eine souveräne Komposition dieses Romans,
seiner Stimmigkeit, den zahllosen, nie aufdringlichen literarischen
Anspielungen und Symbolen. Außerdem entfaltet der Roman eine
soghafte Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Ausgefeilte
assoziative Passagen zeigen Weigonis Fähigkeit zur
Verdichtung, zu einem elegischen, symbolischen Schreiben.
Schland
Die deutsche Geschichte des 20.
Jahrhunderts ist geprägt durch eine Erinnerungsscham. Weigoni
wagt den coolen Blick auf die untergehende Östliche und der
drei westlichen Besatzungszonen. Die Sichtweise, dass Gesellschaften ab
einem gewissen Zivilisationsgrad die Werkzeuge politischer
Willensbildung abhandenkommen, wirkt zum Ende hin erhellend.
Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein großflächig
angelegtes Selbstvergewisserungsverbuch. Es geht um nicht weniger als
den Versuch, dieses neue Verhältnis, das "Zeitalters
der Extreme" (Eric Hobsbawm), zu begreifen. Weigoni widerlegt poetisch,
dass deutsche Themen im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung
bewältigt wurden, auf dem Territorium der DDR sind sie
weiterhin virulent sind. Selbstverständlich geht es in diesem
Epochenroman um die deutschesten Themen: Innerlichkeit, individuelles
Pathos und um Schicksal. Dieses Epos ragt zum 25. Jubiläum des
sogenannten Mauerfalls aus der Saisonware deutscher Gegenwartsliteratur
weit heraus. Dieser Schriftsteller hat den ultimativen Roman
über die DDR, diese lächerliche sowjetische Satrapie
auf deutschem Boden, und die völlig ausgelaugte alte BRD
geschrieben. Weigoni verweigert bei aller Detailgenauigkeit des Blicks
den verklärenden Gestus. Dies allein wäre bereits,
nach all dem Wishy-washy der Biermanns, Wolfs, und Heins, eine
Erlösung. Dieser sprachmächtige Schriftsteller
präsentiert was die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte
nicht hatte, er ist: genialisch ausufernd, nutzt die ganze Bandbreite
vorhandener Erzählmittel, ist voller Humor und Melancholie,
Wut und Sentimentalität, Spott Ernsthaftigkeit und versteckt
dabei nicht Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Es ist ein Echolot in
die Zeit zweier untergehender Länder. Was warum in welchem
Umfang als erinnerungswürdig gilt, ist auf eine konstruktive
Weise unklar, dies entscheidet nicht die Vergangenheit, sondern - mit
etwas Abstand - die Jetztzeit. Darauf kann man aufbauen.
Weiteres zum Roman auf KUNO
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Constanze Schmidt // Rezension:
Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das
Labor, Mülheim 2014 - Limitierte und handsignierte Ausgabe des
Buches als Hardcover.
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