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Günther Philosophy Web IM KONTEXT:
Gotthard Günther
2000 Special
|
Gotthard Günther,
der Einstein der Philosophie
von Joachim Paul
"Alles ist relativ!", so mag auch der
Passant auf der Straße oder der Verkäufer im Laden um die Ecke auf die
Frage nach den Theorien des wohl populärsten Physikers antworten, mit denen
uns der Boden des Absolutheitsanspruchs an Bezugspunkte im Kosmos unter den
Füßen weggezogen worden ist. Aber eine Art Einstein in der Mutter der
Wissenschaften, wie ist das zu verstehen? Welcher Boden soll denn dort
weggezogen oder relativiert worden sein, ja gibt es in der Philosophie
überhaupt einen, und welche Bedeutung hat das?
Zumindest für das Abendland kann zweifelsfrei gesagt
werden, daß die Basis allen Philosophierens, die Gesetze des Denkens, in
der im antiken Griechenland entwickelten Logik zu suchen sind, die auch die
Aristotelische genannt wird. Deren Formalisierung - durch Gottfried Wilhelm
von Leibniz und später den Engländer George Boole - findet im 19. und 20.
Jahrhundert in technischen Anwendungen ihren "handfesten"
Niederschlag und ist gerade dabei, über Computer und Internet unser Leben
von Grund auf umzukrempeln. Und zur Veränderung eben dieser Gesetze
schreibt bereits 1935 der amerikanische Philosoph Oliver L. Reiser: "If
the laws of thought should fall, then the most profound modification in
human intellectual life will occur, compared to which the Copernican and
Einsteinian revolutions are but sham battles." ("Sollten die
Gesetze des (bisherigen) Denkens niederbrechen, dann wird es die tieftste
Wandlung im intellektuellen Leben des Menschen geben, verglichen mit welcher
die Kopernikanische und die Einstein'sche Revolution nur Scheinschlachten
sind.")
Es ist das Verdienst des Philosophen und Logikers
Gotthard Günther (15.06.1900 - 29.11.1984), dessen Geburtstag sich in
diesem Jahr zum 100sten Male jährt, an diesen Gesetzen gerüttelt und
Türen in ein Neuland des Denkens aufgestoßen zu haben. Und er kann mit Fug
und Recht zu den Großen des vergangenen Jahrhunderts gezählt werden, auch
dann, wenn sein Werk - fernab vom philosophischen Zeitgeist - bis heute vom
Mainstream der Wissenschaften kaum beachtet worden ist. Wer war dieser Mann?
Aufgewachsen in einer schlesischen Pastorenfamilie
und geprägt vom Preußentum beginnt der junge Günther, sein
Philosophiestudium systematisch zu planen. Da die Entwicklung der östlichen
Kulturen um ungefähr 400 Jahre vor der griechischen anzusetzen ist, so
Günther in seiner Autobiographie, ist es für ihn selbstverständlich, mit
Sanskrit, Indologie und Sinologie zu beginnen. Erst als er "das Streben
nach Exaktheit in der abendländischen Philosophie" für sich entdeckt,
tritt für ihn die asiatische langsam in den Hintergrund. Auf eine in einem
Interview 1983 gestellte Frage, warum er denn nicht bei der fernöstlichen
Philosophie geblieben sei, antwortet Günther: "Weil die Inder mit
ihrer epochemachenden Entdeckung der Null bei all ihrer Metaphysik
mathematisch nichts angefangen haben, während die westliche Technik was
damit angefangen hat."
Der intellektuelle Durchbruch für den jungen Mann
sind die geistes- wissenschaftlichen Vorlesungen von Eduard Spranger in
Leipzig. Über dessen Auffassung, dass alle zukünftigen Problemstellungen
in der Philosophie von Hegels Logik auszugehen hätten, entdeckt Günther
den Leitstern seiner Lebensarbeit. Schließlich promoviert Günther bei
Spranger, und aus der Dissertation geht 1933 ein Buch hervor mit dem Titel
"Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik",
einigen Kritikern zufolge eine der gelungensten Interpretationen der
"grotesken Felsenmelodie" - so der junge Marx - Hegelscher
Gedankengänge. Hier zeigt Günther, dass sich ausgehend von der Logik
Hegels ein Formalismus konstruieren läßt, gegenüber dem die klassische
zweiwertige Aristotelische Logik zwar nicht aufgelöst wird, sich gleichwohl
aber als Spezialfall einer umfassenderen mehrwertigen Logik darstellt. Jene
erweiterte Logik, so der eingangs genannte Vergleich, verhält sich zur
klassischen - in etwa - so, wie die Physik Einsteins zu der Newtons.
Schon hier deutet sich eine erste Bruchlinie zwischen
Günther und dem philosophischen Mainstream an. So wie Willy Hochkeppel es
in seinem Essay in DIE ZEIT über Gotthard Günther ausdrückte, zeigten
Hegelianer allenfalls "freundliche Verständnislosigkeit"
gegenüber derartigen formalistischen Experimenten, während Vertreter der
formalen Logik Günthers Arbeiten kaum zur Kenntnis nahmen.
Nach einigen Jahren der Assistenz bei Arnold Gehlen
an der Universität Leipzig folgt Günther 1937 seiner Frau, die Jüdin ist,
über Italien nach Südafrika und lehrt zwei Jahre Philosophie an der
Universität Stellenbosch. 1940 wandert er in die USA ein. Hier lebt der
begeisterte Skiläufer, Segel-, Kunst- und Motorflieger zunächst von
bescheideneren Lehrtätigkeiten und kann sich ab 1945, wo er an der Widener
Library der Harvard Universität arbeitet, nebenbei den Vorarbeiten zu
seinem Hauptwerk "Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen
Logik" widmen, das 1959 im Felix Meiner Verlag in Hamburg erscheint. Am
Rande bemerkt gehört allein die Einleitung dieses Werkes mit zum Besten,
was jemals über die abendländische Philosophiegeschichte geschrieben
worden ist.
1948 schließlich beantragt Günther die
amerikanische Staatsbürgerschaft, aus Überzeugung und erst nachdem er ein
tieferes Verständnis für den amerikanischen Lebensrhythmus entwickelt hat.
Geholfen hierbei haben ihm seine Freundschaft mit John W. Campbell und die
Science-Fiction-Literatur, in der er nicht nur ein Kennzeichen des
amerikanischen Frontier-Geistes, sondern auch ein kulturell-literarisches
Symptom für den Versuch "eines totalen Ausbruchs aus der
klassisch-abendländischen Tradition des Denkens" sieht.
Seine Lage in den USA bessert sich inhaltlich und
wirtschaftlich erheblich, als er 1960 mit Warren McCulloch, dem eigentlichen
Vater der Kybernetik bekannt wird. Der Neurophysiologe wußte schon 1943,
dass die klassische Logik zur formalen Beschreibung von Prozessen in
biologischen Nervensystemen nicht ausreicht. McCulloch verhilft ihm zu
Vorträgen an renommierten Universitätsinstituten, denen alsbald Angebote
für zwei Professuren folgen. Günther entscheidet sich für eine
Forschungsprofessur am Biological Computer Laboratory BCL in Urbana,
Illinois, dessen Direktor Heinz von Foerster ist, und an dem neben
Fachleuten aus allem möglichen natur- und geisteswissenschaftlichen
Disziplinen der britische Kybernetiker W. Ross Ashby arbeitet. Günther
wirkt dort bis zu seiner Emeritierung 1972 als "Professor of Electrical
Engineering".
Seine Grenzgänge zwischen Hegel und Kybernetik,
seine Ansätze zu einer erweiterten Rationalität, die aus der Überzeugung
geboren sind, dass das Leben eben nicht nach den bisherigen Gesetzen
menschlicher Rationalität konstruiert ist, stoßen in Deutschland auf
Unverständnis. So auch seine 1968 in der Zeitschrift "Soziale
Welt" veröffentlichte fundamentale Kritik an Jürgen Habermas' Logik
der Sozialwissenschaften. Und Günthers stringent von der logischen Struktur
des Denkens ausgehende Argumentation kann in Deutschland zu diesem Zeitpunkt
auch gar nicht verstanden werden, hier bleibt man an der Oberfläche und
beschäftigt sich - auch im Rahmen der Studentenunruhen - in erster Linie
mit einer teilweise sehr emotionalisiert geführten Diskussion
gesellschaftlicher Werte und der Aufarbeitung des Dritten Reiches.
Er aber hatte sich, wie er in seiner Selbstdarstellung schreibt, inzwischen
die "typische Haltung der amerikanischen Kybernetik gegenüber der
Philosophie angeeignet, die ein unbesiegbares Mißtrauen gegenüber
Begriffen involviert, die nicht in machbaren Modellen realisiert werden
können". Und noch in seinem letzten großen Interview mit Claus Baldus
1983 schreibt er der Soziologie ins Stammbuch: "... die Art und Weise,
wie heute Soziologie und ähnliche Wissenschaften getrieben werden, die wird
nicht Bestand haben" ..... "Ich kann den Soziologen nur ein
gründliches Studium in Logik, Arithmetik oder Kombinatorik und Kybernetik
empfehlen. Ohne diese Grundlagen bleibt das meiste, was da geredet wird,
unverbindliche Meinung, dóxa, wie die Griechen verächtlich sagten."
Auf der anderen Seite grenzt er sich aber auch von dem positivistischen
Wissenschaftsprogramm eines Rudolf Carnap konsequent ab.
Wie ist nun Günther's Ansatz zu einer
philosophischen Erneuerung, einer Erweiterung der Logik zu verstehen? Sein
Denken und Schreiben greift bei der Begründung weit zurück in die Antike,
in die Fundierung der Aristotelischen Logik in der Metaphysik der Griechen.
Deren Logik ist als Weltanschauung auf die fundamentale Trennung von
Erkennen und Sein gegründet, von Subjekt und Objekt, Idee und Materie. Das
"Thema" der antiken Griechen ist gewissermaßen die einfache
Beziehung zwischen einem menschlichen Subjekt und der Objektwelt. Ein Ich
reflektiert über die Welt, das Ich denkt einen Gegenstand. Dem gegenüber,
so Günther, sei die Grenze des Philosophierens im deutschen Idealismus, und
hier durch Kant, dem Begründer der Transzendentalphilosophie, Fichte,
Schelling und vor allem Hegel erheblich weitergetrieben worden, das Thema
ist nunmehr das reflektierende Subjekt selbst, das den Gegenstand denkt. Der
logische Prozess ist jetzt also das Denken des Denkens des Gegenstandes.
Reflexion tritt hier doppelt auf. Oder anders gewendet, das Subjekt denkt
seine Subjekt-Objekt-Beziehung.
Wenn aber jetzt das Verhältnis des Subjekts zur
Objektwelt Gegenstand des Denkens ist und nicht mehr das Objekt, das Ding an
sich, dann, so Günther, müsse das Subjekt erkennen, dass es nicht nur
eine, sondern viele individuelle Subjekt-Welt-Beziehungen gibt. Und diese
lassen sich eben nicht mehr auf eine einzige allgemeingültige
Subjekt-Objekt-Beziehung reduzieren und sind daher - in ihrer Gesamtheit -
auch nicht mehr durch unsere zweiwertige Logik beschreibbar. Zitat:
"Begriffe wie "Ich", "Du" und "Wir"'
haben in der uns überlieferten Logik schlechthin keinen Sinn. Logisch
relevant ist dort nur die Konzeption: "Subjekt-überhaupt".
Aber zur Beschreibung der objektiven Wirklichkeit
toter Gegenstände - sagen wir im Sinne von Physik und Chemie, um bei den
Wissenschaften zu bleiben - ist nach wie vor die klassische zweiwertige
Logik gültig, auf die unser Gehirn programmiert ist.
Unsere Wirklichkeit als Ganzes jedoch ist nach
Günther nicht bloß ein Sammelsurium unendlich vieler "ontologischer
Orte", Orte des individuellen Seins. Diese sind jeweils isoliert
betrachtet durch eine zweiwertige Logik beschreibbar. Für die Gesamtheit
und das Zusammenspiel dieser "Orte" untereinander kann
Wirklichkeit jedoch nur durch ein mehrwertiges System abgebildet werden.
"So weit, so gut", mag der Passant auf der
Straße einwerfen, ich weiß auch, dass meine Frau anders "tickt"
als ich, aber wofür brauche ich dann eine mehrwertige Logik, ein
erweitertes formales System?"
Die Antwort hierauf wird unmittelbar klar, wenn nun
berücksichtigt wird, dass einerseits Medien im spezielleren Sinn ebenso wie
andererseits ganz allgemein alles Technische, generell betrachtet Dinge
sind, mit deren Hilfe die Menschen sich vermitteln. Geht man weiterhin von
dem einen Subjekt und seiner Objektwelt aus, dann sind Medien und Technik
bloße Werkzeuge, mit denen das Subjekt sich die Welt und sich der Welt
vermittelt. Nimmt man jedoch ein "Netzwerk vieler ontologischer
Orte" an, dann bekommen Medien und Technik einen völlig veränderten
Stellenwert! Sie bilden nunmehr ein Netz, das mit Inhalten und Leben
gefüllt werden kann, und über das Menschen sich austauschen können!
Man kann daher ohne weiteres sagen, dass sowohl Kommunikationstheorien als
auch Medientheorien der Zukunft, die diese Namen verdienen, Gotthard
Günther's Theorie der Mehrwertigkeit, seine "Polykontexturale
Logik" unbedingt zu berücksichtigen haben.
Günther ist auch nicht zuletzt durch seine Haltung
der Technik gegenüber einer der wenigen wirklich nennenswerten
Technikphilosophen, für ihn ist Technik - stark verkürzt ausgedrückt -
Selbstausdruck und Selbstverwirklichung des Menschen. Und obwohl auf manche
der technisch-formale Charakter seiner Gedankengebäude abschreckend wirken
mag, kann darüber hinaus seine Theorie der Stellenwerte als eine erste
echte Philosophie der Toleranz verstanden werden.
Günther selbst hat sein Lebenswerk als "unzureichend", als ein
der Fortsetzung bedürftiges Stückwerk begriffen. Die Tür in ein Neuland
des Denkens ist jedoch aufgestoßen .......
Gotthard Günther verstarb am 29. November 1984 in Hamburg.
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